Kantinendramaturgie

von Anne Richter

Mannheim, 24. Juni 2009. Der Autor und Dramaturg René Pollesch und der Dramaturg Carl Hegemann haben nun auch in Mannheim zusammen halt gemacht. Das Motto der diesjährigen Schillertage "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt" wollen die beiden auf Gesang übertragen. "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er singt" lautet der gewaltige Titel der knapp einstündigen Uraufführung. Sie fand in dem kurzfristig zur Spielstätte umfunktionierten Aufenthaltsraum im Werkhaus des Nationaltheaters statt.

 

 

Endlich sind alle Zuschauer vom angekündigten Ort an der Theaterpforte vorbei in den richtigen Raum gelotst. Jeder sucht einen Platz an Steh- oder Sofatischchen und versorgt sich mit Getränken. Es ist 22 Uhr, und es herrscht Kneipenatmosphäre. Das siebenköpfige Ensemble sitzt an einem Biertisch mit weiteren Kollegen des Schauspielensembles.

Unmöglichkeit der Demokratie

Spielstart: Ein Film läuft an der Rückwand des Raumes ab. Eine Handkamera hat Leseproben gefilmt, dann andere Probenmitschnitte, unter anderem von einer Spieleinführung durch René Pollesch, die wir später noch einmal am Biertisch erleben werden, und schließlich ein Biergartengespräch über Theater, Diktatur und die unmögliche Demokratie. Zwischendrin war kurz der Filmtitel eingeblendet: "Theater ist Diktatur".

Diese These bringt bei so einer Insider-Veranstaltung natürlich ein paar Lacher. Dann singt die Sopranistin Friederike Harmsen wunderschön von sanften Träumen. Sie wird im Laufe der Stunde noch ein paar Mal am Biertisch singen und damit Anlass zum Diskurs geben. Selbst das Wort "Schwanz" kann sie kunstvoll singen, was zu beweisen war. Aber erst einmal holt Dramaturg Hegemann zur allgemeinen Belehrung aus: Schillers Schriften und Lehren in drei Minuten. Das Wesen der Kunst als fröhliches Reich zwischen von Form und Trieb. Noch etwas Philosophiegeschichte, dann ist das Spiel dran.

Schwof, Gesang, Kartenspiel

Am Biertisch werden Aufgabenkarten verteilt und vorgelesen. Eine bestimmte Form von Orgasmus an einem bestimmten Ort soll erlangt werden. Und wieder ein Schnitt: Friederike Harmsen singt in höchsten Tönen. Dazwischen rattern die Schauspieler Pollesch-Texte im Eilverfahren herunter. Spiel – Textschwall – Gesang – Diskurs. Das alles wechselt ein paar Mal hin und her.

Die Erwartungen im Publikum waren hoch. Ganz Schiller-berauscht beschäftigt sich Mannheim seit Festivalbeginn mit theatralen Statements zu Schillers Schlagworten Sinn, Form, Spiel und Trieb. Von Carl Hegemann und René Pollesch erhoffte man freudig ein sinnstiftendes, triebgesteuertes Spiel mit der Form Diskurstheater. Aber das steht noch aus. René Pollesch versammelt eklektisch Fragmente aus seinen älteren Arbeiten. Doch er kommt nicht auf einen Punkt, findet keinen Rhythmus, keine Form, und so verpuffen auch seine Ideen. Physisch kann man spüren, wie die Stimmung im Publikum kippt. Diese Stunde birgt leider keine kunstvolle, freie Performance der ewigen Festival-Biertisch-Gespräche. Er denunziert nur die eigene Theaterarbeit.

 

Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er singt (UA)
von René Pollesch und Carl Hegemann
Regie: René Pollesch/Carl Hegemann, Piano: Arno Waschk.
Mit: Tim Egloff, Friederike Harmsen, Silja von Kriegstein, Meridian Winterberg.

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Mehr zu René Pollesch? Keine fünf Tage liegt die letzte Pollesch-Premiere zurück: Cinecittà aperta hat er jüngst (19.6.2009) in Mülheim inszeniert. Im Mai gab es in Stuttgart Wenn die Schauspieler mal einen freien Abend haben wollen, im April 2009 entstand an der Berliner Volksbühne Ein Chor irrt sich gewaltig, im Februar 2009 Ping Pong d'amour in München.

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (26.6.2009) schreibt Christopher Schmidt: Mit dem Dramaturgen Carl Hegemanni sei Pollesch aus Berlin angereist, um sich zu später Stunde "in kleinem Kreis an Schillers Spielbegriff abzuarbeiten. Pollesch hat die Ästhetischen Briefe Schillers zwar nicht gelesen, wie er zugibt, was ihn aber nicht daran hindert, sie zu kritisieren." Angesichts der heutigen "Allgegenwart von Freizeitangeboten", stellt Schmidt zur Debatte, sei es die Frage, "ob sich die Utopie der spielenden Gesellschaft nicht auf ernüchternd banale Weise verwirklicht hat". Genau in diesem "Spannungsfeld" stünden die Schillertage selbst. So schön es sei, "dass ganz Mannheim acht Tage lang kollektiv im Schiller-Rausch versinkt", so sehr wirke der Name Schiller wie "ein beliebiger Platzhalter für die sommerliche Dauerparty". Das "szenische Kolloquium von Carl Hegemann und René Pollesch" sei dagegen eine "Trockenübung". Pollesch habe "Spieler um einen Tisch versammelt", jeder erhält eine Opferkarte und müsse "seine Passion respektive Perversion vorlesen", um in das "3. Fröhliche Reich" Schillers zu gelangen, nach dem Prinzip: "Ich bin Matrose, stehe auf mit Ost-Schokolade gefüllte Klistiers, kann aber nur kommen, wenn ich geknebelt werde." Schließlich, fährt Schmidt fort, "ranze" Pollesch eine Sängerin an, "ob sie auch das Wort "Schwanz" seelenvoll phrasieren könne. Sie tut’s und wehrt sich, auch sie sei eine Bewohnerin in Schillers fröhlichem Reich."


Martin Halter schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.6.2009), Schiller sei ein "vollkommener Laie im Musikfache" (Schiller)  gewesen, der Versuch von René Pollesch und Carl Hegemann, "Schillers Spielbegriff in Gesang zu übersetzen, konnte daher bei den Mannheimer Schillertagen nur scheitern". Ein "wolllüstiges Zittern" habe "allenfalls Schauspielschüler und Theaterpraktikanten" befallen, als "das Dioskurenpaar der Volksbühnen-Klassik" jetzt alle Erwartungen und Mindestanforderungen an einen Schiller-Liederabend "lust- und lieblos unterboten" habe: "Kein Lied von der Kuhglocke, keine Ode an die Freude, nur Wagners Wesendonck-Lieder…". Der Rest des Abends sei sang- und klanglos in drei Teile zerfallen. Im ersten werde die These "Theater ist Diktatur" durch "Videobilder aus dem zeitgenössischen Probenbetrieb" untermauert. Im zweiten Teil halte Hegemann eine Vorlesung über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts. Und im letzten Teil liefere Pollesch mit einem nicht funktionierenden Gesellschaftsspiel die Probe aufs Exempel. Als "Maître de plaisir eines Passionsspiels" verteile er "Berufs-, Opfer- und Orgasmuskarten" an professionelle Laiendarsteller und echte Zuschauer: Ein Modell für die "komplizierten und sinnlosen Verabredungen des Repräsentationstheaters" - und wohl auch "ein Blick ins Selbstreflexionslabor". Die Lebens- und Schauspielkunst gipfele hier darin, "in rasendem Tempo ältere Polleschiana über den Grundwiderspruch zwischen Rolle und Mensch, Liebe und Kapitalismus, Burka und Bikini vorzulesen" und mit "spätpubertären Kalauern über Dildos und Schwänze aufzumöbeln".

"René Pollesch und Carl Hegemann arbeiten sich in Mannheim mit einer apart erscheinenden Gedankenvolte an Schillers Spieltheorie ab", so Roland Müller in der Zeit (2.7.2009) in seinem Überblickstext über die Mannheimer Schillertage. "'Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er singt', behaupten sie in ihrem Projekt, das also viel verspricht, aber nichts hält." Weil ihnen Schiller von Herzen unsympathisch ist, "plaudern die beiden Gurus vor Publikum einfach mal drauflos, ein mäanderndes Dramaturgiegespräch, das nicht nur eitel, sondern auch entlarvend ist. Auch Pollesch & Hegemann sind bloß ein Abdruck ihres beschränkten Geschäfts."

Kommentare  
Der Mensch, wo er singt: stimmt das? Ja, stimmt.
War die zusammenfassung aus der süddeutschen nicht heute vormittag ganz anders?

Liebe Frau Luzie,
nein, es ist dieselbe Zusammenfassung, nur ist inzwischen eine weitere Stimme dazu gekommen.
Gruß
nikolaus merck
Pollesch/Hegemann bei den Schillertagen: 2 Versionen
man soll aber nicht übersehen, dass am 24. bzw. 25. zwei völlig unterschiedliche Versionen gespielt wurden, da könnten schon verschiedene Stimmen verschieden Meinungen zu letztlich eben verschiedenen Vorstellungen haben...
Pollesch/Hegemann in Mannheim: immoralische Anstalt
die kritiken von schmidt und halter sind super, von wegen hohn und spott! man sollte noch eine erweckung erwähnen: schiller als immoralische anstalt! aber das konnten die beiden nicht schreiben. dann müßten sie ja alles nochmal lesen, den ganzen schiller.
Pollesch in Mannheim: zu wenig Zeit für Diskurs
ja war aber schon alles in allem schade zu sehen wie ein name auf ein festival gebucht wird, in der hoffnung, dass er seinen diskurs rausholt, und er einfach nur zu wenig zeit und vor allem BOCK hatte, weil halt das popelige nationaltheater nicht hardcore genug ist. da war das interview mit ihm in der dazugehörigen festivalzeitung schon interessanter.
zu mir raunte mein nachbar...dessen zeit ist vorbei...dass finde ich immer schwierig so eine aussage...tatsache war eher, dass er sich hierfür keine zeit genommen hatte.
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