Filmrisse einer Stadt

von Elena Philipp

Berlin, 30. April 2009. Ernst-Reuter-Platz, Berlin, in einer lauen Frühlingsnacht auf der Verkehrsinsel. Eine Fünfergruppe feiert das lässige Großstadtleben: Grillen, Planschen, Quatschen, mehrspurig umkreist von Pkws. Gefilmt ist das Ganze in Bildern, die jeder Berliner Bierreklame Ehre machen würden. Ein Idyll, doch für das Produktionskollektiv copy & waste, das im Studio des Gorki-Theaters Jörg Albrechts neues Stück "Berlin Ernstreuterplatz" umsetzt, stellt es die Utopie einer Theatergruppe dar, geeint in post-ideologischer, herrschaftsfreier Schaffens- und Lebensfreude.

 

Zur Erreichung dieses Zustands gilt es die auf ihre eigene Weise gescheiterten deutschen Gesellschaftsutopien des 20. Jahrhunderts zu verarbeiten: den Faschismus und die 68er. "Berlin Ernstreuterplatz" soll das Remake zu Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie "Berlin Alexanderplatz" nach dem gleichnamigen Roman Alfred Döblins werden. Zur besten Sendezeit, um 20.15 Uhr, zeigen copy & waste das theatrale Making-Of zum fiktiven Spielfilm.

Gewagtes Spiel mit totalitärer Kunst
Es ist neben Geschichtsforschung und der oben beschriebenen, im Text manifestartig formulierten Utopie der ab 1980 geborenen Kollektivmitglieder auch eine Auseinandersetzung mit Fassbinders Produktionsmethoden: Gibt es Zusammenhänge zwischen der totalitären Kunst der Nationalsozialisten (die über den Schauplatz ins Spiel kommen) und der totalen Inszenierung, die Fassbinders Arbeitsleben war – einschließlich Bi-Sex, Gewalt und Drogen, die RWF mit nur 37 Jahren das Leben kosteten?

Eine verstörende "Continuity" zwischen Faschismus und Fassbinder unterstellt das Stück: "Fassbinder als Leni Riefenstahl dieses antifaschistischen Regimes" erscheint als Tyrann im Reiche 'Neuer Deutscher Film', der für seine Mitarbeiter ein ähnlich repressives System schuf wie das BRD-System, gegen das er antobte. Auftritt Riefenstahl & Speer, in unschuldigem Weiß, mit Hakenkreuz-Armbinde. Die beiden tanzen einen zackig-gewaltvollen Tango, während sie über die Welthauptstadt Germania schwadronieren, von deren Planung auch der auf der Ost-West-Achse gelegene, bis zur Umbenennung 1953 "Knie" genannte Ernst-Reuter-Platz betroffen war.

Wie wird man erkennbar?
Die Architekten, die den zerbombten Platz autogerecht ausbauen wollen, paffen als grau beanzugte Herren Zigaretten und räsonieren, dass der Städtebau auch nach dem Zweiten Weltkrieg – notfalls – "diktatorische Maßnahmen" erfordere. Noch eine Kontinuität. Ein gehöriger Schuss Klamauk ist der Inszenierung beigemischt. Sebastian Rüdiger Thiers in Lederjacke und Stiefeln, mit Hut und Fliegerbrille wütet und rumpelstilzt als RWF, die (Ex-)Ehefrauen prügeln sich im Rausch der Eifersucht. Jakob Walser beherrscht das berlinische ebenso wie das bayerische Idiom, spielt den stotternd-brutalen Reinhold – Franz Biberkopfs Verbrecher-Freund im Döblin-Roman – und die tuntige Fassbinder-Freundin gleichermaßen versiert. Elena García Gerlach ist Mieze und Hanna Schygulla und Elena und ...

Die ständigen Rollenwechsel, die dichte Montage von Informationen, Zitaten und zeitgeschichtlichen Quellen lassen den Darstellerinnen und Darstellern kaum Raum für die Figurengestaltung; sie drohen im Sprachstrom unterzugehen. Albrecht pflegt zudem die Technik des Szenenabbruchs, die dramatische Bögen gar nicht erst entstehen lässt. Janna Horstmann etwa versucht, ihrer Figur Juliane Lorenz – Fassbinders Cutterin und inoffiziell angetraute zweite Frau – ein wenig Leben einzuhauchen: "Ich wenigstens sehne mich danach, erkennbar mehr zu sein als nur Cutterin. Versteht ihr? Mehr!" Gänsehaut. Abrupter Szenenwechsel, und der eine Theatermoment des Wollens, Fühlens, Sehnens ist vorüber.

Antithese zum gleichmäßig rollenden Filmband
(Ab)Brüche sind für Albrecht beinahe schon eine Glaubensfrage: "Endlich aufhören, die Welt als gleichmäßig abrollendes Filmband zu begreifen, eher als ungleichmäßig und mit vielen Schäden und dunklen Phasen dahinstotternder Streifen." Eine schöne Metapher, aber kein dramatisches Sprechen. Regisseur Steffen Klewar wirkt angesichts des Textmassivs denn auch etwas hilflos. Er lässt die Bühne mit Tischen, Kästen und Stühlen verrumpeln, die Darsteller sich ständig umkleiden und ihr Spiel be- und entschleunigen. Matthias Grübel kittet Szenenübergänge mit Musik – doch der Abend bleibt ohne Spannung.

Vor zwei Jahren waren Albrecht & Co. mit "Wir Kinder vom Hauptbahnhof (Lehrter Bahnhof)" schon einmal im Gorki-Studio zu Gast. Man kann nur loben, dass das Gorki die Förderung junger Theaterleute ernst nimmt und ihnen die Möglichkeit gibt, kontinuierlich zu arbeiten. Doch vielleicht hätte ein wenig mehr Unterstützung aus der Dramaturgie nicht geschadet? "Entscheidend ist nie, was herauskommt, nur was man reinsteckt", steht im Text. Eine derartige Arbeitsweise, so man sie unterstellen möchte, mag für den Gruppenzusammenhalt förderlich sein – für die Zuschauer ist sie wenig erbaulich.

 

Berlin Ernstreuterplatz (UA)
von Jörg Albrecht
Regie: Steffen Klewar, Bühne: Ben Baur, Kostüme: Friederike Donath, Musik: Matthias Grübel, Video: Annika Hellmuth, Dramaturgie: Tobias Schuster.
Mit: Elena García Gerlach, Janna Horstmann, Sebastian Straub, Sebastian Rüdiger Thiers, Jakob Walser.

www.gorki.de

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