Das Boudoir, der Abendbrottisch und sein Pilzgericht

von Esther Slevogt

Berlin, 13. Juni 2009. Eine antike Ladenvitrine, wie man sie sich gut bei traditionsreichen englischen Herrenausstattern vorstellen könnte. Nur dass das Behältnis, um das sich die Zuschauer, inmitten der Belle-Epoque-Pracht des Foyers im ersten Stock des Theaters am Schiffbauerdamm, gruppieren, ausgesprochen überdimensioniert ist.

Hier werden keine Manschettenknöpfe, Cummerbunds, Handschuhe oder andere Accessoires für den Mann von Stand ausgestellt, sondern Menschen, weshalb das elegante wie sinnfällige Möbelstück, das Nina von Mechow für Martin Wuttkes Ernst-Jünger-Abend gebaut und als Puppenstubenboudoir eingerichtet hat, eigentlich ein Terrarium ist. Hier kann man bald sieben Männern und drei Frauen begegnen, die sich auf engstem Raum und unter der spirituellen Führung eines gewissen Dr. Fancy zu einer Art Séance versammeln.

Ausgestellt wie eine Ware

Dr. Fancy, das ist Martin Wuttke, der in seiner Inszenierung auch als Spielführer bei diesem Ausflug in die Welten künstlicher, also auf dem Wege der Droge produzierter Erfahrungen fungiert. Zunächst in dandyhaftem Weiß und unter blonder Perücke. Später ganz in Schwarz, als alberner, hamlethafter Popanz mit schwarzer Pilzperücke.

Die anderen Männer wirken mental ähnlich unterentwickelt. Alle tragen Perücken und chinesisch anmutende Morgenmäntel, worunter sie nicht immer vollständig bekleidet sind. Die drei Damen sind in zerrupfte Abendgarderobe gehüllt und strahlen diffuse erotische Angebotsbereitschaft aus. Doch die verstörten Herren scheinen auf dieser Frequenz nichts zu empfangen, wirken hinter großen Brillen hochgradig entsexualisiert, Nerds auf Abwegen ins Ungefähre.

In säuselndem Singsangton doziert Dr. Fancy der Versammlung alsbald vom Überdruss, dem lauen Wohlbehagen in einer liberalistischen Zeit, die allerlei zu wünschen übrig lässt. Nichts Materielles, wohlgemerkt, sind die Menschen doch längst selbst Waren, die ihre eigenen Körper und die der anderen konsumieren.

Aufladung der durch den Konsum verdinglichten Welt

Nein, begehrt wird Tieferes, Existenzielleres: Rauschhaftes eben. Wünsche, die sich die Zeitgenossen 1929, als die Texte aus "Das abenteuerliche Herz" entstanden, lediglich unter anderem mit Drogen, und bald auch wesentlich gieriger mit der Politik erfüllten, die sich entsprechend schnell zum tödlichen Rausch auswachsen sollte und unter dem Mantel kalter Rationalität am Ende der Wahn den Diskurs vorgab.

Wovon eben auch der irre Dr. Fancy alias Martin Wuttke hier ein schrilles Sirenenlied singt: alle Ordnung nämlich werde unnütz, sobald sich in ihr der große Traum nicht mehr verwirklichen lasse. Gelegentlich erschießt er jemanden, um die existenziellen Dimensionen seines Traums zu verdeutlichen. Dann klatscht Blut aus dem Kopf des Getroffenen an die Scheiben des Vitrinen-Boudoirs. Leider erholt sich der Getroffene stets wieder, was diese Grenzüberschreitungsbemühungen bald ins Sisyphoshafte treibt, wogegen auch das Servieren einschlägiger Pilzgerichte nichts ausrichten kann.

Eine insgesamt ebenso morbide wie minderbemittelte Versammlung, die man da nun anderthalb Stunden bei ihren verunglückenden Selbstversuchen beobachten kann, die immer stärker zur Selbstdemontage werden, und in denen es zwar äußerlich um Drogen, aber im Grunde um den Hunger nach existenzieller Erfahrung jenseits des bürgerlichen Mittelmaßes geht, der Aufladung der durch den Konsum verdinglichten Welt mit Sinn.

Romantik ist Tasten im Nichts

Antibürgerliche Posen, denen sich später auch die Popindustrie verpflichtet fühlte, was der Abend einmal in einer wunderbaren A-Capella-Darbietung des Queen-Hits von 1974 "Bohemian Rhapsody" auf den Punkt bringt.

Ein Abend voller genuiner Ernst-Jünger-Motive also, der selbst den existenziellen Thrill nicht nur im Krieg, in totalitären Ideologien, sondern später, als er in der langweiligen demokratischen Bundesrepublik immer länger und länger lebte, als alter Mann auch in den Drogen suchte, worüber er sein Buch "Annäherungen: Drogen und Rausch" verfasste, das 1970 inmitten des psychedelischen Pop-Age erschien.

Und doch hätte sich der Verfasser der Texte, die hier mit verstörtem, verkrampftem und teilweise grenzdebilem Gestus dargeboten werden, mitnichten wohl gefühlt in dieser Gesellschaft, die sich hier in Wuttkes Sunset-Boudoir nun auf ihn beruft. Was die Veranstaltung insgesamt grundsympathisch macht. Denn aus Jüngers nihilistischer Romantik wird schriller Unsinn, tollpatschiges Tasten im Nichts.

Vergnüglich den Drang nach dem Totaliären geschultert

Aus dem ins Totalitäre wachsendem Drang dieses Autors nach dem Existenziellen macht Wuttke einen höchst vergnüglichen Eigentlichkeits-Slapstick, der sich schon über den Gestus lustig macht, mit der die zivilisationsmüde Versammlung sich hier so vergeblich gegen die Verhältnisse stemmt, denen sie die Freiheit ihrer Erfahrungsmöglichkeiten überhaupt erst verdankt. Die im Terrarium nach künstlicher Erfahrung hungert und sich dabei die Welt, nach deren Unmittelbarkeit sie sich sehnt, tunlichst vom Leibe hält.

Hier wird Jünger mit sich selbst ad absurdum geführt, als intellektueller Dr. Caligari vorgeführt, als totalitäres Rumpelstilzchen, das Wuttke mit der Kraft seiner schauspielerischen Größe, und seine Schauspieler Marie Löcker, Janina Rudsenska Judith Strößenreuter, Dejan Bucin, Georgios Tsivanoglu, Winfried Goos, Christopher Nell, Lucas Prisor, Marko Schmidt und Mathias Znidarec mit ziemlich abgründiger Spielwut demontieren.

 


Das abenteuerliche Herz: Droge und Rausch
nach Texten von Ernst Jünger
Spielfassung: Anna Heesen und Martin Wuttke
Regie: Martin Wuttke, Mitarbeit Regie: Henning Nass, Bühne und Kostüme: Nina von Mechow, Video: Andreas Deinert. Mit: Marie Löcker, Janina Rudenska, Judith Stößenreuther, Dejan Bucin, Winfried Goos, Christopher Nell, Lucas Prisor, Marko Schmidt, Georgios Tsivanoglu, Martin Wuttke, Mathias Znidarec.

www.berliner-ensemble.de

Mehr zum Regisseur Martin Wuttke? Vor einem Jahr, im März 2008, führte er in Gretchens Faust Goethe und Schleef zusammen. Als Schauspieler kann man ihn in diversen Pollesch-Abenden sehen, etwa in Ping Pong d'Amour, das im Februar 2009 in München Premiere hatte. Oder in Fantasma vom Wiener Burgtheater, das zu den 34. Mülheimer Theatertagen eingeladen war, wo mit Wuttke dieser Ruhrpod entstand.

 

Kritikenrundschau

Im Deutschlandradio berichtet Michael Laages in der Sendung Fazit (14.6.2009): Wie im Rausch taumele niemand aus dem Theater - dafür seien die Sequenzen, die der Schauspieler und Regisseur Martin Wuttke aus zwei großen Texten von Ernst Jünger destilliert habe, doch zu sehr "Gedankenspiel und philosophische Betrachtung pur". Wuttke interessiere "die drogengestützte Entgrenzung, die speziell dem Künstler eigen ist", die "Forscherarbeit am Unbewussten in uns allen, das Rühren im brodelnden Sud, der unter all den zivilisatorischen Oberflächen der Gesellschaft schwappt". Im ständigen Palaver von Wuttkes Dr. Fancy mit seinen zehn Probanden entstünden "Lebensabenteuer und schräge Träume". Es werde "viel geschossen", und Blut fließe – "aber stets stehen die Opfer schnell wieder auf und reflektieren, was ihnen gerade geschehen ist". Wuttke selbst "monologisiert viel und gibt gelegentlich den Exzessdarsteller - greift sich etwa die schönste der Damen, als sie gerade Suppe austeilt an die kleine Gesellschaft; er führt sie wie eine Marionette und tanzt mit ihr suppespritzend durch den Raum". Doch wie sehr Wuttke die Jünger-Texte mit morbider Aktion auch aufgeschäumt habe - sie blieben doch als Texte trocken und wenig zugänglich.

Die Texte Ernst Jüngers, die Martin Wuttke für seine Inszenierung "Das abenteuerliche Herz: Droge und Rausch" zusammengestellt hat, seien interessant, meint Matthias Heine in der Welt (15.6.2009): "Jüngers sonst oft etwas marmorne, schwerfüßige Prosa ist unter dem Einfluss der Räusche ins Tanzen geraten. Auch Witz, sonst nicht gerade die hervorstechende Tugend des Autors, scheint auf." Die Darsteller "sprechen die Jünger-Texte erst, als wären es ganz normale, längere Konversationsbeiträge, dann zunehmend auch ekstatisch verzückt wie Eingebungen des Heiligen Drogengeistes. All das erinnert stark an die Methode des Regisseurs und Autors René Pollesch, mit dem Wuttke viel zusammenarbeitet." Die Aufführung selbst, das werde rasch klar, solle "einen gemeinsamen Drogentest nachstellen". Wer jedoch "selbst mit Drogen sein Bewusstsein erleuchtet hat, weiß, wie schwer sich die Früchte solcher Räusche vermitteln lassen. (…) Ganz im Gegenteil: Es gab in der Jugendzeit kaum langweiligere und quälendere Momente als diejenigen, wo man mit einer Gruppe von Säureköpfen auf einer Party zusammen war (…). An solche Ödnisse erinnert man sich wieder, während man Wuttke und seinen Kumpanen zuhört und -sieht."

Ernst Jüngers pathetische Eigentlichkeitsästhetik werde bei Wuttke "weder billig demontiert noch mit heilig-nüchternem Ernst angehimmelt", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (15.6.2009), "sie wird für ein Schwindel erregendes Schauspiel über die faszinierende Schwindelei des Schauspielens benutzt." Wuttke halte sich dafür an Jüngers "dichterische Leitfrage: 'Welche Sprache ist frei vom Arbeitsgeruche des Gefühlstransportes?' Auf das Theater übertragen: Welches Spiel ist frei von Gefühligkeit, wo hört das gedankenlose Drauflosspielen auf, wo fängt das Theater als Institut kritischer Selbst- und Weltbefragung an? So gesehen ist 'Das abenteuerliche Herz' ein Kommentar zu Wuttkes Theater- und Schauspielverständnis." Das gesamte Ensemble des Abends sei "erstaunlich konzentriert, vital, vielschichtig, Wuttke aber ist der Konzentrationskönig, der unangefochtene Meisterspieler".


Eine Spielfassung "für eine auffällig gekleidete Drogenpartygesellschaft" hätten Martin Wuttke und Anna Heesen aus Ernst Jüngers Vorlagen destilliert, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (15.6.2009). Diese Gesellschaft liefere nun "eine redliche Parodie auf (pseudo-)intellektuelle und andere Existenzpathetiker, die mangels echter Probleme Betätigung in der Transzendenz suchen." Es gebe für "diese sich über die Textvorlagen amüsierende Sichtweise zwar gute Gründe", nur trete "der Abend dennoch auf der Stelle. Ob Dr. Fancy mit einem Revolver jemanden erschießt, ob ein Darsteller sich an einer real existierenden BE-Foyer-Säule festkrallt (was Hausherr Claus Peymann mit einem schwer um die Inneneinrichtung besorgten Blick verfolgt) oder ob alle zusammen pennälerhaft Queens 'Bohemian Rhapsody' verjuxen: Im Prinzip läuft die Inszenierung auf der gleichen Ton- und Erkenntnishöhe durch."

In der Berliner Zeitung die tageszeitung (16.6.2009) schreibt Jörg Sundermeier: Ernst Jünger sei eine Figur "wie geschaffen für das Theater". "Jünger schaffte es, den hässlichen Deutschen als Beau zu geben. Zudem war er oft nur ein Schwätzer, der in einer gestelzten, für Stilblüten sehr anfälligen Sprache, Banalitäten schrieb." In Wuttkes Umsetzung von Jüngers Büchern "Das abenteuerliche Herz" und "Annäherungen" werde "gestenreich geraucht, Champagner getrunken, Waffen werden angewandt, es wird über Leben und Tod schwadroniert". Es gelinge den "guten Schauspielern" Jüngers Texte an die Orte zurückzuführen, an denen sie entstanden sind – "in die Salons der Geltungssüchtigen". Jünger sei "wohl" der "einzige deutschsprachige Surrealist" gewesen. Den schwülstigen Texten nehme "diese Inszenierung ihr falsches Geheimnis", allein dadurch, "dass sie ausgesprochen werden". Mancher Text, der auf dem Papier verwirre, werde "zu Gehör gebracht in seiner Phrasenhaftigkeit entlarvt". "Mitreißend" sei "die Inszenierung allemal, schöne Bilder gibt es zuhauf." Etwa dann, wenn ein Toaster als Rauchmaschine benutzt werde, indem die Toasts darin verbrennen. Und allein der steifbeinige Tanz mit einer Suppenschüssel, den Wuttke gemeinsam mit Marie Löcker tanzt, lohne den Besuch der Aufführung.



Kommentare  
Wuttkes abenteuerliches Herz: doppelte Verruchtheit
oh ja, das ist ein sehr animierender Abend gewesen, der doch die interessanten Seiten eines umstrittenen Autoren in bunte Bilder bannt, und uns so ein wenig an der doppelten Verruchtheit teilnehmen läßt, die der Abend zu Gegenstand hat : Ernst Jünger und Drogen. Der einst so anrüchige Jünger (der gebildete, gut schreibende VielleichtNazi -den Theweleit gern auf dem Kieker hatte und auch Pate stand für die "Wohlgesinnten")und die noch immer bedrohlichen Drogen, kommen hier aber ganz zeitgenössisch bewältigt daher und die Truppe um den Leipziger Tatort Kommissar - wie der "Spiegel" Wuttke jetzt immer so hübsch nennt, macht ihre Sache wohl inspiriert.
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