Das Gespräch als Kunstform

von Christian Rakow

22. Juli 2009. Ich habe angefangen, die Heiner-Müller-Interviews wiederzulesen, als ich jüngst auf den kalten Stufen der Berliner Volksbühne auf Restkarten für Tschechows "Möwe" wartete. Tschechow ist mit seinen melancholischen Stücken aus dem vorrevolutionären Russland von 1900 so etwas wie der Säulenheilige unseres Gegenwartstheaters. Ein echter Zeitgenosse für Zagende und Zögernde. Von Müller heißt es demgegenüber, er sei mit seinen kannibalisch finsteren Abgesängen auf die Menschheit von den Spielplänen verschwunden. Die spätbürgerliche Seele mag kein Philosophieren mit dem Holzhammer.

Das stimmt zwar nicht ganz; Müller findet auf deutschen Bühnen tatsächlich immer noch statt. Doch waren die bemerkenswerten Inszenierungen der letzten Jahre, wenn es auf den blutigen Ernst kam, Müller-Verweigerungen: Johan Simons' Münchener "Anatomie Titus" etwa, eine von Bildern bereinigte, hyperdiskrete Theaterselbstbefragung. Oder die behutsam hin improvisierten Sprechstücke des Müller-Weggefährten Dimiter Gotscheff ("Philoktet", "Germania Tod in Berlin"). Oder – natürlich! hier in der Volksbühne! – die grelle Farce der "Hamletmaschine", die Frank Castorf unlängst in seinen furiosen "Kean" einbaute.

Pointen wie Bohrschrauben

Castorf habe Müller als "Unterhaltungsschriftsteller" entdeckt, heißt es in einem Interview der beiden Theatergiganten 1991. Was damals eine verblüffende Entdeckung war, gerät heute zur Gretchenfrage: Ist Müller noch ein Unterhaltungsschriftsteller? Und falls ja, ist er auch mehr? Ich blättere im dritten Gesprächsband der Suhrkamp-Werkausgabe: "Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll" / "Es fehlt ein wahnsinniger Monarch" / "Ich schulde der Welt einen Toten" – viele Interviewtitel lesen sich wie Songs aus dem Diskurspop von Bands wie Tocotronic oder Blumfeld.

Aber Pop steckt bei Müller allenfalls im Outfit: Hornbrille, Lederjacke und unablässig glühende Zigarre ("Wer raucht, sieht kaltblütig aus"). Die verspielte Ironie hingegen und die Pose des weichen Décadents sind ihm fremd. Müllers Pointen dienen als Bohrschrauben. Sie wollen tief dringen, auf den brodelnden Gewaltstrom europäischer Geschichte. "Deutscher sein, heißt Indianer sein" klingt dann eben auch nur auf den ersten Blick nett. Tatsächlich landet man in dem entsprechenden Interview mit dem Wochenblatt "Der Freitag" in den letzten Kriegstagen 1945 und bei der These "Eigentlich hat Hitler den Krieg  gewonnen". Will heißen: Das Prinzip der Selektion ("Für alle reicht es nicht") hat sich mittlerweile global durchgesetzt.

Müllers Brachialdiskurs

Man kennt solche Vergröberungen aus den Interviewstrecken mit Frank M. Raddatz ("Zur Lage der Nation"). Von Auschwitz, dem "Altar des Kapitalismus", sei es nur ein Schritt bis zum Regime von Coca-Cola, wird dort suggeriert. Unterschiedliche politische Formen – Diktatur oder Demokratie – behandelt Müller nurmehr als Anhängsel stets extremer Daseinskonflikte (Tod, Gewalt, Ausschluss). Mit größtmöglicher Distanz, gewissermaßen im Adlerflug, blickt er auf die Geschichte herab. Und von dort aus ähneln Selektionen an der KZ-Rampe schon mal leicht den Härten des modernen Arbeitsmarktes oder den Lockungen der Konsumwelt. Die Feinheiten der Ebene waren des Dichters Sache nicht.

Obsolet sind diese Denkweisen dabei keineswegs. Von Müllers Brachialdiskurs führt eine Linie bis zu neueren Philosophien von Alain Badiou oder Peter Sloterdijk, bei denen sich eine generelle Demokratieskepsis mit dem Lob kompromissloser, avantgardistischer Ästhetiken paart. Für die Selbstermächtigung der Kunst mögen solche Radikalismen wichtig sein. Dass sie politisch viel zu den Fragestellungen der "Postdemokratie" (Colin Crouch) beizutragen hätten, kann nicht behauptet werden. In Belangen der Gestaltung des sozialen Miteinander legt man Müller oder Sloterdijk dann doch beiseite.

Historische Kostbarkeiten

Wie alle 12 Bände der nunmehr abgeschlossenen Suhrkamp-Werkausgabe sind auch die 3 Gesprächsbände chronologisch angeordnet. Das Gros der Interviews entstammt den Jahren zwischen 1985 und 1995. Die Kommentierung ist wie gehabt sparsam. Der Herausgeber, der Berliner Germanist Frank Hörnigk, hat im Ganzen eine bessere Leseausgabe geschaffen. Auf eine – dem Rang des Autors Müller angemessene – historisch-kritische Ausgabe wird man weiter warten müssen. Nichtsdestotrotz gibt es Verdienste. Im fulminanten, aus der Fülle des Nachlasses gespeisten ersten Band (Gedichte, 1998) war Müller erstmals als Lyriker zu entdecken. Nun setzen die Abschlussbände in ihrer Breite (insgesamt knapp 3000 Seiten) noch einmal den rigorosen Dialektiker ins Licht und adeln, ganz nebenher, das Gespräch zur genuinen Kunstform.

Es gibt darin historische Kostbarkeiten, wie die Diskussion in "Sinn und Form" 1966, anlässlich der Kritik an "Der Bau", die Müller auf dem 11. Plenum des ZK der SED widerfuhr. Das ist eine 24-seitige Lehrstunde in kulturpolitischer Diplomatie und Akribie, in der noch kleinste Textdetails in die Waagschale fallen. Von solchen Zeitreisen hätte man sich mehrere gewünscht. Aus den späten Gesprächen mit seinem Adjutanten Frank M. Raddatz oder dem elder statesman Alexander Kluge lugt dann das vertraute Bild des Dichterorakels hervor: Ein jeder Satz in Marmor gemeißelt.

Zeugnisse autonomen Denkens

Am vitalsten erscheint Müller, wenn er aus dem Kreise seiner Vertrauten heraustritt ins Spotlight des modernen Feuilletons (nach 1990). Da prallen bisweilen Welten aufeinander, reiben sich profane Medieninteressen und ein Dichterpathos, das allem und jedem seine historische Weihe geben will. Eine Umbesetzung in seiner Erfolgsinszenierung "Arturo Ui" etwa feiert Müller: "Das ist wirklich zu bewundern, diese preußische Prägung". Dabei hatte Marianne Hoppe (preußische Prägung hin oder her) nur getan, was an deutschen Stadttheatern nicht unüblich ist: kurzfristig eine Nebenrolle übernommen (vom unvergessenen Bernhard Minetti).

Hier steckt viel Witz – und doch auch mehr: Müllers Überhöhungen, so sperrig und unzeitgemäß sie wirken, legen Zeugnis ab von einem mächtigen, autonomen Denken. Noch einmal begegnet man hier einem dunkel lockenden künstlerischen Projekt, das wie keines seit Brecht die deutsche Literatur zu prägen vermochte. Mit Ausnahme von Christoph Schlingensief fehlt unserem Theater heute eine solche ästhetische Manifestation, eine solch unverkennbar eigene, gewaltige Stimme.

 

Der Text erschien zuerst in: Risse – Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern. Nr. 22, Frühjahr 2009, S. 77-79

 

Heiner Müller
Die Gespräche 1965-1995
Herausgegeben von Frank Hörnigk unter Mitarbeit von Kristin Schulz, Ludwig Haugk, Christian Hippe und Ingo Way
Werke Bd. 11-13
Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main 2008
je € 28,00


 

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