Apokalypse am Schweizer Sihlsee

von Felizitas Ammann

Einsiedeln, 27. Juni 2007. Das Volkstheater hat Tradition im Wallfahrtsort Einsiedeln. Das ganze Dorf engagiert sich, 350 Leute auf und zahlreiche hinter der Bühne. Und dieses Jahr schien es, als wolle auch die Natur ihren Beitrag leisten: Nur zwei Tage vor der Uraufführung des Welttheaters suchte ein schweres Unwetter die Gegend heim, wie der reale Vorbote des Theaterwinds, der die Welt ihrem Ende entgegen treibt.

Auftritt der Welt vor der eindrücklichen Kulisse der barocken Klosterkirche. Ihr riesiges rotes Kleid bedeckt den ganzen Platz, darunter kommen die sechs archetypischen Figuren hervor und Unmengen von Menschen, als Hochzeitsgesellschaft in Weiss und als Trauerzug mit Blaskapelle. "Toda la vida es una entrada, una salida", so steht es in Calderóns barockem Theater über Werden und Vergehen. In Thomas Hürlimanns Fassung heissts auf Schweizerdeutsch "im Cho es Go, im Go es Cho", und dass die schöne Frau Kälin noch im Witwenschleier bereits einen neuen Kälin gezeugt habe. Kälin, so heissen viele hier im Dorf – und alle auf der Bühne.

Endwind aus Kienbergers Glasharfen
Einsiedeln und die Welt, Gegenwart und Barock, Apokalypse und Klimawandel. Hürlimann bedient sich bei Calderón ebenso wie im Volkstheater, kombiniert Deutsch und Dialekt, das Spanisch der Vorlage und das Englisch der Touristen, Abzählverse und Bauernflüche. Ebenso anspielungsreich ist die Musik von Jürg Kienberger, der den Endwind mit Glasharfen sirren lässt. Das Ergebnis wirkt nicht beliebig, sondern dicht, eindrücklich, überraschend.

Siebenmal tobt der Wind und immer heftiger. Als Föhn, als Sturm, als glühender Endwind tobt die Apokalypse näher. Der Pater mahnt, an den (echten) Devotionalienständen läuft das Geschäft mit religiösem Kitsch, wie zum Trotz wird wild gefeiert. Einige ziehen sogar aus dem Ende ihren Profit: Denn der Wind, der ist ja pure Energie. Die Reiche spricht zu den Aktionären, ein Lastwagen fährt einen riesigen Propeller auf und King Kälin reibt sich die Hände. Nur die Bettlerin mit ihrem kranken Kind stört das Bild der fröhlichen Betriebsamkeit.

Kochender See, brennendes Kloster
Es gibt nur wenig Text für die Hauptfiguren, die allesamt mit Laien besetzt sind. Regisseur Volker Hesse setzt ganz auf Bilder, Stimmungen und faszinierende – von Joachim Siska präzis choreografierte – Massenszenen. Immer wieder stieben hunderte Menschen auf dem grossen Platz durcheinander, ereignen sich nebeneinander viele Szenen, lustige, banale, schreckliche. Ein Höhepunkt ist der Zug der Pilger, der in seiner Drastik schockiert und gleichzeitig zum Lachen reizt: Menschen an Stöcken, in Rollstühlen, auf Bahren, Blasmusik und Nonnenchöre, Kriegsveteranen, Kinder.

Die Prozession ist endlos und wird immer grotesker, das Volk kriecht und keucht in blindem Glauben. Von Erscheinungen wird berichtet und statt des heiligen Lamms eine Geiss angebetet. Der nahe Sihlsee kocht, das Kloster brennt, rot leuchtet der Rauch. Und keiner ist da, dieses Chaos in Bahnen zu lenken: Thomas Hürlimann hat den Autor abgeschafft, der bei Calderón noch leitend in das Spiel eingreift. Und Frau Welt ist nicht mehr eine dralle Person, sondern ein verröchelndes Häuflein Elend, dem Treiben der Menschen hilflos ausgesetzt. Der 78-jährige Pater Kassian Etter spielt sie klar und ergreifend.

Engel, der eine Bombe hält
Es ist düster, dieses zeitgenössisch-barocke Welttheater. Düsterer als die letzte Ausgabe, die im Sommer 2000 ebenfalls von Volker Hesse inszeniert wurde. Es ist eben viel passiert auf der Welt in diesen Jahren. Und so ziehen zündrote Todesengel vorbei, während Menschen aus den Twin Towers von Einsiedeln fallen. Dieses Bild aber – und das himmelblaue Plakat mit dem Engel, der eine Bombe hält – war einigen Einsiedlern dann doch zu viel des Zeitgenössischen. Es gab ein kleines, werbewirksames Skandälchen. Die kritischen Stimmen aber verstummten bald, schliesslich hatte das Welttheater mit Volker Hesse schon 2000 einen riesigen Erfolg.

Die neue Fassung wird den hohen Erwartungen gerecht. Gebannt verfolgt man die riesigen Bilder voller Details, schaut von der steilen Tribüne wie der liebe Gott auf das irre, irdische Treiben herab. Der Begeisterung der Zuschauer und dem Engagement aller Spielenden kann bei der zweiten Vorstellung auch der eisige Dauerregen nichts anhaben. Mit dem Welttheater 2007 hat sich Einsiedeln definitiv als Pilgerort nicht nur für Gläubige, sondern auch für Theaterfans etabliert.

 

Das Einsiedler Welttheater
von Thomas Hürlimann
Regie: Volker Hesse, Musik und musikalische Leitung: Jürg Kienberger, Choreographie und Mitarbeit Regie: Jo Siska, Raumgestaltung: Marina Hellmann, Kostüme: Gerhard Gollnhoifer,  Maske: Anne-Rose Schwab, Musikalische Leitung: Agnes Ryser.
Mit: Kassian Etter und mehre hundert Menschen aus Einsiedeln und Umgebung

www.welttheater2007.ch

Kritikenrundschau

In der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag (25.6.2007) schreibt Regula Freuler, und die website des Einsiedler Welttheaters zitiert sie: "Betörende Bilder, schwarzer Humor und Selbstironie (diese Chälis!), Nachdenklichkeit und kritischer Geist, vertraute wie verzaubernd-fremde Klänge – das ist der Stoff, aus dem das Einsiedler Zuschauerglück gemacht ist."

Charles Linsmayer schreibt im Bund aus Bern von "etwas hinreißend Neuem", zu dem sich barocke Tradition, modernes Laientheater und eine höchst inspirierte Textvorlage (von Thomas Hürlimann) verbänden. Vor 2.700 jubelnden Premierengästen, rage unter vielen eindrucksvollen Figuren die der "Welt" heraus, "als welche der Benediktinerpater Kassian Etter das ganze Spiel auf magistrale Weise zusammenhält, um sich am Ende auf schauerliche Weise in den Tod zu verwandeln".

Auch Martin Halter schreibt in der FAZ (26.6.2007) angetan von seinen Einsiedler Eindrücken, wo er "fromme Patres weltlichen Mummenschanz und Höllenspuk an vorderster Front" mitmachen sah, wo er erlebte wie "Einsiedler Bürger sich als Pilger- und Touristenschröpfer, jodelnde Dumpfbacken und gottloses Partyvolk" verkleideten und Volker Hesse sein Volk "wie Moses durchs Rote Meer" führte. Er hörte, wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts vom Kirchturm herab erschallten, er sah, wie Menschen aufs Kopfsteinpflaster stürzten und rote Schnitter ihre Sensen schwangen, bis 350 tot auf der Stätte lagen. Wenn der Endwind sieben Mal Anlauf nimmt und dazu die Raben wie vor elfhundert Jahren über den Köpfen krächzen "kann einen schon endzeitliches Zähneklappern anwehen".

Es sei frappierend schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (29.6.2007) mit "welcher Vehemenz" Autor Thomas Hürlimann, der ehemalige Schüler der Benediktiner-Klosterschule von Einsiedeln den "Apokalyptiker in sich entdeckt, und wie entschieden er dabei gereimte Zeigefingereien neben gelungene Verse stellt" ("Hier an dieser Stelle / There was a Klause with Kapelle"). Regisseur Volker Hesse zeige, "was für ein geschickter Freiluftregisseur und Massenlenker", welch "fulminanter Bilderfinder" er sei, dazu sorge "Marthaler-Spezi Jürg Kienberger" als "musikalischer Sherpa" mit einem kleinen Glasorgel-Orchester für Gänsehaut, und die Einsiedler Laien hatten sowieso trotz eiskaltem Regen überschäumende Lust aufs Spiel.

 

 

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