Hellsicht ist was anderes

von Stefan Bläske

Wien, 9. Juni 2009. Wenn Theater ein Spiegel der Gesellschaft sein sollte, sieht's derzeit ziemlich düster aus. In den Produktionen jedenfalls, die die Wiener Festwochen darreichen, geht es nachtschwarz zu. Dort werden wir kafkaesk überwacht (Der Prozess), in die Unterwelt entführt (Orfeus) oder im Fegefeuer malträtiert (Purgatorio), lauschen einem Abgesang auf den amerikanischen Süden (The Sound and The Fury) und auf unsere eigene Wohlstandgesellschaft (Riesenbutzbach). Hellsicht ist was anderes.

Nun hat auch Johan Simons schwarzgemalt – auf spärlich ausgestatteter und ausgeleuchteter Bühne, mit der Adaption eines Film Noir. Billy Wilders "Double Idemnity", basierend auf James M. Cains gleichnamiger Novelle, führt eine "Frau ohne Gewissen" (deutscher Filmtitel) und einen Versicherungsvertreter vor, die aus sexueller und finanzieller Gier zu Verbrechern werden. Während Wilder am Ende eine "Gerechtigkeit" obsiegen lässt – die Mörderin tot, der Mörder gefasst –, wirkt die Welt bei Simons böser. Täter kommen davon, Unschuldige müssen büßen, und der Versicherungskonzern profitiert.

Sehnsucht a capella

Gemessen am Inhalt und den beiden Vorlagen geriet die Inszenierung des niederländischen NTGent erstaunlich humorvoll und leichtfüßig. Die ohnehin rhythmische Spiel- und Sprechweise des Ensembles wird durch musikalische Einlagen pointiert, die Handlung unterbrochen von gemeinschaftlichem Gesang, Arrangements in Close Harmony. A capella singen und summen, brummen und trompeten die Darsteller ihre mehrstimmigen Sehnsuchtslieder, produzieren jazzige Klangoasen.

Barton Keyes (Wim Opbrouck) stimmt an zu "I love coffee, I love tea" – ob so die Wünsche eines Bürohengstes klingen? Er, der Aktenschnüffler und Spürhund mit dem untrüglichen Instinkt für Versicherungsbetrug, konnte oder wollte die Verfehlungen seines Kollegen Walter Ness (Pierre Bokma) nicht wahrnehmen, und rollt nun, fassungslos, auf seinem Schreibtischstuhl durch die in Rückblenden erzählte Geschichte.

Augenzwinkern in Distanz

Diese freilich ist reichlich unoriginell und gestrig. Spätestens seit den 1940ern bevölkert die Femme fatale, die einen braven Mann zum Verbrechen verführt und ihn danach betrügt, die Literatur- und Filmlandschaft, mit kleinen Abwandlungen des immergleichen Musters.

Das Genre und seine Stereotypen bieten nicht die Tiefe, mit der Simons in anderen Inszenierungen – etwa Hiob letztes Jahr bei den Wiener Festwochen – zu faszinieren vermochte, und so ist es konsequent, dass die Darsteller eher chargieren und deklamieren, in Distanz zu ihren Rollen, manchmal gar ins Schmierenkomödiantische verfallen: immer zugleich mit einem Augenzwinkern, mit Charme und einer Wärme, die die Figuren nicht verrät, sondern bis zur Kenntlichkeit entstellt.

Des Kaninchens Liebe zur Klapperschlange

Wie sich etwa Tochter Lola auf dem Sofa fläzt und windet, während ihre Stiefmutter und Versicherungsagent Ness den kautzigen Vater zum Abschluss einer Unfallpolice zu überreden versuchen, alleine diese Flegelei erzählt ein ganzes katastrophales Familienleben. Trotz einiger starker Momente aber gerät die fragile Balance zwischen Künstlichkeit und Menschlichkeit, die Simons Erzähltheater gemeinhin auszeichnet, in "Instinct" so manches Mal in Schieflage. Und das, obwohl die Adaption von Koen Tachelet und Jeroen Versteele die platten Figurenkonstellationen der Vorlage raffiniert unterfüttern, etwa mit einem Fokus auch auf Tochter Lola sowie auf dem Verhältnis der beiden Kollegen Keyes und Ness. In all dem Gefühlstrubel, den Begierden und Intrigen, der absurden Liebe des Kaninchens zur Klapperschlange, entpuppt sich ausgerechnet der Kollege, der über lange Zeit als größte Gefahr empfunden wurde, als der wirkliche Freund. Naja, vielleicht.

Seit dem Mord gibt es keine Sicherheit mehr, ist alles in Bewegung und ins Rollen geraten, sogar die Bühnenelemente – Krankenhausbett, Bürotische, Sofa, Wendeltreppe – tanzten durch den Raum. Sonst tanzen nur die Schatten. Dezent wird die Ikonographie des Film Noir aufgegriffen, das Hell-Dunkel, die Lichtstreifen von Jalousien, die immer ein bisschen an Gefängnis denken lassen.

"I'm just a prisoner of love", singt Lolas Geliebter Nino. Die Liebe ist nicht gewiss in diesem Theatre Noir. Das Gefängnis schon. So düster ist das alles. Aber das macht nichts, denn Nino singt, und er singt sehr schön.


Instinct
Koen Tachelet, Jeroen Versteele nach James M. Cains "Double Indemnity in Three of a Kind"
Inszenierung: Johan Simons, Dramaturgie: Paul Slangen, Musikalische Leitung: Wim Opbrouck / Steve Dugardin, Mitarbeit Regie: Marc Swaenen, Bühne: Johan Simons, Luc Goedertier, Freddy Schoonackers, Kostüme: Greta Goiris, Licht: Dennis Diels, Sound Design: Predrag Momcilovic.
Mit: Pierre Bokma, Elsie de Brauw, Daan Van Dijsseldonck, Steven Van Watermeulen, Katja Herbers, Servé Hermans, Wim Opbrouck, Kristof Van Boven.

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

Im österreichischen Kurier (online am 10.6., 17.05 Uhr) schreibt Peter Jarolin, dass Simons (bzw. die Dramatisierer Koen Tachelet und Jeroen Versteele, Anm. d.Red.) James M. Cains Geschichte nicht nur erzähle, sondern auch breche und überhöhe. Auch die "eingestreuten a-capella-Songs im Stil der 30er-Jahre" hätten ihre Wirkung: "Selten hat das Morden so viel Spaß gemacht." Trotzdem gelinge es Simons "ein sehr packendes Psychogramm humaner Befindlichkeiten zu erstellen". Der Mensch sei hier des Menschen Wolf: "Urinstinkte, Triebe – die einzige Motivation aller Protagonisten". Das Ensemble sei "fantastisch". Pierre Bokma als Walter Ness liefere "eine grandiose Täter- und Opferstudie ab". "Als Phyllis brilliert Elsie de Brauw mit gefährlich kühler Erotik und einer nonchalanten Bedrohlichkeit."

In der Wiener Zeitung (12.6.) schreibt Hilde Haider-Pregler, dass sich der Filmstoff "auch für eine eindrucksvolle Bühnenadaption" eigne, beweise Johan Simons mit seiner Produktion von "Instinct". Er bedürfe dabei "keiner multimedialen Hilfsmittel, um ohne Verleugnung der filmischen Struktur die spannende, analytisch gebaute Handlung in überzeugende Theaterbilder umzusetzen". Simons benötige beim "Wechsel der Szenen" nur einige Versatzstücke und "unspektakuläre Beleuchtungseffekte". Die Hauptlast liege auf den "exzellent agierenden Darstellern". Letztendlich werde die Kriminalstory zur "Tragödie von Menschen, die sich durch hemmungs- und verantwortungslose Besitzgier korrumpieren lassen".

Diesen Klassiker sieht man sich besser im Kino an, befindet Ulrich Weinzierl in der Tageszeitung Die Welt (12.6.): Weinzierl preist zunächst einmal den Billy Wilder-Film: "Kriminelle Energie als schöne Kunst - daran hatte man sich in Hollywood bis dahin kaum je ergötzen dürfen." Simons' "Double Indemnity"-Version nun besitze einen "großen Vorzug". Sie beschränke sich auf "genuin theatralische Sprache", bedürfe "gottlob keinerlei Video-Unterstützung". Auch würden die altbewährten Mittel "souverän eingesetzt". Das "virtuos körperbetonte Spiel", die "harten Schnitte" zwischen Fantasien und Rückblenden funktionierten "tadellos". Nur das Presto-Flämisch schränke den Genuss ein. Zum Trost "singen, summen und quaken sie sich des Öfteren eins". Bloß einen ziemlich störenden Mangel habe die Produktion: Sie vergröbere die Story "hin zum Parodistischen, zum Slapstick". "Über dem Ganzen kein Hauch von Psychologie: Das Abgründige wirkt komisch, die Komik nicht abgründig genug. Wenn man den Film kennt, ist man enttäuscht, kennt man ihn nicht, kennt man sich nicht aus." Fazit: Wilder und Chandler seien einfach "übermächtige Konkurrenz". 

Egbert Tholl schreibt in der Süddeutschen Zeitung (12.6.): Bestrafe Wilder noch den "eisig entworfenen Mord" und avisierten Versicherungsbetrug mit dem Tod der schönen Frau und ihres gierigen Liebhabers, so gehe Simons "hinein in die Zeiten der Krise": Die Versicherung "entscheidet sich für die billigste Lösung, die sie gleich für eine Imagekampagne nutzt". Zu diesem Ende gelange Simons mit einem "sardonischen Grinsen, mit altmodisch a capella singenden, sich verbiegenden, wunderbaren, kaum zu bändigenden Körpertheatertieren und zwar mit diesen allein".

 

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