Trauer auf der langen Bank

von Otto Paul Burkhardt

Heilbronn, 13. Juni 2009. Eine riesige, ehrwürdige, aber auch abweisende und übermächtige Wand, voll mit Akten und drapiert mit respektheischenden Gipsköpfen. Gerichts-Atmosphäre. Himmelhoch ist diese Wand, die Menschen sehen klein vor ihr aus. Ja, so könnte leicht verfremdet die stumme, abwesende Staatsmacht aussehen, von der sich Dr. Richard Zurek, Vater des zu Tode gekommenen Terroristen Oliver Zurek, eine vernünftige Aufklärung des Falls erhofft – wie eine Klagemauer, aber mehr noch wie eine Mauer des Schweigens.

Oliver ist bei einer Schießerei auf dem Bahnhof von Bad Kleinen ums Leben gekommen, als Polizisten und Grenzschützer RAF-Mitglieder festnehmen wollten. Die Verweise sind klar: Christoph Heins Roman "In seiner frühen Kindheit ein Garten" bezieht sich auf die nie ganz geklärten Vorfälle am 27. Juni 1993, als Wolfgang Grams und ein GSG-9-Beamter bei einem Schusswechsel ums Leben kamen.

Schmerz der Eltern und die Verschleierung der Fakten

Hein hat keinen RAF-Roman geschrieben. Ihn interessiert das gerichtliche Nachspiel. Der Schmerz der Eltern. Des Vaters Zivilcourage, gegen die Verschleierung der Fakten, gegen das übermächtige Bündnis aus Justiz und Staatsmacht anzutreten. Wie im realen Fall hat er dazu auch allen Grund: Zeugen und Gutachten werden demontiert, Beweismaterial verschwindet, der Innenminister tritt zurück, der Generalbundesanwalt wird in den Ruhestand entlassen. Oliver, so die Endversion, habe zuerst einen Polizisten und dann sich selbst erschossen. Eben damit will sich der Vater nicht abfinden.

Regisseur Axel Vornam nutzt die Vorteile der Bühnenfassung (von ihm, von Christian Marten-Molnár und von Birte Werner erstellt), spitzt Konflikte augenfällig zu und haucht den von Hein bewusst vage skizzierten Figuren konkretes Leben ein. Klar, der Transfer vom Roman aufs Theater geht nicht ohne Verluste einher – beredte Episoden fehlen, etwa die Blicke der Nachbarn, das Spießrutenlaufen. Dafür fokussiert Vornam den mäandernden Roman auf den Erkenntnisprozess des Vaters.

Gewaschene Hände

An dessen Beginn wettert dieser eher konservative Oberstudiendirektor a. D. noch heftig gegen staatsfeindliche "Revoluzzer". Am Ende ruft er enttäuscht von Justiz und Regierung: "Sie lügen und lügen und lügen". Nennt den Minister ein "Arschgesicht" und widerruft seinen Beamten-Eid auf den Staat. Frank Lienert-Mondanelli gibt ihn als braven, störrischen, cholerischen, aber real längst entmachteten Familienvorstand. Wenn er sich in die Gedankenwelt des toten Sohnes einarbeitet ("das sind keine Terroristen, es sind Träumer") und dabei lyrisch wird ("das ist die Bergpredigt ... samt einer Wollmaske mit Augenschlitzen"), holt ihn seine nüchterne, unpathetisch-leise leidende Gattin (Anne-Else Paetzold) kurz wieder in die Realität zurück: "In zehn Minuten ist das Essen fertig."

Einer der stärksten Momente des Abends zeigt, wie die Regie ganze Romanseiten zu einer Bühnenszene verdichten kann: Zum Brief an den Minister, in dem Vater Zurek Aufklärung verlangt ("um meinen Sohn im Herzen beerdigen zu können") erklingt die Klagearie "Lascia ch'io pianga" aus Händels "Rinaldo" – und als der Alte mit den Worten schließt ("Man hat meinen Sohn in einem Dom der Lüge beigesetzt"), kommandiert ihn seine Frau zu Tisch: "Und wasch dir die Hände."

Der Tote prägt die Wirklichkeit

Gut, es gibt bessere Texte von Hein ("Drachenblut" zum Beispiel), und die Regie kann Passagen nicht vermeiden, in denen das Ganze wie holzschnitthaftes Dokumentartheater wirkt. In Bezug auf die BRD-Geschichte wirkt der Roman ziemlich wolkig und pauschal – als RAF-Analyse ungeeignet. Die Frage des Vaters nach der eigenen Schuld bleibt unbeantwortet: "Irgendetwas ... muss es geben, was hier passiert ist, hier in diesem Haus."

Während sich Tochter Christin (Sylvia Bretschneider) längst von Oliver distanziert hat, hallt im jüngeren Bruder Heiner (Oliver Firit) das Leben Olivers noch immer nach. So ist der Kunstgriff der Regie, dass Oliver (Sebastian Winkler) auf der Bühne als fies schönrednerischer Nachrichtensprecher oder als stummer Statist präsent ist, nur konsequent: Der Tote prägt die Wirklichkeit der (Über-)Lebenden. Vornams insgesamt recht schnörkellose, zupackende Regie setzt zudem unausgesprochene Bezüge frei – etwa Parallelen zum Antigone-Mythos oder zu Kafkas "Gesetz": Wenn der alte Zurek keinen Zugang findet zur riesigen Gerichts-Fassade auf der Bühne. Schließlich finden sich alle Beteiligten immer wieder auf einer endlosen Sitzreihe wieder – und damit wie Verschobene, wie Abgeschobene auf einer langen, langen Bank.

 

In seiner frühen Kindheit ein Garten
nach dem Roman von Christoph Hein, für die Bühne eingerichtet von Christian Marten-Molnár, Birte Werner und Axel Vornam
Regie: Axel Vornam, Bühne und Kostüme: Tom Musch.
Mit: Frank Lienert-Mondanelli, Anne-Else Paetzold, Sylvia Bretschneider, Oliver Firit, Sebastian Winkler, Nils Brück, Till Schmidt, Tobias D. Weber.

www.theater-heilbronn.de

 

Kritikenrundschau

Für den Heilbronner Intendanten Axel Vornam ist der Autor Christoph Hein "ein Chronist heutiger Tage, der sich nicht am Vordergründigen abarbeitet, sondern sich auf das Geschehen hinter der Oberfläche konzentriert", schreibt Uwe Grosser in der Heilbronner Stimme (15.6.). In dem Roman "In seiner frühen Kindheit ein Garten", den Vornam nun als Bühnenadaption uraufführte, sei "die Oberfläche die versuchte Festnahme der Terroristen Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld 1993 in Bad Kleinen durch das Bundeskriminalamt und die GSG 9, bei der Grams und ein Polizist ums Leben kamen. Hinter dieser Oberfläche gibt es die Familie des getöteten Terroristen". Vornams Zugriff auf den Stoff sei "ein äußerst behutsamer, leiser. Die Familie, nach wie vor Keimzelle der Gesellschaft, ist längst nicht mehr das stabile Gefüge früherer Tage." Die Aufführung sei "die ernsteste und eine der besten dieser Spielzeit in Heilbronn. Konsequent und konzentriert lotet der Regisseur die Seelen seiner Figuren aus." Und es gebe gar "Momente des Innehaltens, in denen nicht nur die da auf der Bühne erschüttert sind".

 

 

 

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