Feuer und Wasser – die Welt

von Wolfgang Behrens

Berlin, 7. Mai 2009. Auf dem Podium ringen sie mit dem Begriff der Welthaltigkeit. Und um ihn fassbarer zu machen, höhlen sie ihn aus: Irgendwie sei doch im Theater immer Welt drin, solange lebendige Menschen daran beteiligt sind – so in etwa sagt es Moritz Rinke einmal während der Diskussion. Na ja, denkt man sich, so gesehen ist der Begriff Welthaltigkeit aber auch wertlos, denn dann fehlt ihm ja die Kraft zu jeglicher Unterscheidung. Und während die Eröffnungsdiskussion zum diesjährigen Stückemarkt des Berliner Theatertreffens auf ein harmonisches Ende zusteuert, kommt dem Berichterstatter eine These aus der Literaturwissenschaft in den Sinn.

In seiner "Kurzen Geschichte der deutschen Literatur" hat Heinz Schlaffer vor ein paar Jahren behauptet, dass die deutsche Literatur über Jahrhunderte hinweg von ihrer Weltlosigkeit geprägt gewesen sei. Verfasst von Pfarrerssöhnen, Schwärmern und Studenten, habe sie weniger Welt – Politik und Gesellschaft – in ihre Texte eingelassen, als sich vielmehr Welten ausgesponnen: in der eigenen Brust.

Zugespitzt gesagt, wäre dann selbst der "Faust" ein eher weltloses Stück, das Drama eines Gelehrten, den es zwar in die große und die kleine Welt führt, nicht aber in die Welt des sozialen, des politischen Konflikts.

Rückzug und Entfaltung per Schnitttechnik
Es ist wohl müßig, Schlaffers Weltlosigkeit noch in den deutschen Dramen des 21. Jahrhunderts zu suchen. Und wahrscheinlich ist es einfach ein Zufall, dass von den ersten beiden beim Stückemarkt vorgestellten Stücken ausgerechnet das deutsche dasjenige ist, das sich ins Private zurückzieht, das ausländische dagegen im Privaten ein ganzes Geschichtspanorama entfaltet. Ein (fast) weltloses und ein welthaltiges Stück also – was ja nichts über die Qualität besagt. Die ist glücklicherweise bei beiden Texten hoch, so dass man auf einen starken Stückemarkt-Jahrgang hoffen darf.

Zwischen den beiden Stücken lassen sich bemerkenswerte Übereinstimmungen ausmachen: Sowohl "Puhdistus – Fegefeuer" der Finnin Sofi Oksanen als auch "stehende gewässer" von Markus Bauer springen mittels raffinierter Schnitttechniken durch die Zeiten, beide bewahren jedoch die Einheit des Ortes – ein Haus auf dem Land bei Oksanen, ein Haus am See bei Bauer –, und beide zeigen Protagonisten, deren Lebensentwürfe gründlich missglücken.

In "Fegefeuer" geht das Leben daneben, weil die Weltläufte es so wollen – deswegen ist es eine Tragödie; in "stehende gewässer" sind es die Figuren selbst, die ihr Leben aus der Hand geben – deswegen ist es zwar noch keine Komödie, aber es hat immerhin eine Schlagseite dorthin.

Im Fegefeuer der Geschichte
Im Zentrum von Sofi Oksanens "Fegefeuer" steht die Estin Aliide Truu, die zu Beginn der sowjetischen Besatzungszeit in ihrem Haus den Widerstandskämpfer Hans verbirgt. Aliide liebt Hans, der aber ist zugleich der Mann ihrer Schwester Ingel und Vater ihrer Nichte Linda.

Aliide hat im Grunde eine sehr einfache Vision vom Leben: Sie sucht ein privates, gänzlich unpolitisches Glück. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so – grausame Verhöre, und schlimmer noch: die Scham der Erinnerung an diese grausamen Verhöre, bringen Aliide schließlich dazu, ihre Schwester und Nichte zu denunzieren und der Deportation preiszugeben. Vergeblich hofft sie, nach diesem Schritt bei ihrem Schwager Hans an Ingels Stelle treten zu können.

Die Ereignisse werden nach und nach in Rückblenden aufgerollt, wenn vierzig Jahre später die Zwangsprostituierte Zara, die sich als Enkelin der deportierten Ingel entpuppt, bei Aliide Zuflucht sucht.

Nach und nach zeichnet sich in Aliide das Bild einer Frau, die sich in ein komplexes Netz aus Selbstschutz und Selbstbetrug, Verrat und Opportunismus, sehnsüchtigem Verlangen und hartleibigem Pragmatismus einwebt.

In dem mitunter etwas schwerfälligen szenischen Lesungs-Arrangement Burkhard C. Kosminiskis, das die reißerischen, kolportagehaften Züge des Stücks bewusst auf Sparflamme köcheln ließ, vermochte Almut Zilcher den rissigen Panzer dieser Aliide-Figur eindrücklich anzudeuten – den Panzer einer Frau, die sich in einem Leben einrichtet, das ihr vorenthalten wurde.

Leben versinkt in stehenden Gewässern
In Markus Bauers "stehende gewässer" gibt es solche äußeren, dem Gang der Geschichte geschuldeten Zwänge nicht. Hier ist die Welt ganz klein: Die klassische Musterfamilie – Vater, Mutter, Tochter, Sohn – erbt ein Haus am See, die Eltern betreiben darin mehr schlecht als recht eine Pension. Was Bauers Figuren am meisten fürchten, ist, dass sie ihr Leben verpassen könnten – und verpassen darüber ihr Leben.

Die Mutter träumt von Reykjavik und Selbstverwirklichung, doch sie macht die Pensionsbetten und ist unglücklich. Der Vater träumt vom "großen abgang", doch in Wirklichkeit beschränkt sich sein Aktionsradius auf ein paar schäbige Seitensprünge. Die Tochter flüchtet sich in Drogen, bei denen sie "diese zehntel sekunden gespürt hat was leben heißt". Dieselben Drogen machen sie dann unfähig, für ein anderes Leben – das Leben ihres Kindes – Verantwortung zu übernehmen. Der Sohn schließlich kann sich von einer Jugendliebe nicht lösen und jagt blind einer Beziehungsschimäre hinterher. Alle vier aber schaffen es nicht, der lähmenden Sphäre des Hauses am See zu entrinnen.

Die große Stärke von Bauers Stück stellen seine Dialoge dar, die wunderbar die Waage halten zwischen einer leicht konfektionierten Melancholie und schnellem, trockenem, lakonischem Witz.

Die kleine Studio-Inszenierung, die Nuran David Calis mit seinen gut gelaunten Schauspielern aus der Vorlage zauberte, brachte diese Qualitäten temporeich zur Geltung. Und was die Welthaltigkeit betrifft: Calis ließ das Stück durchgängig im Grillparty-Ambiente spielen. Das traf es genau – wann wohl ist man privater, wann ist die große Welt mehr abwesend als beim Grillen?

 

Theatertreffen – Stückemarkt I und II

Puhdistus – Fegefeuer
von Sofi Oksanen, aus dem Finnischen von Angela Plöger
Szenische Einrichtung: Burkhard C. Kosminksi, Ausstattung: Manuela Pirozzi.
Mit: Almut Zilcher, Patrycia Ziolkowska, Wolfram Koch, Andreas Grothgar.

stehende gewässer
von Markus Bauer
Szenische Einrichtung: Nuran David Calis, Ausstattung: Karoline Bierner.
Mit: Bernd Stempel, Leslie Malton, Katharina Schmalenberg, Jirka Zett, Lavinia Wilson.

Expertentisch: Was die Welt im Innersten zusammenhält – Das Drama im Zeitalter der Virtualität

Mit: Barbara Gronau, Hans-Werner Kroesinger, Moritz Rinke, Kathrin Röggla.
Moderation: Marion Hirte.

www.berlinerfestspiele.de

 

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