Die Orestie - Markus Heinzelmanns Open-Air-Inszenierung in Jena
Hallo Mami!
von Ralph Gambihler
Jena, 5. Juli 2007. In Jena sieht die Freilicht-Saison ungefähr so aus: Mit Bier und Pommes sitzt man in einer überraschend ausladenden "Kulturarena", die sich das Theaterhaus seit nunmehr zwölf Jahren – budgetverträglich – von einem eigentlich in Kassel ansässigen Konzertveranstalter vor die Tür setzen lässt. Darin wird allabendlich spektakelt. Außer Sprechtheater gibt es Musik, Film und manches Angebot für Kinder. Das Ganze dauert sieben Wochen und soll 70.000 Besucher anlocken. Die Kontakte zum Wetterdienst werden sich in diesem Jahr wohl festigen.
Bei den Atriden-Müllers-Meiers-Hempels
Aber kann das sein? Die "Orestie" des Aischylos als Sommertheater? Das bluttriefende Gründungsdokument der Demokratie? Tatsächlich! Der Mut des Theaterhauses Jena ist nicht gering. Gewaltig ist er aber auch nicht. Insofern nämlich, als Oberspielleiter Markus Heinzelmann, der als "leitender Regisseur" firmiert, die Tragödie erst einmal kassiert und auf Unterhaltungsformat trimmt, bevor er sie auf die Leute loslässt.
Generell verwendet er einige Mühe darauf, dem Publikum goldene Brücken und Krücken zu bauen. So wird einem gleich zu Anfang im Plauderton der Stoff erklärt, der ja ohnehin die Erzählmuster des Western und der Telenovela vorwegnehme, wie der Programmzettel sekundiert. "Die Opferung ist quasi die Grillparty der Antike." Solche Sachen. Bei den Atriden-Müllers-Meiers-Hempels kommt es eben auch vor, dass die Gattin mit dem griechischen Masseur usw. Die Panik vor Publikumsüberforderung geht allerdings nicht so weit, dass man es an Theaterblut fehlen ließe. Im Gegenteil.
Nette Show
Menetekelnd rot färben sich gleich in der ersten Szene die weißen Oberteile des oftmals nebelumwallten Chors. Dann spritzt ein bestens gelangweiltes, bei der Premiere zum Frösteln verdammtes Völkchen in einer Großstadt-Strandbar (Bühne: Gregor Wickert) aus Spaß mit Venensaft herum, sobald sich die Hitzköpfe keilen. Die beiden dramatischen Höhepunkte von Teil eins und zwei schließlich, Klytaimestras Rachemord an Agamemnon und Orestes’ Rachemord an Klytaimestra, können es beinahe mit einschlägigen Videospielen aufnehmen. Kurz und gut: Der lautstark bejubelte Abend ist leicht verdaulich, ranschmeißerisch und weit davon entfernt, der Drastik und Überwältigungsästhetik von Michael Thalheimers Berliner "Orestie" nachzueifern. Man hält es mehr mit Pathosbrechung und -unterwanderung. Weite Strecken der antiken Familiengeschichte werden als farcehafte TV-Show verheutigt. Glamouröse Kostüme. Große Auftritte. Mikrofon-Gewäsch und dergleichen. Comedy und Revue lassen grüßen.
Dieser Eindruck wird durch das Spiel einer Band verstärkt, die allerlei musikalische Einlagen zwischen Jazz, Rock und Elfenpop à la Björk zum besten gibt. Ein veritabler Gag ist es, Udo Jürgens Schunkelhit "Griechischer Wein" zur Siegerhymne für den Kriegsheimkehrer Agamemnon umzudeuten. Doch die Szene knallt nicht. Sie ist nur nett.
Lässiger Zorn
Das Ensemble spielt dabei auf eindrucksvollem Niveau. Die stärkste Figur stellt Bernhard Dechant auf die Bühne. Sein halbstark aufblondierter Orestes – "Hallo Mami!" – hüllt unbändigen Zorn in Lässigkeit, bevor er nach vollbrachtem Muttermord zum dämonischen Einpeitscher und Demagogen wird. Er erinnert mehr an Karl Moor als an den dänischen Vaterrächer Hamlet. Die Klytaimestra von Saskia Taeger ist eine tendenziell spaßgesellschaftliche Erscheinung zwischen TV-Mietze und Millionärsgattin. Gunnar Titzmann legt seinen Agamemnon zwischen hohlen Siegerposen und papihaften Wutausbrüchen an.
Was die dramatische Substanz betrifft, hält es die Inszenierung mit Aischylos. Der Kreislauf von Rache und Barbarei wird durchbrochen. Die Läuterung zu Zivilität und Rechtstaatlichkeit erfolgt. Wobei die Regie in der süßlich-hoffnungsfrohen Schlussszene die gewendeten Erinnyen mit Kindern besetzt. Schüchtern erfreuen sie sich am Dasein.
Die Orestie
von Aischylos
Regie: Markus Heinzelman, Bühne: Gregor Wickert, Kostüme: Anne Buffetrille, Video: Heiko Kalmbach, Choreographie: Antonio Cerezo, Musikalische Einrichtung: Vicki Schmatolla.
Mit: Bernhard Dechant (Orestes), Saskia Traeger (Klytaimestra), Claudia Splitt (Kassandra), Gunnar Titzmann (Agamemnon), Mathis Julian Schulze (Aigisthos), Daniel Fries (Elektra), Roman Hasselbacher (Pylades), Stefan Hufschmidt (Helgos), Luisa Liebtreu (Chrysothemis), Sarah Jasinszczak (Wächter)
Kulturarena Jena
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