Im freien Fall

von Anna Rheinsberg

Mai 2009. Am 8. März 2009, dem Internationalen Frauentag, lasen die in Kassel lebende Schriftstellerin Ingrid Mylo und ich in der Märchenwache in Schauenburg bei Kassel Texte von Autorinnen der Zwanziger Jahre, die von Aufbruch und gleichzeitiger Armut handeln. Wir hatten unserem Rezitationsabend das Motto ARME MÄDCHEN SINGEN gegeben (d.i. die Titelzeile eines Gedichts von Claire Goll aus dem Jahr 1918). Erfreulicherweise waren viele Menschen zu unserer Veranstaltung gekommen, die meisten aus Kassel. Ingrid Mylo und ich nutzten den Abend, um auf die heutige bedrohliche Situation von Künstlerinnen hinzuweisen.

In Zeiten, in denen alle Welt um Opel, also um den VERKAUF von Autos bangt, es in Deutschland anscheinend kein anderes Wollen, Streben und Begehren als KAUF MICH zu geben scheint, in diesen Zeiten ist es um ein Überleben und verdienen mit und um der schönen Kunst willen ganz schlecht bestellt.

Das Schreiben als Laune

In meinem Fall ist es das Schreiben, mit dem ich mich einige Jahre habe durchbringen können. Damals war ich sehr viel jünger, ich werde 53, war gesünder, hatte noch einen passabel verdienenden Ehemann an meiner Seite, der dazu gegeben hat, und ich hatte noch keinen Toten zu beklagen. Das Schreiben hat nie viel gegolten, ging als Laune durch und wurde mir als Zubrot anerkannt. Ich habe 23 Bücher veröffentlicht, nie einen Bestseller gelandet und mich auch nicht in diversen Talkshows nackischt gemacht.

Ich habe lange und richtig gerackert, für den Funk gearbeitet, mehrere Anthologien über Exil herausgegeben, habe vergessene jüdische Autorinnen, gekleidet im Stil der Zeit, öffentlich interpretiert, habe die von mir ausgegrabenen Texte gelesen und über die Frauen und ihr Leben gesprochen.
Ein Monolog von mir wurde 1994 in Berlin an einem kleinen, heute längst vergessenen Theater auf die Bühne gebracht; ich habe in einem Film der österreichischen Video- und Performancekünstlerin und Filmerin Linda Christanell gespielt. Ich habe für Mode- und Tageszeitungen geschrieben, früh für EMMA, auch für die taz und Bücher, auch einen Haufen Bücher rezensiert. Perdü.

Der Knick kam, nachdem ich meinen ersten Roman "Schau mich an" fertig hatte, es waren beinahe vier Jahre, die ich daran schrieb, und wie die böse Fee es wollte, verschwand just in dem Monat, als das Buch erschien, mein Ehemann nach 25 Jahren. Er ging in die Nacht und tauchte nicht mehr auf.

Tingeln auf Flohmärkten

Es folgte eine turbulente Zeit, es ging ganz schrecklich ums liebe Geld, das ich, nun nicht mehr wirklich jung, dazu seit frühester Jugend schwerbehindert, gerichtlich erstreiten musste. Gerichtliche Auseinandersetzungen kosten Nerven. Ich tingelte mit einem wiedergefundenen Jugendfreund auf Flohmärkten, verkaufte auf dem Weihnachtsmarkt Seifen und anderen Kram, fuhr auch im Bus nach Spanien. Daneben schrieb ich mein vorerst letztes, 2004 erschienenes Buch, "Basco". Ich hatte nie eine Versicherung, ich habe kein Handy, keinen Führerschein, das bedauere ich; hätte ich einen Führerschein, könnte ich mir kein Auto leisten.

"Basco" wurde ein Achtungserfolg, doch verkaufte sich nicht. Der Freund, der mich einige Jahre begleitete, erkrankte schwer an einem Gehirntumor und starb. Das hat mein Leben beinahe endgültig ruiniert, an Schreiben war vorerst nicht zu denken. Wieder ging kein Geld, das ich auch nicht bei Rossmann an der Kasse hätte verdienen können. Bei Rossmann sitzen junge Leute, die als Springer für ein paar Euro auch die Waren in die Regale packen und anderes tun müssen.

Für das Schreiben (und Veröffentlichen) gibt es heutzutage so gut wie kein Geld mehr. Ich erinnere mich an eine Talkshow des NDR Kirchenfunks, zu der ich eingeladen wurde, um über meinen verstorbenen Freund und mein Buch "Basco" zu sprechen. Ich fuhr mit Behindertenausweis von Marburg nach Hamburg umsonst; das bedeutet 8 Stunden Fahrt und vier Mal umsteigen. Von der Sekretärin des Pfarrers bekam ich 100 Euro zugesteckt. Offiziell gab es kein Honorar. Davon kann kein Mensch leben.

Kunst – ein absurdes, fantastisches Tun

Mittlerweile habe ich Hartz IV und drohe aus der Künstlersozialkasse nach 25 Jahren Mitgliedschaft rauszufliegen. Die KSK kennt keinen Schutz für Künstler, auch Schicksalsschläge gelten dort nichts. Es ist stur vorgegeben, dass ein Mitglied den von ihm angesetzten fiktiven Jahresbeitrag durch KÜNSTLERISCHE Arbeit erbringen muss. Das wird anhand der Steuererklärungen festgestellt. Selbstredend zahlt man den monatlichen Krankenkassen- und Altersvorsorge/Rentenbeitrag, nur ist es häufig unmöglich diesen durch, in meinem Falle Dichtung, zu erwirtschaften. Die KSK steckt in der Zwangslage. Die Kasse ist dem Bundesrechnungshof unterstellt, und der sieht jedes Mitglied als Belastung, denn das Geld ist alle.

Das sind kleine, nichtige Kümmernisse im großen Weltgeschehen, und noch haben wir Hartz IV, eine böse Angelegenheit, die Gasprom Schröder an seinen eigenen Leuten verbrochen hat. Hartz IV bedeutet immer Gängelung, Bedrohung (je nachdem, wer als "FallmanagerIN"  einem gerade gegenübersitzt), und der Antrag muss jedes halbes Jahr neu gestellt werden. Die Bezüge werden einem dann irgendwann gekürzt, wenn man sich weigert, aus der an sich noch recht preiswerten, aber für die Behörde und die Vorschriften zu großen Wohnung, in eine, ich glaube, 35 qm-Behausung, umzuziehen. Kunst in jeglichem Sinne spielt überhaupt keine Rolle mehr. Es scheint ein geradezu absurdes und phantastisches Tun.

Empfangsfrau im Swingerclub

In der Universitätsstadt Marburg, in der ich seit dem Ende meiner Kasseler Schulzeit lebe, ist noch ein klein wenig das Glück zu Hause, denn hier gibt es viele ungewollt arbeitslose Akademiker und viele liebenswerte Spinner, die sich alle irgendwie durchwurschteln. In Marburg gibt es laut Auskunft des Schwerbehindertenreferenten des Kreis-Job-Centers 600-800 arbeitssuchende schwerbehinderte Menschen. Wie auch andere Frauen in meinem Alter und in meiner Situation, alleinstehend, in recht dürftigen finanziellen Verhältnissen kümmernd, das bedeutet, man rechnet in Centstücken, bin ich unaufhörlich mit "Besitzstandswahrung" beschäftigt.

Ich weiss von chronischer Müdigkeit meiner künstlerisch tätigen Freundinnen; immerzu muss frau sich bei diversen Ämtern rechtfertigen, warum sie ausgerechnet einen so seltsamen brotlosen Beruf gewählt hat. In früheren Zeiten galten Künstlerinnen als leichtlebig, nicht besser als Huren. Für die Hurerei ist es für eine Frau in meinem Alter gottseidank zu spät; ich wollte einmal als Empfangsfrau in einem Swingerclub in der Nähe von Gießen anfangen. Ich hatte mich beworben, wurde nicht genommen, da viel zu alt.

Die Liste der in Armut verrückt gewordenen und (früh) gestorbenen Künstlerinnen ist endlos. Zuletzt sorgt kurz der "Fall" der irgendwo in polnischen Wäldern todkrank hausenden Dichterin Helga M. Novak für Aufsehen. Novak wurde, weil isländische Staatsbürgerin, die medizinische Versorgung in der Bundesrepublik verweigert. Ihre Ehe mit einem Isländer hatte es Helga M. Novak möglich gemacht, die DDR zu verlassen. Die DDR-Staatsbürgerschaft, durch die sie nach 1989 automatisch Bundesbürgerin geworden wäre, war ihr wegen regimekritischer Texte aberkannt worden.

Eine merkwürdige Zeitreise

In Österreich starb vor gut 10 Tagen die Schriftstellerin und Tandlerin Elfriede Gerstl. Sie brachte sich lebenslang mit Flohmarkthandel durch; auf einer Zugfahrt 1980 von Wien nach Frankfurt teilten Gerstl und ich das Abteil. Zum Abschied schenkte sie mir ein Paar alte Art-Deco Ohrringe.

Es gibt keine Achtung vor der schriftstellerischen, malerischen, bildhauerischen, tänzerischen oder darstellerischen Lebensleistung einer Frau in diesem Land, dem immerhin eine Bundeskanzlerin vorsteht. In der Bundesrepublik essen, fahren, schlafen, lieben, heiraten alle Menschen AUTOS. Eben will die italienische Mafia groß ins bundesdeutsche Autogeschäft einsteigen.

Es ist eine merkwürdige Zeitreise: Jene Zwanziger und frühen Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, über die ich so viel geforscht und geschrieben habe, scheinen im Sauseschritt zu mir zurückzukommen, und wir alle bewegen uns wie auf dem Holodeck des Raumschiffs Enterprise, oder war es auf dem Star Trek Schiff? In nicht allzu ferner Zukunft wird man alte Weiber mit einem Fußtritt in den Wald oder in den Fluss befördern, wo sie untertauchen dürfen. Alohà!

 

Anna Rheinsberg wurde 1956 in Berlin geboren. Sie veröffentlichte Gedichte ("Annakonda", "Nacrisse Noir") Erzählungen ("Alles Trutschen", "Schwarzkittelweg") Romane ("Schau mich an") und ein Theaterstück ("Shanghai – Erster Klasse"). Als Essayistin setze sie sich immer wieder mit Autorinnen der Zwanziger Jahre auseinander und gab u.a. 1988 im Luchterhand Verlag die Anthologie "Bubikopf" heraus. Zuletzt erschien 2004 im Nautilus Verlag ihr Roman "Basco".

 

Hier lesen Sie mehr über die soziale Lage von KünstlerInnen in Deutschland.

 

 

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