Die blaue Wand und das Mehr

von Hartmut Krug

Epidauros, 31. Juli 2009. Hier atmet alles Weite: von der 33. Reihe des griechischen Theaters aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., auf dessen 34 Reihen in der Römerzeit dann noch weitere 21 Reihen gesetzt wurden, geht mein Blick hinab auf die offene, zwanzig Meter breite Bühne, die Orchestra. Und da die Skene, die Eingangshalle dahinter, nicht erhalten ist, kann der Blick weiter schweifen über die bewaldeten Hügel hinaus ins Freie. Die harten Steinsitze strahlen noch die Sonnenwärme des Tages zurück, während sich im Zikadenkonzert allmählich die Dämmerung über das Theater und die Welt legt. Es ist eine eigenartige, schwer zu beschreibende, aufregend beruhigende Atmosphäre, wenn man in Epidaurus auf steilen Rängen inmitten von rund 7000 Zuschauern sitzt.

Dann marschieren sie im Gänsemarsch aus der Tiefe des offenen Raumes hinter der Bühne herbei: der Männerchor der sieben Boten in bunten Sweatshirts und der Klagechor der sieben Frauen, in schwarz. Durch die Seiteneingänge, die Paradoi, betreten sie die sandige Bühne, an deren Rand eine hohe, wie verlorene Wand steht. Mark Lammerts gelbe Wand aus Dimiter Gotscheffs Berliner Inszenierung ist jetzt blau, und sie steht wie eine Drehtür auf einem Stab in der Erde.

Belebung des weiten, offenen Raums

Wenn zu Beginn eine Darstellerin spricht ("another person" nennt das Programmheft diese wie eine Chorführerin oder Erklärerin, vor allem aber als eine Art Bindeglied zwischen den anderen fungierende Figur), mit schwarzem Schal überm weißen Hemd, das eine Bein in der dreiviertellangen Hose nackt, das andere rotbestrumpft, dann stellt sie sich für ihre suchende Klage, für ihr Rufen nach den Persern, die mit ihrem Heer noch nicht vom Kriegszug gegen die Griechen zurück sind, vor die Wand. Dort steht sie, untermalt ihre Worte mit gemessenen, großen Gesten, stampft mit den Füßen auf, dreht die Wand hin und her, damit den Raum verschließend, öffnend oder vermessend, und ruft schließlich den Chor hervor, der mit heftigen Bein- und Armschwüngen gegen die Wand vordringt.

Vom ersten Augenblick an fasziniert, wie Gotscheff mit diesem nahezu handlungslosen Text, diesem Klagegesang über die Opfer des Krieges, dieser wortgewaltigen Reflexion über Krieg und Niederlage, über menschliche Hybris und Gewaltbereitschaf, den weiten, offenen Raum belebt und bespielt. Wie hier die Chöre in den Raum gestellt werden, wie sie ihn füllen, ihn öffnen, wie sie mit kleinen, aber deutlichen Verzweiflungsgesten und -haltungen ihre Texte gliedern, wie sie diese zwischen Flüstern und Schreien erklingen lassen und dabei die innere Anspannung durch konzentrierte Körperspannung ausdrücken, das öffnet den Raum und schließt die Spieler zugleich in ihm ein.

Existenzielles Bedeutungsspiel aus klingender Sprache

Die blaue Wand kann eine Klagewand sein, vor der die Menschen auf die Knie gehen oder in den Sand fallen, sie ist vor allem aber, indem sie immer wieder gedreht wird und die Figuren hin und her treibt, ein klug genutztes szenisches Bewegungselement. Der des Griechischen nicht mächtige Zuschauer, auch wenn er direkt vor der Aufführung noch einmal den Text gelesen hat, vermag allerdings nicht zu sagen, ob es darüber hinaus inhaltliche, textliche Gründe gibt, warum gerade diese oder jene Figur gerade an diesem Punkt diese Wand dreht, die vielleicht auch Metapher für das Meer sein kann, auf dem die persischen Schiffe zerstört wurden.

Wunderbar, wie die Chöre, zugleich vereinheitlicht und individualisiert, in den Raum und die Bedeutungen choreographiert sind. Als keilförmige Marschformation kommen die Boten, um von der Niederlage zu berichten, entsetzt schwärmen die Frauen aus und finden sich wieder verzweifelt zusammen, wenn sie vom Elend erfahren. Fast magisch der Moment, wenn die Königin Atossa, eine schmale, grosse Frau in schwarzer Hose und Pulli, nachdem sie aus den obersten Zuschauerreihen auf die Bühne herabgestiegen ist, dort im Zentrum mit ausgebreiteten Armen ihre Angst herausschreit.

Wer die hohle, pathetische Deklamation von Helen Mirren und ihren Mitspielern vor drei Wochen mit Racines "Phädra" erlitten hat, der kann nur fasziniert staunen, wie Dimiter Gotscheff und seine griechischen Schauspieler den Raum beleben, indem sie ein existentielles Bedeutungsspiel aus klingender Sprache und konzentriert spannungsvoller Gestik komponieren.

Anschwellender Abstrom von Zuschauern

Aus meiner Höhe waren keine Gesichter zu erkennen, aber jede Bewegung, und die wunderbare Akustik trug auch den leisesten Ton hinauf. Goscheff gibt dem Sprachgeschehen einen bewußt langsamen Rhythmus, was das griechische Publikum deutlich forderte und unruhig werden ließ. Während Xerxes, ein graumelierter Elegant, in weißem Hemd und schwarzer Anzughose, sich am Schluss das Hemd vom Leibe riss und, die Fliege auf nackter Brust, sich verzweifelt niederkauerte, während Atossa mit einem sehnsuchtsvollen (Kinder-)Lied ganz langsam wieder die Reihen hinaufstieg, dann schwoll der stetige Abstrom von Zuschauern noch einmal an.

Am Schluss dieser wunderbaren Inszenierung, mit der ich zum ersten Mal erlebte, wie das antike Theater in Epidaurus wirklich er- und bespielt werden, wie hier Theater leben und erlebt werden kann, gab es auch deutliche Unmutsbekundungen.


Die Perser
von Aischylos
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne und Kostüme: Mark Lammert, Licht: Lefteris Pavlopoulos, Sprachtraining: Rinio Kyriazi, Dramaturgie: Elena Karakouli. Mit: Amalia Moutoussi, Minas Chatzisavvas, Nikos Karathanos, Lena Kitsopoulou, Vassilis Andreou, Yorgos Gallos, Dimitris Imellos, Nikos Kouris, Dimitris Papanikolaou, Prodromos Tsinikoris, Laertes Vasileiou, Stefania Goulioti, Alexia Kaltsiki, Kora Karvouni, Syrmo Keke, Rinio Kyriazi, Evi Saoulidou, Elena Topolidou.

www.n-t.gr
www.greekfestival.gr

 

Offenlegungstatbestand
Das "Athens & Epidauros Festival" hat, wie schon letztes Jahr, zahlreiche deutsche Journalisten, vor allem der Printmedien, eingeladen und ihnen Fahrt oder Flug und Übernachtung bezahlt. Unter den eingeladenen Journalisten war auch Hartmut Krug. Das Festival zahlt die Reisekosten.


Mehr lesen? Beim Athens & Epidauros Festival 2009 war auch Johan Simons Genter Inszenierung von Ödon von Horváths Jahrmarkttragödie Kasimir und Karoline zu sehen. Das Britische Nationaltheater zeigte Racines Phädra mit Hellen Mirren in der Titelrolle.