Abschiedsessay an den Vater

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 7. Juli 2009. "Alle seid ihr Löschblätter. Löschblätter. Lösch-blät-ter. Saugt. Saugt. Saugt. Alle." Snezhina Petrova artikuliert "Löschblätter" so, als handele es sich dabei um ein widerliches Insekt. Das Publikum zuckt zurück: Die Protagonistin quetscht mit diesen Worten ihre lang unterdrückten Hassgefühle, ihre Verletztheit, ihre ganze Lebensenttäuschung aus sich heraus.

Eine besonders starke Phase in dem Ein-Personen-Stück "Fuck you, Eu.ro.Pa!", das jetzt in einer Inszenierung des freien Theaterlabels TART-Produktion auf der Bühne des Kooperationspartners Theater Rampe in Stuttgart Premiere hatte. Und ein gutes Beispiel für die deftige, musikalisch durchrhythmisierte Sprache der 1978 im moldawischen Chişinău geborenen und heute dort lebenden Dramatikerin Nicoleta Esinencu. Kein Wunder, dass ihre Bühnensprache – ob im originalen Rumänisch oder wie in Stuttgart ins Deutsche übersetzt – in ihrer packenden Direktheit, Pointiertheit, Realitätsnähe in der westeuropäischen Theaterszene gut ankommt: Seit 2003 wird Esinencu in Deutschland und Frankreich immer wieder gerne mit Stipendien bedacht. So schrieb sie "Fuck you, Eu.ro.Pa!" 2003 in Stuttgart als Stipendiatin der Akademie Schloss Solitude.

Ich muss dir etwas sagen ...

Die Ausgangssituation des Stücks ist eine literarisch bewährte: Der Tod ihres Vaters ist für eine junge Frau der Anlass für einen knapp einstündigen Erinnerungsmonolog. Sie ist aus einem anderen Land zum Begräbnis ihres Vaters in ihre Heimat Moldau zurückgekehrt. "Kein Wort zum Abschied", nein, ein "Essay" wolle ihr Monolog sein, sagt sie, also eine allmähliche Entwicklung der Gedanken aus verschiedenen Perspektiven: "Was hat mir mein Land gegeben?"

"Papa, ich muss dir etwas sagen ...", hebt die Frau immer wieder an und erinnert sich an Episoden aus ihrer zunächst sozialistisch geprägten Kindheit – "In der Schule waren wir alle die Enkel Lenins", "Wer kein Halstuch hat, ist kein Pionier". Sie erzählt vom Erwachsenwerden im postsozialistischen Alltag einer Gesellschaft, die im Umbruch ist: "Und dann fingen wir in der Schule an, mit anderen Buchstaben zu schreiben."

Am Ende der Jugend steht der Verlust der ohnehin zerbrechlichen Identität: "Nicht einmal fluchen kannst du mehr in deiner eigenen Sprache." Hier die Ex-Sowjetrepublik Moldawien: ein Land in der Identitätskrise, bürgerkriegserfahren, in einem desolaten wirtschaftlichen und moralischen Zustand, das ärmste Land Europas. Dort das konsumorientierte Westeuropa: Projektionsfläche für einfach gestrickte Hoffnungen auf ein besseres Leben. Aber das entpuppt sich bald als hohle Versprechung. Keine Orientierung, keine Heimat, keine Perspektive ist möglich.

Heimat und Zugehörigkeit

Was bleibt ist tiefe Trauer über den Verlust einer Heimat und Zugehörigkeit, bei Esinencu völlig pathosfrei formuliert: "Papa, ich hab's nicht gerne in den Arsch. Das erinnert mich an mein Vaterland. Wenn du liebst und es weh tut." Ob Europa für alle seine Länder zum identitätsstiftenden Bezug avancieren kann, bleibt am Ende dieses Stücks mehr als fraglich.

Die bulgarische Schauspielerin Snezhina Petrova spielt den Monolog als eine Gratwanderung zwischen Komik und großem Schmerz, erzählt die Episoden mit viel sarkastischem Unterton, überrascht dann wieder durch plötzliche Stimmungswechsel in tränenfeuchte Verzweiflung. Erstaunlich vornehm, fast im reinen Klang der Laute verschwindend, geraten ihr die vulgären Sentenzen wie "Fuck in die Fotze deiner Mutter" oder "Die ganze Nacht hat er Mama gevögelt".

Schrein mit roten Büchern und Einmachgläsern

Regisseurin Johanna Niedermüller lässt sie die Rolle aus der Perspektive einer beruflich etablierten Frau spielen. Im schicken, hellgrauen Kostüm wartet die Protagonistin am Anfang auf den Beginn einer Pressekonferenz: An Tischen mit Wassergläsern, Mikrophonen und einem EU-Fähnchen. Die Mikrophone nutzt Petrova als zusätzliche Farben in ihrem ohnehin breiten Repertoire an Tonfällen, zwischen denen sie virtuos hin- und herswitcht. Über den Tischen hängt ein großes Bild des toten Vaters, das ein wenig an den aufgebahrten Jesus erinnert, ohne Dornenkrone und Heiligenschein, aber in seiner Nacktheit nur von einem Lendenschurz geschützt. Unter den Tischen erinnern rotfarbene Bücher an sozialistisches Gedankengut und Einmachgläser an die Kindheit.

Snezhina Petrova spielt "Fuck you, Eu.ro.Pa!" in drei Sprachen und in drei Ländern. Vor Stuttgart war das Stück im Mai auf bulgarisch in Sofia zu sehen. Nächstes Jahr wird es Petrova in Luxemburg auf französisch zur Aufführung bringen. "Fuck you, Eu.ro.Pa!" führte im Heimatland der Autorin zu politischen Kontroversen. In Deutschland bringt es ein Land ins Bewusstsein, das in der Bevölkerung so gut wie unbekannt sein dürfte – das überrascht nicht, bedenkt man, dass ein großer Teil der Westdeutschen heute sagt, noch niemals in einem Ort der ehemaligen DDR gewesen zu sein.

FUCK YOU, Eu.ro.Pa!
von Nicoleta Esinencu, ins Deutsche von Helga Kopp
Eine Koproduktion der TART Produktion Stuttgart und des Theater Rampe in Zusammenarbeit mit Red House Sofia und dem TNL Luxembourg.
Regie: Johanna Niedermüller, Raum/Kostüm: Bernhard M. Eusterschulte.
Mit: Snezhina Petrova.

www.tart-sachen.de
www.theaterrampe.de

Mehr zu Nicoleta Esinencu gibt es auf nachtkritik-spieltriebe3.de. Beim Osnabrücker Spieltriebe-Festival wird ihr Stück A (II) RH + im September inszeniert werden. Im Film, der während der Autorenwerkstatt in Juni 2009 entstand, spricht Esinecu über ihr Stück und die Bedeutung, in Europa Theater zu machen.

 

Kommentar schreiben