Parmaschinken – häh?

von Jürgen Reuß

Freiburg, 27. Mai 2009. In der Mitte der kleinen Kammerbühne ist eine Frau aufgebahrt. An den Rändern sitzen drei Männer auf Stühlen und bilden ein gleichschenkliges Dreieck um die mit Beerdigungsschleifchen und Kuscheltier geschmückte Bahre. Einer trägt Zylinder und Reitstiefel, einer kurze Hosen und Sockenhalter, einer Jogginghose, alle tragen Frack. "Die Kathedralen", sagt der Reitstiefelige (Albert Friedl), die anderen antworten "Häh?", die Aufgebahrte röchelt.

Die Wände rundum sind mit Illustriertenblättern tapeziert, an der Rückwand schimmert Flipchartpapier mit einer Umrisszeichnung durch: Europa. Man erkennt es nicht, aber man kann es wissen, wenn man auch die erste Inszenierung der Spielzeit auf dieser Bühne gesehen hat. Da wurde die Kammerbühne als Experimentallabor zum Motto "Festung Europa" mit einer Inszenierung namens "Die europäische Verfassung" eröffnet. Die jetzige Premiere heißt wie das Motto, ist ein Schauspiel des belgischen Autors Tom Lanoye und Abschluss der Versuchsreihe.

Wissenswertes über unseren Kontinent

"Der Duft", sagt inzwischen die Kurzhose (Jens Bohnsack), und "Häh?" sagen die anderen. Dann ist die Jogginghose (André Benndorff) dran. "Der neue Mensch", sagt er, "Häh?" die anderen. Die Frau (Melanie Lüninghöner) reißt ihre Bettdecke weg, springt auf und schreit die drei Herren an. Walzermusik erklingt. Die drei Herren und die Frau auf der rollbaren Bahre tanzen ein Dreivierteltaktballett. Dann spielen sie Scharade. Pantomimisch dargestellte Begriffe müssen erraten werden. Wendy, das Pferd, war einfach, Belgien zu schwer.

"Schopenhauer", sagt der Reitstiefel, "Nietzsche", die Kurzhose, die anderen stimmen zu oder winken ab. Ein Schlagwortgeplänkel rollt ab. Erkenntnis: "Der Araber ist ein Neger mit Schamgefühl." Die Frau wird in Kissen erstickt. Die Jogginghose hält einen Monolog: Man erfährt, dass der Kontinent kein Kontinent ist, sondern eine Kultur, Japaner im Labor zu Europäern werden, monotheistische Religionen in der Wüste entstanden, Europa keine Wüste hat und deshalb ein von drei Patriarchen erobertes Matriarchat ist.

Man hat keine Ahnung, aber man unterhält sich

Der unvorbereitete Zuschauer könnte langsam zu ahnen beginnen, worum es in der Inszenierung (Regie: Karoline Kunz) gehen soll. Ist die Frau vielleicht Europa und die Jogginghose ein Wissenschaftler? Der Reitstiefel outet sich kurz darauf mit der Erkenntnis "Geld ist gesünder als Zitronen" als Kapitalist. Der dritte ist so unmöglich zu erraten wie seine Scharade. Der vorbereitete Zuschauer weiß die Lösung für beides: Er ist Belgien.

Als vorbereiteter Zuschauer weiß man sogar noch mehr: Tom Lanoyes Stück handelt eigentlich von drei Figuren, die am Bahnhof auf ihre Abreise aus Europa warten. In diesem Zusammenhang wären die Dialoge womöglich selbsterklärend gewesen. In Kunz' Inszenierung hat man eigentlich keine Ahnung, worum es geht, aber man langweilt sich nicht. So spielt Melanie Lüninghöner ihre Rolle überzeugend und unterhaltsam, auch wenn keiner weiß, was sie bedeuten soll.

Die fette Lache Europas

Die drei Herren spielen ebenfalls gut. Man weiß irgendwann sogar, wen sie darstellen sollen. Die Dialoge sind gelegentlich witzig, bisweilen sogar richtig pfiffig. Ist das etwa die Lehre des Stücks über Europa? Als Ganzes macht es keinen Sinn, im Detail ist es recht passabel? Ein zerfasertes Gefasel, das nicht zueinander findet, aber irgendwie sympathisch rüber kommt? Ein Gebilde, das bei genauer Betrachtung nicht mehr zusammenhält als das Ergebnis einer asterixhaften Tour d'Europe – ein Sack mit Spezialitäten?

Die Darsteller intonieren zum Schluss jedenfalls nur noch "Parmaschinken", "echter Parmaschinken". Und dann folgt das wirklich Echte der Vorstellung: die fette Lache Europas, die so mitreißend klingt, dass Schauspielerin Lüninghöner sie von irgendwo jenseits ihrer Rolle hergeholt haben muss. Aber so ist es vielleicht: Wir sind Europa, aber Spaß ist woanders.

Festung Europa
von Tom Lanoye.
Regie: Karoline Kunz, Raumkonzept: Moritz Müller, Kostüme: Birgit Holzwarth.
Mit: Melanie Lüninghöner, André Benndorff, Jens Bohnsack, Albert Friedl.

www.theater.freiburg.de


Mehr nachtkritiken zu Inszenierungen der Freiburger Reihe Festung Europa: die Ensembleprojekte Die Europäische Verfassung und  Karadzic Guru, Björn Bickers Europa. Illegal, Sagt Lila von Chimo und Land ohne Worte von Dea Loher.

 

Kommentare  
Festung Europa: Danke
hat spass gemacht. danke für den schönen abend.
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