Smells like Teenspirit

von Charles Linsmayer

Zürich, 28. April 2009. "Du' s'isch geil gsi! – Ich han de Afang nöd checked!" Zwei Zürcher Schülerinnen diskutieren am Ausgang des Neumarkt-Theaters lebhaft, was sie gesehen haben. Gut die Hälfte der Premierenplätze war mit Vierzehn- bis Siebzehnjährigen besetzt, die die Aufführung teils mit Johlen und Kreischen, teils aber auch mit sichtlichem Befremden verfolgt haben. Denn für sie ist sie schliesslich gedacht, die Trans-Helvetia-Produktion "Die Leiden des jungen Werthers", die Anna-Sophie Mahler als Gemeinschaftswerk des Zürcher Theaters Neumarkt und des Théâtre Vidy, Lausanne, inszeniert hat und die in den nächsten Monaten in Theatern und Schulen der deutschen und französischen Schweiz auf Tournee gehen wird.

Sie wollten "die einzig richtige Rebellion" vorführen, "die jetzt stattfindet und die kein Mensch mehr aufhalten" könne, erklärt einer der drei jungen Männer, die sich mit den zwei jungen Damen zu Anfang vor dem Publikum aufgereiht haben, alle in weissen langen Perücken und Kleidern zwischen Party-Look und Biedermeier-Assoziation.

Ein Popstar der frühen Stunde

"Untrennbar von der heutigen Situation", habe es Werther gegeben, will der zunehmend nervöse und gehemmte junge Entertainer dem Publikum einreden, verfällt dann aber, als niemand auf seine Fragen eingeht, in eine ohnmächtige Wut und fläzt sich konsterniert auf das grosse blumige Sofa, das nebst einem Klavier, ein paar Hockern, einer das ganze Spielfeld nach hinten abschliessenden Videowand, zwei Zimmerlinden und Omas schönstem Perserteppich das auffälligste Requisit des grossflächigen Bühnenarrangements bildet.

Es wird viel gewütet, geschrien und geschluchzt, auch hochtönend und mit ironischem Unterton rezitiert und sogar – aus Massenets Oper "Werther" – Koloratur gesungen in dieser Aufführung, und es lässt sich schon bald einmal absehen, dass die ekzessive popkulturelle Subjektivität, in der man eine aktuelle Parallele zur Gefühlstrunkenheit der Werther-Welt gefunden zu haben glaubt – "Werther, ein Teenage-Star der frühen Stunde, weist voraus auf all die Frühverstorbenen, die wir heute als Helden des Rock'n'Roll feiern", liest man im Programmheft – , vor allem als befreiend humorige, zwischen Satire, Blödelei und Bürgerschreckgehabe oszillierende frisch-fröhlich-jugendliche Befindlichkeit gefeiert werden soll, der gegenüber Goethes Text, sofern er nicht in exzessiven Gefühlsausbrüchen aufgeplustert werden kann, einen schweren Stand hat.

Klopstock oder Spazierstock?

Irgendwie wird die Geschichte aber doch durchgespielt, unter ausgiebiger Verwendung der Videokameras, die die Gesichter der Beteiligten immer wieder auf die kleinen Fernsehkästen, gelegentlich aber auch riesig vergrössert auf die Videowand im Hintergrund werfen, und unter noch ausgiebigerem Einsatz von Körpersprache sprich Rammelei und Herumpurzeln zu zweit und zu viert, bis dann auf das Stichwort "Du Engel, wegen Dir lohnt es sich zu leben" auf dem Kanapee eine schamhaft-burschikose Liebesszene zu viert inszeniert wird, die durch die Ankunft von Albert, Lottes Verlobtem, vorzeitig ihr Ende findet.

"Du bist ja schwul", hat kurz zuvor noch eine der Damen gerufen, und das jugendliche Publikum wird nicht nur durch solche, sagen wir mal, Anachronismen zum Lachen animiert, sondern auch dadurch, dass durchaus Werther-konforme Details wie von selbst zu Lachnummern verkommen. So wird das hymnisch-mythische Verhältnis Werthers zur Natur in immer neuen Anläufen mittels eines in allen möglichen Posen herumgetragenen Gummibaums parodiert, während jene Szene, als Lotte, um die Gemeinsamkeit ihrer empfindsamen Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, Werther das Wort "Klopstock" zuflüstert, bei einem Publikum, für das damit höchstens eine kuriose Art von Spazierstock oder allenfalls ein Gebirgsmassiv gemeint sein kann, unschuldig ausgelassene Heiterkeit auslöst.

Kein Wunder denn, wenn auch das Thema Selbstmord dem Ganzen nicht ein melancholisches Ende bereitet, sondern als witzige Parodie gleichsam irgendwo untergewurstelt wird. Dann nämlich, als eine der beiden jungen Frauen sich mit dem Mikrophonkabel stranguliert und von einem der drei Werther über die Technik des Erhängens aufgeklärt wird – auf Schweizer Dialekt und so, dass der junge Mann mitten in den Videoaufnahmen, die er mit der Strangulierten durchführen will, davonläuft, weil er die andere Lotte mit einem anderen schäkern sieht.

Zwischen Bildungsmonument und Partytrash

Sofern man die Klassiker-Verballhornung nicht mit Bierernst, sondern mit Augenzwinkern von der kabarettistischen Seite her zu betrachten vermag, ist der Aufführung durchaus auch etwas abzugewinnen. Die Leichtigkeit und Unbefangenheit etwa, mit der die Protagonisten den Eindruck des Spontanen und Improvisierten durchzuhalten vermögen – so dass man ohne weiteres davon ausgehen kann, dass die Sache bei jeder Aufführung wieder anders verlaufen könnte. Und die Improvisationsfreude und das spielerische Flair der Regisseurin, die einen klassischen Stoff ungerührt in heutigen Partyszenentrash überführt, um dann zuletzt doch noch den Schulklassiker und das Bildungsmonument in Rechnung zu stellen.

Das Ganze wandelt sich nämlich am Schluss, nachdem die Selbstmordszene durch eine Prämierung ersetzt worden ist, in der Lotte, Werther und Albert Platz eins, zwei und drei auf dem Podium ergattern, in eine französischsprachige Schulstunde mit einer gestrengen Lehrerin und fleissigen Schülern, die das Beste aus den ihnen gestellten Fragen machen. "Reclam" sagt der eine auf die Frage nach dem Genre von "Werther", "Western" ein anderer, und die Lehrerin ist sichtlich zufrieden, als endlich einer sagt: "Roman de lettre", "Briefroman".

Die Leiden des jungen Werthers
von Johann Wolfgang Goethe
Regie: Anna-Sophie Mahler, Bühne: Sophie Krayer, Kostüme: Mirjam Egli, Musik: Jonas Kocher, Dramaturgie: Patrick Wymann. Mit: Anna Eger, Sylvia Heckendorn, Jonas Kocher, Jonas Rüegg, Martin Schick.

www.theaterneumarkt.ch
www.vidy.ch

 

Mehr lesen? Die Regisseurin Anna-Sophie Mahler, 1979 in Kassel geboren und Absolventin der Berliner Ernst-Busch-Schule, erreichte mit ihrer Lausanner Inszenierung "Die Glasmenagerie" beim nachtkritik-Theatertreffen 2009 einen überraschenden 5. Platz.

 

Kritikenrundschau

Einen "Begeisterungssturm" bei dem klassenweise angereisten jungen Publikum erlebte Christine Weder (Neue Zürcher Zeitung, 30.4.) und wundert sich fast ein wenig. Denn "erstaunlich altmodisch ist das geblümte Sofa, klassisch sind die begleitenden Töne von Operngesang aus Jules Massenets 'Werther'. Grau sind die Perücken, unter denen die fünf Darsteller und Darstellerinnen stürmen und drängen." Die von Anna-Sophie Mahler theatralisierte Version des tödlichen Herzschmerzes schinde nicht mit billigen Anbiederungsmitteln Eindruck, und doch wendet Weder ein: "Seid gewarnt, ihr Schüler (...), wer das gelbe Reclam-Büchlein nicht gelesen hat, wird kein Vergnügen finden." Für die Leser "aber ist alles sehr lustig". Zum Beispiel Werthers Naturbegeisterung "in der Anbetung einer Topfpflanze" oder sein Liebeskummer. Allerdings spotte er mit zusammengebissenen Zähnen, und dass es ihm zuletzt bekanntlich todernst ist, kann die Konzentration aufs Komödiantische nicht recht begreiflich machen. Fazit: "Es besteht keine Ansteckungsgefahr bei diesem Werther-Fieber, denn lachend erfahren wir, was wir schon immer wissen wollten: Nur überspannte Spinner leben, lieben und sterben so ernsthaft."

 

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