Die schönen Tage des Geschlechterkampfes sind nun zu Ende

von Regine Müller

Wuppertal, 12. Juni 2009. Die Bühne ist eine weiße Fläche, glatt und aufgeräumt. Nach einer Weile bekommt die kühle Glätte jedoch fast unmerklich feine Risse. Wie bei auseinander driftenden Eisschollen wachsen aus den Rissen rasch kantig gähnende Spalten. Ist der Klimawandel im Geschlechterverhältnis angekommen? Schmilzt endlich das Eis oder ist und war es immer schon gefährlich dünn?

Ebenso unmerklich, wie die Spalten sich auftaten, schieben sie sich jedoch alsbald wie von Zauberhand wieder zusammen. Die Abgründe waren nur kurz zu erahnen. Was für den neuen Abend von Pina Bausch zur Gänze gelten darf. Seit Menschengedenken kommt jedes Jahr im Mai oder Juni ein neues Stück der Tanz-Ikone heraus. Wie es Brauch ist, trägt das Stück dann stets noch keinen Titel, was das immer weiter in Fortsetzung sich befindliche work-in-progress-Prinzip der Entstehung unterstreichen soll.

Das Tanzen an und für sich

Das Programmheft besteht aus nichts als einem dürren Besetzungszettel und Landschaftsfotos, die auch einen Wandkalender mit Besinnungssprüchen schmücken könnten. Um was es geht, wird nicht verraten, keine einführenden Texte, keine dramaturgischen Hilfestellungen, und auch das hat Tradition. Denn die treue Bausch-Gemeinde weiß ohnehin, um was es wie immer gehen wird: nämlich um Männer und Frauen. Und – diesmal mehr denn je – um das Tanzen an und für sich.

Irgendwann später wird das "Neue Stück" dann nicht mehr neu sein, kriegt seinen meist poetisch weit gefassten Titel und wandert ins Repertoire. Wiederum hat Bausch mit einem entfernten Partner koproduziert, diesmal mit einem Festival in Santiago de Chile und dem dort ansässigen Goethe-Institut. Nur in Spurenelementen sind diesmal die Bezüge zum Koproduktionsland – sonst reich sprudelnde Bilder- und Assoziations-Quelle – nachweisbar: Eindeutig lediglich beim komischen Kurzbesuch einer mit Alpacca-Mützchen und Poncho ausgestatteten Figur, die einige Augenblicke auf einem Stuhl sitzt und mit Befremden dem pulsierenden tänzerischen Treiben auf der Bühne zuschaut.

Knapp zweieinhalb Stunden arbeiten sich neun Frauen und sieben Männer in immer neuen Konstellationen und Situationen aneinander ab und verlieren sich zunehmend in längere Soli. Die Performance-Elemente und Sprecheinlagen früherer Zeiten scheinen zurück gedrängt, bis auf ein paar Sketche beherrscht der pure, bis ins Ekstatische getriebene Tanz die Bühne.

Ironische Szenen der Verführung

Das erklärt sich auch aus einem fast zur Gänze neu rekrutierten Ensemble. Einzig Dominique Mercy ist von den Tänzern der ersten Stunde übrig geblieben, ansonsten hat sich die multikulturelle Compagnie stark verjüngt. Bei den Frauen scheint ein neues Selbstbewusstsein vorherrschend, der blässlich durchscheinende, stets leidende Frauen-Typ hat bei Pina Bausch offenbar ausgedient.

Nur zu Anfang sieht man noch instrumentalisierte, somnambule Frauen, die herumgetragen und abgestellt werden wie Möbelstücke und sich keuchend und stocksteif beschweren, wenn Mann sie berührt. Schon bald drehen die Frauen lächelnd den Spieß herum, richten die Männer erotisch ab und kontrollieren deren muskelstählenden Sit-Ups. Es gibt viele kleine ironische Szenen der Verführung und gegenseitigen Manipulation, Szenen zärtlicher Annäherung, die in Gewalt münden und aggressive Eroberungsmomente, die sich liebevoll auflösen. Es bleiben überwiegend Miniaturen, die sich wie in einer Nummerrevue ablösen und entsprechend propere Publikumsreaktionen auslösen.

Auch die vereinzelten, minutiös getakteten Gruppenszenen ändern nichts daran, dass im Zentrum des Abends eigentlich die großen Soli stehen, in denen jede Tänzerin und jeder Tänzer seinen eigenen Körper-Dialekt vorstellt und mithilfe von Bauschs nie versiegender Bewegungs-Fantasie zu teils entfesselter Energie steigert.

Ein bisschen zu harmonisch

Es sind wiederum starke Persönlichkeiten, die Bauschs neue Truppe prägen und vor allem sind es heute Tänzer, weniger jene kritisch gebrochenen, ästhetisch den klassischen Tanz-Rahmen bewusst sprengenden Figuren, die einst für Bauschs Tanztheater typisch waren.

All das ist sehr schön anzusehen, die überwiegend bodenlangen, seidig fließenden Roben der Damen und deren wallende Haarpracht tun ein Übriges, die ohnehin perfekten, kantenlosen Bewegungen zu harmonisieren und weiter zu verflüssigen. So ist die Stimmung vorwiegend gelassen und heiter, die Zeiten grimmigen Geschlechterkampfs sind bei Bausch schon lange vorbei und sie scheinen sich auch mit einer neuen Tänzergeneration nicht zu erneuern. Eine sanfte Ironie liegt über dem Abend, doch mindert sie kaum die Feier des Tanzes.

Ein Abend ohne Risiken und Nebenwirkungen, ein bisschen zu lang, ein bisschen zu schön, ein bisschen zu harmonisch. Wie ein sehr gutes Essen, bei dem sich nur heiter belanglose Gespräche ergeben.

 

Neues Stück 2009 (Arbeitstitel)
von Pina Bausch
In Koproduktion mit dem Festival International de Teatro Santiago a Mil und dem Goethe-Institut ChileInszenierung und Choreographie: Pina Bausch, Bühne und Videoprojektion: Peter Pabst, Kostüme: Marion Cito, musikalische Mitarbeit: Matthias Burkert, Andreas Eisenschneider
Mit: Pablo Aran Gimeno, Rainer Behr, Damiano Ottavio Bigi, Ales Cucek, Clémentine Deluy, Silvia Farias Heredia, Ditta Miranda Jasjfi, Nayoung Kim, Eddie Martinez, Dominique Mercy, Thusnelda Mercy, Morena Nascimento, Azusa Seyama, Fernando Suels Mendoza, Anna Wehsarg, Tsai-Chin Yu

www.pina-bausch.de
www.wuppertaler-buehnen.de

 

Kritikenrundschau

Die Welt, die Peter Pabst für Pina Bauschs neues, von einem Chile-Aufenthalt inspiriertes Stück auf der Wuppertaler Bühne errichtet hat, sei "gefährdet und abgründig", schreibt Jochen Schmidt in der Welt (15.6.): "Doch füllen die Choreographin und ihre 16 Tänzer – neun Frauen, sieben Männer – sie mit beträchtlichem Lebensmut." Im ersten Teil des Abends habe Pina Bausch "jeder Tänzerin mindestens ein großes Solo auf den Leib geschneidert. Die bestehen durchweg aus jenen Schraubenbewegungen, die Bausch schon seit geraumer Zeit benutzt und kontinuierlich weiter entwickelt hat: Gleichwohl hat jedes dieser Soli einen ganz eigenen Charakter: mal eher melancholisch und wehmütig, mal wild und ekstatisch." Es gebe viele schöne Momente, und so zähle "der Abend eindeutig zu den positiven Tanzereignissen der Spielzeit". Doch "zu den ganz großen Stücken der Pina Bausch" könne man das Werk nicht rechnen: "ein großes Thema oder auch nur ein roter Faden fehlt; der eine oder andere Hinweis auf karge Lebensumstände, vielleicht sogar Pinochets Schreckensherrschaft, bleibt allzu blass."

"Es wird Wasser verwendet werden, mal mehr, mal weniger. Die Frauen werden – meist farbenfrohe – Abendkleider und Stöckelschuhe tragen, die Männer dunkle Anzüge. Jeder Tänzer, jede Tänzerin wird irgendwann sein Solo bekommen." Sylvia Staude konstatiert in der Frankfurter Rundschau (15.6.), dass Pina Bausch im Rahmen dieses berechenbaren Schemas – "von dem sie offenbar nicht mehr bereit ist abzuweichen, oder sie hat nicht mehr die Kraft dazu" – immer wieder "Großes, Hinreißendes, Bestürzendes geschaffen" habe. "Dieses Jahr aber plätschern die Szenen (mehr als 50 hat dpa gezählt) und sind von teilweise erschreckender Harmlosigkeit." Das sieht dann so aus: "Die Frau, das Biest. Der Mann, der verliebte Dödel. Es ist, als wollte die Wuppertaler Tanzchefin eine Meldung illustrieren, die just am Samstagmorgen in der Zeitung stand: Dass Männer tatsächlich ihr Gehirn abschalten, wenn sie eine schöne Frau sehen." Es wäre doch schön, bilanziert Staude, wenn die Szenenfolge "nicht so nett wäre, so voll kokettierender Gefälligkeit, so hübsch und anstrengungslos anzusehen".

In der Frankfurter Allgemeinen (15.6.) wundert sich Wiebke Hüster über die Fragmente des Gesellschaftskritischen "ohne dramaturgische Anbindung", die in Pina Bauschs neuem Stück offenbar für das "gute, alte Tanztheater" einstehen sollen. Ansonsten sehe alles vorerst danach aus, als habe Bausch wieder einmal "mit talentierten Tänzern (…) in einem exotischen Land ein paar Blumen am Wegesrand gepflückt und hält das Sträußlein seinem Publikum im Opernhaus hin: Ich war in Südamerika, du darfst mal riechen." Doch dann wehe plötzlich "der süße Duft der Freiheit über die Bühne. Mit einer neuen Tänzergeneration, die so tanzt, als wüsste sie nicht, wie man '[Lutz] Förster' buchstabiert. (…) In einigen wirklich atemberaubenden Tänzen eignen sie sich das Wuppertaler Material an, als sei es eine der leichteren Fremdsprachen." Das alte Tanztheater habe also "einfach – und damit hat keiner mehr gerechnet, deswegen war auch das Publikum so still vor Überraschung – die alten Geister von der Hinterbühne verscheucht, die Tanztheaterdramaturgieanweisungen in die Ecke gefeuert und losgetanzt. Das kann die Frau Bausch also auch."

Jens Dirksen bezeichnet auf dem Zeitungsportal Der Westen (15.6.) die neuen Tänzer von Pina Bausch als "geschmeidig, athletisch, unbeschwert": "Sie wissen, wie ihre bravourös getanzten Soli wirken und genießen es, wenn das Publikum nach jeder Nummer munter applaudiert." Das neue Stück sei "wie eine Revue – schön anzusehen und überwiegend konfliktlos". Wie Videoclips zögen "die Impressionen vorüber und werden nur durch längere Solonummern unterbrochen. Diese wirken elegant und virtuos." Doch über "die früher so einzigartige und unverwechselbare Sogkraft" verfüge Pina Bauschs Spätwerk nicht mehr.

Was das Tanztheater Wuppertal aus Südamerika mit nach Hause gebracht hat, werde nicht ganz klar, schreibt Lilo Weber in der Neuen Zürcher Zeitung (17.6.). Das sei aber eigentlich ganz gut so, "zu deutlich waren zuweilen in früheren Werken die Stereotype aus fremden Ländern". "Das Chile-Stück ist das ruhigste Werk, das ich je von Pina Bausch gesehen habe", aufgrund der Musik-Auswahl, aber auch weil "ruhige Verhaltenheit" hier "Stilmittel und Inhalt in einem" sei. "Denn die Ruhe trügt. Darunter brodelt es. Die Gleichzeitigkeit von oberflächlicher Heiterkeit und untergründiger Gefahr macht die ganz besondere Atmosphäre dieses Werks aus." Angesichts bedrohlicher Szenen fragt sich die Kritikerin: "Bilder aus dem persönlichen Erlebnisbereich? Bilder von der Reise nach Chile? Oder Anspielungen auf die dunkle Geschichte des Landes?" Die "elegische Stimmung, die subkutan lauernde Bedrohung" könne "sehr wohl als Bild für den Umgang mit der Vergangenheit im heutigen Chile verstanden werden".

 

 

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