Überwindung der Erdanziehung 

von Charles Linsmayer

Zürich, 21. August 2009. Ein Betrunkener sitzt an der Bar und sieht allmählich nicht nur alles doppelt, sondern fünffach: fünf genau gleiche Bardamen, die aus fünf gleichen Flaschen mit der haargenau gleichen Bewegung fünf Gläser Schnaps einschenken. Und schon nach zwei Gläsern gerät das Ganze vollends aus den Fugen, umschlingen die fünf Grazien den Ahnungslosen wie die Schlangen weiland den Laokoon und bringen ihn auf diese Weise zum Verschwinden, so dass die eine übrig bleibende wirklich reale Barmaid nur noch seine Hose und sein Hemd in Händen hält.

 

Die Szene ist noch eine der einfacheren in dieser Produktion, die mit "Vielfalt" durchaus den richtigen Namen trägt, sind die Traum-, Vexier- und Illusionsbilder, die da präsentiert werden, doch nicht oder nur ganz oberflächlich durch eine Handlung oder einen roten Faden verknüpft, sondern reihen sich wie die Nummern eines surrealen Zirkus in loser und doch irgendwie assoziativ ineinander übergehender Folge aneinander.

Lauter doppelte Böden
Da findet sich ein ahnungsloses, aus dem Zuschauerraum scheinbar zufällig ausgewähltes Paar – der Mann ist Jakop Ahlbom, der Autor und Regisseur –  unversehens in einer etwas heruntergekommenen Bar wieder, wo scheinbar alles stimmt und dennoch überall die wildesten Überraschungen lauern.

Der Mann, der sie auf die Bühne geholt hat, entpuppt sich als virtuoser Zauberer, der Menschen in Kisten verschwinden und ganz woanders wieder herauskommen lässt, der mit einem hochgehaltenen Tuch eine Frau blitzschnell in andere Kleider hineinzaubert, der als Barkeeper die unglaublichsten Tricks beherrscht und immer auch mit von der Partie ist, wenn das Unheimliche überhandnimmt und die fünf Frauen und zwei Männer die unglaublichsten Kapriolen zum besten geben: reihenweise in einem Kanapee versinken, aus dem Lavabo herausgekrochen kommen oder im Fernseher verschwinden.

Versinken und Auferstehen
Einen wunderbar komischen Pas de deux bekommt man da zu sehen, wo die üblichen Ballettfiguren ins Dreidimensionale gesteigert sind und das Paar auf hochgradig akrobatische Weise die Erdanziehung überwunden zu haben scheint. Dann wieder wandelt sich ein Tisch mit einer Früchteschale in eine Frau mit Reifrock und Früchtehut, während unvermittelt ein brennender Mann aus einer Wand tritt, fünf Nachtkäfer ein Lichterballett vorführen oder ein Liebespaar sich rote Kugeln aus dem Mund zieht. Einsamer und fast unglaublicher Höhepunkt ist aber eine Szene, in der nacheinander ein Mann und eine Frau nicht irgendwo aus einer Wand, sondern aus dem Bauch eines anderen Mannes herauskriechen.

Das Potpurri aus Traumbildern, Akrobatik, Varieté und absurden Episoden ist vom 1972 in Schweden geborenen Jakob Ahlbom 2006 in den Niederlanden erstmals gezeigt worden und ist seither mit Erfolg in Europa auf Tournee. Ahlbom hat 1998 die Theaterschule Amsterdam mit dem Top Naeff-Preis für den meistversprechendsten Studienabschluss beendet, und tatsächlich gelingt es ihm mit einer Produktion wie "Vielfalt", bei der eine ganze Reihe anderer Absolventen der Amsterdamer Schule mitwirken, scheinbar spielend eine ganz eigene wortlose Art von Bühnenwirksamkeit zu entfalten, deren Spektrum vom Varieté über die Pantomime und den Zirkus bis zu Elementen des absurden Theaters reicht.

Wundersamer Kinderglaube
Man spürt förmlich, wie lustvoll da das Konventionelle des herkömmlichen Theaters karikiert und verballhornt wird, und es wäre vollkommen falsch, die Produktion mit der gleichen Elle wie eine Premiere bei den Salzburger Festspielen zu messen, statt sich einfach zu einem unterhaltsamen Bühnenspektakel voller Überraschungen und staunenswerten Zaubertricks verführen zu lassen. Was der niederländischen Truppe jedoch auf keinen Fall angekreidet werden kann, ist mangelnde Professionalität.

Was da geboten wird, ist choreographisch perfekt und handwerklich absolut gekonnt umgesetzt, und man kann nur darüber staunen, wie die sieben Protagonisten in Sachen Ballett, Akrobatik und Pantomime gleicherweise und in äußerst präzisem Zusammenspiel zu agieren vermögen. Wäre nicht diese unbedingte Professionalität, so könnte man meinen, eine der Gauklertruppen, die noch im 19. Jahrhundert von Dorf zu Dorf zogen und ihre Kunst zum besten gaben, sei wiederauferstanden und habe sich das Zürcher Theaterspektakel, das seit je der Anziehungspunkt von Akrobaten und Feuerschluckern aller Couleur ist, zum Auftrittsort gewählt, um all denen, die nicht mehr an Zauberei glauben, diesen wunderbaren kindlichen Glauben für eine kurzweilige Stunde zurückzugeben.


Vielfalt
Konzept und Regie: Jakop Ahlbom, Musik: Alamo Race Track, Bühnenbild: Daniël Ament.
Mit: Reinier Schimmel, Silke Hundertmark, Kelly Hirina, Peter Kádár u.a.

www.theaterspektakel.ch
www.jakopahlbom.nl

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