Für diesen Tag gestorben 

von Sarah Heppekausen

Köln, 17. Mai 2009. Erst blendet das Licht wie grelle Sonnenstrahlen, dann fegt ein heftiger Wind über die Bühne. Aber wenn die hintere Wand des geöffneten Betonquaders unerbittlich zufällt, ist erstmal Schluss mit derartigen Naturenergien. Karin Henkel hat eine Variante der euripideischen, ironischen "deus ex machina"-Schlüsse gleich an den Anfang ihrer Kölner Inszenierung der Iphigenie gesetzt. Hier wird die nächsten zwei Stunden kein Lüftchen mehr wehen, da kann der Chor der einheimischen Frauen noch so laut rufen "Blast Winde!"

Das war es dann aber auch schon mit dem göttlichen Einfluss. In der Folge konzentriert sich die Regisseurin ganz auf die menschlichen Abgründe, die sich in Euripides’ Tragödie auftun. Gespielt wird nach einer eigenen mit der Dramaturgin Rita Thiele erstellten Fassung, die wiederum auf einer Bearbeitung der "Iphigenie in Aulis" von Soeren Voima beruht. Wenn wundert’s, dass der göttliche Einfluss bei soviel Vermittlung sich nur noch sehr gering geltend macht.

Zerbrochener tragischer Sinnzusammenhang
Das kleine weiße Papierhaus, das erst noch vermeintlich vom Wind über die Bodenfläche getrieben wurde, bewegt sich durch laufende Menschenfüße. Die dazugehörigen Körper spuckt es aus wie lästige Insekten, die ab jetzt schutzlos der Welt überlassen werden. Es sind wunderbare Bilder, die sich Karin Henkel und Bühnenbildnerin Kathrin Frosch haben einfallen lassen. Und dieser erste starke Eindruck lässt auch nicht nach, wenn die gesellschaftspolitischen Probleme leibhaftig verhandelt werden.

Als erster stürzt Agamemnon stöhnend aus dem Haus. Im modernen Krieger-Outfit mit Stahlkappen-Stiefeln und Khaki-Jacke (Kostüme Klaus Bruns) pest Felix Goeser kampfbereit aber doch mit sich selbst hadernd an den dicken Wänden entlang. Der Seher Kalchas hat ihn aufgefordert, seine Tochter Iphigenie zu opfern, damit die Göttin Artemis für günstige Winde sorgt und die griechische Flotte endlich gegen Troja auslaufen kann. "Nur was mich am tiefsten trifft, kann mich festigen… Mein Recht zu fühlen, das gab ich ja auf."

Agamemnon sieht nicht nur aus wie ein Krieger, er spricht auch so. "Tun, Leiden, Lernen" wirft ihm der Chor mit den Worten aus der Orestie entgegen. Aber wirklich überzeugen können sie ihn nicht. Später, nach Iphigenies Opfertod, wird der rasende Vater "Durch Leiden lernen" spiegelverkehrt mit Kreide an die Wände schreiben. Der aischylossche Sinnzusammenhang von göttlichem Willen und menschlichem Handeln will hier eben nicht funktionieren.

Henkel geht es vielmehr um die Unsicherheiten und Widersprüche im menschlichen Dasein. Dazu gehört Menelaos’ sehr frühes Schuldeingeständnis, das Maik Solbach anbiedernd verlauten lässt. Oder Achills Einsatz für Iphigenie, der sich bloß darin begründet, dass der listigerweise als Bräutigam benannte sich hintergangen fühlt.

Achill kämpft bloß für seine Würde und sein eigenes Recht, nicht für das der Menschen allgemein. Diese Interpretation forciert schon die Textfassung von Soeren Voima (die bis auf eine eingängigere, aktualisierte Sprache und ein verkürztes Ende recht nah am Original bleibt), vor allem aber die weitere Bearbeitung von Regie und Dramaturgie.

Überrascht von dieser Welt
Sie lässt auch die bei Euripides eher versteckte Komik zu: Die herausragende Lina Beckmann bemüht sich als Chorfrau so lange vergebens um die korrekte Aussprache des Wortes "phrygisch", bis selbst Klytaimnestra schmunzeln muss. Vom Alter gibt sie krumm hinkend eine Karikatur, der man trotzdem jede Verzweiflung abnimmt.

Und Julia Wieningers Klytaimnestra tritt auf als toughe Ehefrau und Mutter im feministisch-lilafarbenen Kleid, die tatkräftig schon mal den faden Kriegsschauplatz mit Girlanden für die Hochzeit schmückt. Bis sie erfährt, dass Agamemnon ihre Tochter töten will: Herzzerreißend flehend wendet sie sich jetzt an ihren Gatten.

Iphigenie hüpft derweil im Brautkleid über die Bühne. Dafür musste sie sich aus dem schwarzen Chorgewand schälen, das alle die tragen, die gerade nicht anderweitig an der Szene beteiligt sind. Kindlich ist Angelika Richters Titelfigur und immer wieder überrascht von dieser Welt. "Ich habe nachgedacht" leitet sie ihre Überlegung ein, sich freiwillig zu opfern. Und sagt es, als hätte sie gerade eine Idee gehabt, die sie selbst am allermeisten erstaunt und begeistert.

Dabei wird Iphigenie an diesem Abend tatsächlich von Agamemnon getötet. Im Epilog, der nur entfernt an "Iphigenie bei den Taurern" erinnert, steht sie dann zwar widerwillig noch einmal auf. Allerdings nur, um endgültig die Worte zu erfüllen: "Für diesen Tag bin ich gestorben." Eine lebensmüde Iphigenie geht desillusioniert an der menschlichen Grausamkeit zugrunde. Orest und Pylades haben sich längst mit einer gefakten Iphigenie zufriedengegeben, die sie zur griechischen Nationalhymne Richtung Argos tragen. Noch einmal öffnet sich die hintere Wand. Aber die Götter spielen schon lange nicht mehr mit.

 

Iphigenie
von Euripides nach einer Bearbeitung von Soeren Voima
Regie: Karin Henkel, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Klaus Bruns, Dramaturgie: Rita Thiele.
Mit: Felix Goeser, Lina Beckmann, Maik Solbach, Clemens Schick, Julia Wieninger, Angelika Richter, Orlando Lenzen / Xaver Wegler

www.schauspielkoeln.de

 

Mehr zu Karin Henkel? Zuletzt besprach nachtkritik.de Henkels Inszenierung der Gefährlichen Liebschaften am Deutschen Theater zu Berlin und Der Fall der Götter in Düsseldorf, Henkels Version von Lucchino Viscontis La caduta degli dei.

 

Kritikenrundschau

Günther Hennecke schreibt in der Kölnischen Rundschau (18.5.2009): Weil Karin Henkels Inszenierung den Weg in die Helligkeit der Vernunft ebenso konsequent wie anrührend gehe, erlebten die Zuschauer einen "eindringlichen Theaterabend". Mit "klaren Bildern", "fein ziselierten Szenen, überzeugend gesetzten Pausen und zwischenmenschlichen Miniaturen, die sich ins Gedächtnis eingraben". Niemand werde "verunglimpft", selbst Agamemnon, der Mörder der eigenen Tochter, werde "in Schutz genommen". Die Übergänge der Schauspieler von Figur zu Figur, erschienen so selbstverständlich wie logisch und ließen "Gut und Böse austauschbar wirken". Außer Kraft gesetzt sei "die Verlagerung der Verantwortung auf die Götter". Karin Henkel zeige Menschen, "die um ihre Entscheidungen ringen". Doch in "dieser Welt gibt es, trotz aller Hoffnungsschimmer der Vernunft, noch keine Erlösung vom menschlichen Wahnsinn". Dass Iphigenie, anders als im Original, wirklich vom Vater getötet werde, freilich wie eine Märchenfigur wieder auftauche, um dann, zum Schluss, doch tot auf der Walstatt zurückzubleiben - das scheine ebenso "willkürlich wie es überrumpelt und mitreißt". Julia Wieninger als Klytaimnestra sei eine "wahre Tragödin". Wie sich die Iphigenie der Angelika Richter von der naiven Kindfrau zur bewussten Opfer-Ikone aufschwingt, sei "ebenso anrührend wie packend".

Im Kölner Stadt-Anzeiger schreibt Christian Bos (18.5.2009): Karin Henkel übe mit "Iphigenie" Kritik an "männlicher Mythenbildung". Angelika Richter spiele die Titelrolle "mit kindlicher Verzückung". Freilich nicht so naiv, dass sie "von der Logik der eigenen Argumentation völlig überzeugt wäre". Eher erscheine ihr der eigene Tod als letzter Weg, "sich aus dem Gezerre zu befreien", sie flüchte "aus den Fängen dessen, was behelfsmäßig "Schicksal" genannt wird". Felix Goeser spiele Agamemnon und Orest, "beide als Männer, deren Verzweiflung so unsympathisch wirkt, wie die eines in die Ecke getriebenen Amokläufers." In der angenehm klaren Bearbeitung des Autorenteams Soeren Voima hadere "der Chor nicht weniger mit dem Schicksal als die von ihm Gebeutelten". Man sei "froh, im dörflichen Abseits zu leben, weit weg von Heldentaten, Feldzügen und Blutfehden". Henkels Inszenierung forciere "berechtigte Zweifel an der Wunderrettung der Iphigenie", die man auch bei Euripides findet. "Henkels Kritik an männlicher Mythenpolitik ist zügig, spannend und deutlich." Doch blieben, "wo Basisdemokratie auf Antike trifft, die Figuren auf der Strecke". Weder Agamemnon, noch Menelaos, Achill oder Iphigenie könne man ernst nehmen. Nur Julia Wieninger als "lebensnahe Klytaimnestra", dürfe "berechnende Gesellschaftsdame und verzweifelte Mutter sein". Und Lina Beckmann, die - als Volkes Stimme – "ihre Boten- und Chorrollen zur Hauptattraktion des Abends erheben darf".

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