Ich ist ein Zettelkasten

von Michael Laages

Wien, 29. April 2009. Das Festivalpublikum könnte sich wundern. Weniger über das kleine Kunst-Stück selber, das ihnen da als eine der "bemerkenswerten Produktionen" aus der deutschsprachigen Theaterszene der zurückliegenden Spielzeit angedient wird. Obwohl es an sich auch schon recht verwunderlich ist – vielmehr aber (und viel mehr!) könnte die Kundschaft staunen darüber, dass eine solche durchaus liebenswerte, aber letztlich doch eher marginale Petitesse es schaffen konnte in die Auswahl der Jurorinnen und Juroren für das "Theatertreffen" in Berlin. Üblicherweise wäre "Alle Toten fliegen hoch", die autobiographische Vortrags- und Lese-Serie des Burgtheater-Schauspielers Joachim Meyerhoff, früher als "Late Night special" oder so ins Spiegelzelt selig eingeladen worden. Und da wäre sie auch prächtig aufgehoben gewesen. Aber heute ...

Was Meyerhoff tut? Er erklärt (wie schon früher in Produktionen des Maxim-Gorki-Theaters zur Zeit des Intendanten Volker Hesse) das eigene Leben, und zwar dezidiert auch und gerade das höchst private, zur öffentlichen Angelegenheit. Und mit bemerkenswertem erzählerischen Talent, auch mit beträchtlicher Neigung zur Skurrilität wie zu forciertem Kitsch (bei ernsteren Dingen), schreibt er auf, wie das so war zum Beispiel anno 1997. Da war der Jung-Schauspieler Joachim M. gerade am Stadttheater Bielefeld ins Engagement gegangen, und im Laufe einer Premierenfeier lernt er Hanna kennen.

Liebesleben und historische Felder
Hanna ist sonderbar, keine Schönheit eigentlich, aber hochbegabt und überintensiv – mit ihr entsteht eine kämpferische Affäre, und sinnigerweise beginnt sie nachts auf einer Wiese oberhalb der Stadt, die (so sagt Hanna) eines der Hauptschlachtfelder bei den Kämpfen im und am Teutoburger Wald gewesen sei. Das schafft Stimmung – auch wenn Freundin Hanna (oder Herr Meyerhoff in der Erinnerung) sicher nicht ganz standfest in historischen Fragen gewesen sein mag, mutmaßt sie doch Unmengen von "Gewehrkugeln" im Untergrund dieser historischen Wiese. Gewehrkugeln anno Null-neun in der Schlacht zwischen Varus und Hermann? Naja. Egal.

Das sagt ja auch später Franka nach jeder Nummer, die nachtschwärmerische Zweit-Geliebte in Dortmund, wohin Herr Meyerhoff nach nur einem Bielefelder Jahr hinüber wechselt. Franka, diesen beinahe wesenlosen, wenn auch überaus körperlichen Disko- und Party-Engel, lernt er kennen, als er bei einer Kultur-Veranstaltung im örtlichen Harenberg-Verlag ausgerechnet Paul Celans "Todesfuge" in Stücke zerlacht – weil er sich statt "Milch der Frühe" im auswendig gelernten Text nur an "Milch der Kühe" erinnern kann. Aus gemeinsam peinlichem Lachen entsteht mit Franka eine Affäre von beträchtlicher Heftigkeit, zeitlich allerdings ordentlich aufgeteilt neben der Beziehung zu Hanna in Bielefeld.

Gedenken an ein Ungeborenes
Und dann ist da noch Inge, die füllige Chefin in einer zunächst noch ziemlich herunter gekommenen Bäckerei, ein Typ Mensch, wie es ihn wirklich nur im Ruhrgebiet gibt, unmöglich, aber wunderbar und unvergleichlich – später tanzt Herr M. mit Inge nachts in der Bäckerei, und noch später erblüht sogar ein "Gastgarten" auf im Hinterhof: eine Idylle in der Provinz.

Franka verlässt derweil den Multi-Lover, weil der ein Kind mit Hanna bekommt – beziehungsweise bekäme, denn Hanna will es nicht und treibt ab. Daher der Titel des fünften Teils von Meyerhoffs Bio-Lecture "Heute wärst Du zwölf". Ein sechster Teil soll noch folgen, dann vermutlich mit Affären aus Köln, Berlin und Hamburg, den Theater-Städten, die für Meyerhoff auf Bielefeld und Dortmund folgen. Dann ist die "education erotique" abgeschlossen.

All das ist stets schön und stimmungsvoll erzählt, gerade auch, weil Bielefeld und Dortmund so sind, wie sind, und aus beider Provinzialität für Weltbürger des Theaters vom anspruchsvollen Schlage der Meyerhoffs eine Menge erzählerischer Honig zu saugen ist. Überdies ist Meyerhoff auch ein wirklich guter Erzähler – nur an der zentralen Frage bei derlei modischen Privatheiten führt auch bei ihm kein Weg vorbei: WEN GEHT DENN DAS WAS AN? Und wenn ja: warum ... gerade wenn (wovon auszugehen, was aber nicht zu überprüfen ist) möglichst wenig frei erfunden sein sollte in den Lebensbildern von Herrn M., von Hanna in Bielefeld sowie Franka und Inge Klaeschen in Dortmund.

Entäußerung an der Grenze
Jedenfalls nimmt im Laufe von eineinhalb Lesestunden die Sympathie beharrlich ab, die Meyerhoffs Auftritt zunächst hervorruft – inmitten einer Vitrinen-Sammlung wie in der historischen Asservatenkammer, mit Teddys, alten Schuhen und unzähligen Plastik-Babys hinter Glas. Die radikale Entäußerung (nicht umsonst spielt Meyerhoff gerade in Christoph Schlingensiefs Wiener "Mea Culpa"-Messe das "alter ego" des Regisseurs) stößt rasch an ihre Grenzen – jedenfalls für den, der jedem Menschen, auch Hanna und Franka und Inge, und auch Herrn Meyerhoff, einen Rest Privatheit zugesteht. Aber wer denkt schon noch so in Zeiten der Internet-Blogs ... Dialog vor der Vorstellung im Burg-Vestibül: "Voll nett" sei das alles, und "wenn man schon Fan ist, macht's noch mehr Spaß". Kann sein.



Alle Toten fliegen hoch
Teil 5: Heute wärst Du zwölf
von und mit Joachim Meyerhoff

www.burgtheater.at

Mehr über Joachim Meyerhoff? Teil drei von Alle Toten fliegen hoch entstand im April 2008 am Wiener Burgtheater.

Kritikenrundschau

Auf der Webseite des Deutschlandfunk (30.4.) berichtet Marion Ammicht aus Wien von Joachim Meyerhoffs "Fahrt in die Vergangenheit". Fast den ganzen Abend sitze der Mann, "der als Hamlet oder Mephisto überschäumen zu pflegt vor Spiellust", nur im Sessel. Lesend treibe er "die imaginierten Szenen in die Ekstase". "Witzig, brillant" führten ihn die Geschichten an "die Stellen, an denen er sich selbst einst verloren und, so scheint es, schreibend wieder gefunden" habe, schreibt Frau Ammicht. Die anrührendste Liebesgeschichte an diesem Abend sei die, "die den jungen Meyerhoff in Dortmund immer wieder in 'Cläschens Backstube' führt". Eine "virtuose Initiationsgeschichte" sei das, was Meyerhoff da über sich erzähle, "oder zumindest über den, als den er sich selbst darstellt an diesem Abend". "Ist das Theater? Das Beste, das man sich wünschen kann. Theater im Kopf".

ih vom Standard (2.5.) könnte "den kuriosen Meyerhoff'schen Erlebnissen auf ewig lauschen" und klingt deshalb betrübt darüber, dass der Schauspieler ankündigt, nach einem sechsten Teil "seine Familienalben zu schließen". Dies war aber erst einmal der fünfte Teil der Reihe, jener Abende im Burgtheater-Vestibül, "die sich vom Geheimtipp zum exklusiven Publikumshit entwickelt haben". Dabei sitze Meyerhoff stets in einem grünen Samtfauteuil, begrüße "sein Publikum wie die Gäste einer Privatparty" und lese dann "mit liebenswürdiger Erzählerstimme, gelegentlich an einem Glas Sekt nippend, Blatt für Blatt den neuen Stapel seiner unaufgeregten, pointiert erzählten und damit berührenden autobiografischen Prosa vor".

Auch Petra Rathmanner bedauert den baldigen Abschluss der Serie in der Wiener Zeitung (2.5.). Wenn Meyerhoff von den Verfehlungen seiner Jungschauspieler-Jahre erzähle, scheue er "keine Peinlichkeit", was ihm das Publikum "mit Applaus und minutenlangem Gelächter" dankt. "Meyerhoff zaubert als Autor und Vortragender das existenzielle Taumeln meisterhaft auf die Bühne."

In der Wiener Zeitung Die Presse (5.5.) schreibt norb:  Bei Meyerhoff handele es sich um einen "Vollprofi der Vortragskunst". Er wirke, obwohl "noch immer jung", "früh abgeklärt" und "naiv altklug" zugleich. Sein Soloprogramm pflege "Regression, im Blick zurück auf Lehrjahre des Herzens, voll Sentiment und Eitelkeit". Das Leben als Schauspieler werde zur Nebensache, es gehe um die "herzigen Beziehungskisten". "In Bielefeld hat er die hochbegabte Neurotikerin Hanna, … in Dortmund zugleich die lebhafte Disco-Queen Franka, … die interessanteste Paarung wird jedoch die mit der drallen Bäckerin Inge – einer reifen Frau aus dem Charakterfach, sie ist ein Ruhrpott-Original". Ganz zärtlich zeichne Meyerhoff diese "seltsame Beziehung". "Frau Inge liebt diesen sportlichen Liebeslehrling. Und das Publikum in Wien liebt diesen amüsanten Erzähler, der aus reiner Intimität Dramolette schafft".

 

 

 

Kommentare  
Alle Toten fliegen hoch: als es noch frei erfunden wirkte
Ja, das stimmt: Ich muss zugeben, dass ich den Gorki-Abend "Wann wird es endlich wieder so, wie es noch nie war", der ja eine Kurzfassung der Meyerhoffschen Lebensgeschichte war, auf 10 Darsteller + Meyerhoff verteilt, auch am besten fand, als ich noch dachte, es ist alles frei erfunden.

Die Vorstellungen fanden übrigens vor praktisch leerem Haus statt und Meyerhoff pflegte den Applaus zu unterbrechen, um die Zuschauer zu bitten, doch ein paar weitere Zuschauer zu werben "für dieses ungewöhnliche Projekt". Jetzt isser beim Theatertreffen: Auch ein Stoff für weitere Abende.
Meyerhoffs Alle Toten fliegen hoch V: Starke Meinung
schwachsinn. macht man sowas in der schauspielschule nicht als übung ?
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