Heimweh im Etagenbett

von André Mumot

Göttingen, 20. Mai 2009. Eines wird von Anfang an klar gemacht: Der Zuschauer soll kein Zuschauer sein, sondern Insasse. An diesem Abend setzt man erst einmal voraus, dass sich nur das wirklich nachvollziehen und mitempfinden lässt, was man am eigenen Leib erfahren hat. Und weil es um die Geschichte eines deutschen "Grenzdurchgangslagers" geht, werden die Premierenbesucher schon zu Beginn namentlich erfasst, willkürlich in einzelne Gruppen eingeteilt und zum anwesenden Arzt geschickt.

Man bekommt die Lymphdrüsen betastet und den Rücken abgeklopft, man füllt Einbürgerungstests aus, deckt sich in der Kleiderkammer mit abgetragenen Sachen ein und lässt sich in einen der nach Geschlechtern getrennten Schlafsäle führen. Vorläufig jedoch fühlt sich das ganze eher nach Ferienlager an.

Vertriebene, DDR Flüchtlinge, Christen aus dem Irak
Diese Koproduktion des freien Theaters "werkgruppe 2" und des Deutschen Theaters widmet sich auf semi-dokumentarische Weise dem nahe bei Göttingen gelegenen Lager Friedland, in dem seit 1945 mehr als vier Millionen Menschen temporäre Unterkunft gefunden haben. Erst waren es die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs und die aus der Gefangenschaft kommenden Wehrmachtsoldaten, später die DDR-Flüchtlinge, boat people aus Vietnam, Kommunisten aus Chile, und heute sind es Christen aus dem Irak.

Um diesen Ort szenisch erfahrbar zu machen, ist die Produktion in ein weiträumiges Magazingebäude auf dem Gelände der historischen Saline Luisenhall gezogen, in dem das Publikum zwar freundlich begrüßt wird, aber auch sogleich die Mühlen der Bürokratie kennenlernt, sich auf unbequemen Plastikstühlen in Geduld übt und sich unangenehme Fragen von englischen Besatzungsoffizieren gefallen lassen muss. Zum Glück aber begnügt sich die "inszenierte Installation" nicht mit solchen Scheinauthentizitäten.

Als man eng beieinander in den Stockbetten hockt oder liegt und eine strenge Aufseherin das Licht löscht, tritt die Aufführung in ihre zweite, ihre entscheidende Phase: Jetzt schalten die sieben Schauspieler kleine Lampen an und beginnen mit leisen, vertraulichen Stimmen ihre Geschichten zu erzählen. Und ist man auch –  als Insasse unter Insassen – Teil der Kulisse, darf man nun doch wieder Zuschauer sein. Und schon kommt auch das gewünschte Mitempfinden wirklich in Gang.

Dramatische Flucht eines Rotarmistem
Regisseurin Julia Roesler und Dramaturgin Silke Merzhäuser haben ein Jahr lang recherchiert, haben Interviews geführt mit Zeitzeugen, mit Menschen, für die im Lager Friedland das Leben in Deutschland begann. Deren Berichte sind zu prototypischen und doch ganz individuellen Monologen verdichtet worden, die von der dramatischen Flucht vor Rotarmisten ebenso handeln wie von ruhelosen Russlanddeutschen oder einem Jungen, der erst 2004 aus dem Kaukasus nach Deutschland gekommen ist.

Es liegt in der Natur solch breit gefächerter Collagen, dass sie weltanschauliche, politische und historische Komplexitäten vereinfachen müssen. Und wohl weil sich das Ensemble der Gefahr der Geschichtsrelativierung sehr bewusst gewesen ist, schlägt es gegen Ende einen weiteren Haken und macht zur Sicherheit noch gut gelauntes, tatsächlich amüsantes Kabarett, in dem unmissverständlich Nationalismus vorgeführt und Vertriebenenromantik chauvinistischer Art aufs Korn genommen wird. Da verteilen die Akteure dann Plastikbecher mit Heimaterde aus dem Sudetenland, singen ostpreußische Lieder und hissen ein Banner mit der Aufschrift: "Neapel bleibt unser! Für ein Deutschland in den Grenzen von 1228."

Ort der Geschichte und des existenziellen Erzähltheaters
Die Regisseurin möchte eben sehr viel auf einmal: zum Beispiel eine Hommage an den Integrationswillen der noch jungen Bundesrepublik aufführen und ihrer demokratischen Selbstgefälligkeit gleichzeitig den kritischen Spiegel vorhalten, Einzelschicksale menschlich würdigen, Heimweh und Identitätssuche fühlbar machen und doch politische Hintergründe und kollektive Verantwortlichkeiten nicht unverarbeitet lassen. Vermutlich ist das zu viel gewollt, erstaunlicherweise wirkt es aber nicht so.

Man kann sich dafür zu allererst bei den furiosen Darstellerinnen und Darstellern bedanken, die in den drängenden Monologen und kleinen Szenen zwischen Warteraum und Etagenbett immerfort die Rollen, die Akzente, die Tonlagen wechseln und vor allem in den nächtlichen Schlafsaalszenen Momente ganz schlichter Wahrhaftigkeit gestalten – ungekünstelt, unsentimental und eindringlich. Wo die nationalen und politischen Trennlinien verwischen, auf abgewetzten Matratzen und zwischen schweigend zuhörenden Fremden, erschaffen die Hoffnungen und Traumata einzelner Lebensläufe ein bestechend existentielles Erzähltheater, das immer dann besonders gut funktioniert, wenn es bei sich ist und nicht bei der Publikumsbetreuung – wenn es ganz einfach ist.



Friedland
Eine inszenierte Lager-Installation nach einer Vorlage von Silke Merzhäuser und Julia Roesler
Inszenierung: Julia Roesler, Dramaturgie: Silke Merzhäuser, Bühne: Nicola Antonia Schmid, Kostüme: Julia Schiller, musikalische Leitung: Insa Rudolph.
Mit: Gaby Dey, Johanna Diekmeyer, Andreas Jeßing, Lorenz Liebold, Ulf Nolte, Franziska Roloff, Insa Rudolph.

www.dt-goettingen.de

Mehr zu dokumentarisch-theatralen Erkundungen deutscher Geschichte? In Statisten des Skandals erzählte Tobias Rausch im April 2009 in Kiel die Barschel-Affäre nach. Und in Staats-Sicherheiten, das unter Leitung von Clemens Bechtel im Oktober 2008 in Potsdam entstand, erzählen fünfzehn Menschen, wie sie in die Fänge der Stasi gerieten.

 

Kritikenrundschau

Grundsätzlich gut kommt die Inszenierung bei Christian Volmari vom Göttinger Tageblatt (22.Mai) an. Silke Merzhäuser und Julia Roesler hätten ein Jahr lang recherchiert und Gespräche mit Zeitzeugen geführt, die sie dann verdichtet und fiktionalisiert hätten. "Radikal subjektiv" sieht der Kritiker nun sich die Geschichten aneinander reihen: als multiperspektivische, keiner Chronologie und erst recht keiner 'Wahrheit' verpflichteten Collage. Die Zuschauer seien Statisten in der Lagerszenenerie. Auch die eher bedrückende Lagerathmosphäre des Abends schon an der Kasse beginnt, beeindruckt Volmari. Leise Kritik spürt man aber auch, an mitunter etwas zu demonstrativer Ironie zum Beispiel.

 

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