Hilfe, mein Kind ist ein Ambient-Girlie!

von Georg Petermichl

Wien, 9. September 2009. "Mach doch mal was Süßes." Bevor der "Struwwelpeter" so richtig begonnen hat – die sogenannte "Junk Opera" mit Birgit Minichmayr als wandlungsfähige, abendfüllende Singbegleitung – steht Mara Romei in vollem Tatendrang auf der Bühne des Wiener Burgtheaters. Der augenscheinliche MC des Spektakels, Jacques Palminger, hat sich für seine Aufforderung neben sie gekniet. Romei trägt einen Pferdeschwanz, sowie Schuluniform und ist vielleicht mal sieben Jahre alt.

"Wenn die Kinder artig sind / Kommt zu ihnen das Christkind (...) Aber wenn sie immer schreien / Sich nur schlagen und bespeien (...) Dann sind sie nicht gut genug / Für dies schöne Bilderbuch", singt sie inbrünstig. Atmungskampf eines Volksschulkindes. Gedämpfte Synthi Pop-Begleitung der Bühnenband.

Diskurs über das Kindchenschema
Dem Publikum hat ihr Auftritt den Atem gestockt: Denn der "Struwwelpeter" weist typischerweise ins Fegefeuer für die Antiautoritären. Oder aber, der Stoff ist seit der britischen Inszenierung von Phelim McDermott, Julian Crouch bzw. Martyn Jacques und seinen Tiger Lillies für erwachsene Träume voller Horror-Spaß gedacht. Kinder hatten darin nichts mehr verloren, bevor Stefan Pucher seine Antwort auf diesen "Struwwelpeter"-Diskurs formulierte.

Mara Romei ist trotzdem da und sie ist natürlich herzzerreißend. "Du bist aber nicht süß genug", meint Palminger trocken, also mit der verständnisvollen, jovialen Art eines TV-Mediators. Vom Sofa aus fühlen sich die Eltern (Petra Morzé und Michael Masula) eben nicht zugehörig. "Ich will einen Mann. Und ein Kind mit Niveau und Charakter!", hat Morzé zuvor spitz und dünnstimmig als Familiendoktrin erklärt. Romei muss also in die Bühnenversenkung.

Mitten in die Verhandlung von festgefahrenen Familienidealen – in den Diskurs einer starrsinnigen Elternschaft gegenüber dem allgemeingültigen Kindchenschema – platzt der Auftritt von Minichmayr. In Kniehosen, adretter Rüschenbluse und Marilyn-Perücke (Kostüme: Marysol del Castillo) lehnt sie sich ans Standmikro und singt vom Suppenkaspar. Im Hintergrund wird ein Video von einem dunkellockigen Jungen am Familientisch projiziert, der hyperaktiv seine Eltern mit Spaghetti und Bier abfüllt.

Multimediamaschinerie, Rockromanze, Popsentiment
In Stefan Puchers "Struwwelpeter" befindet man sich zusammenfassend also in einer gefräßigen Multimediamaschinerie. Wiederkäuer verbeißen sich am Kindchenschema. Gemessen an der Aufführungsdauer scheint Pucher vornehmlich ein Konzert geplant zu haben. Minichmayr wurde eben erst von "Theater heute" zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Und doch stellt sie den Kontakt zum Publikum ausschließlich als Ambient-Rockgöre her.

Für die Liedertexte, die McDermott/Crouch/Jacques aus dem Original des Biedermeier-Arztes Heinrich Hoffmann (1809-1894) deriviert haben, wechselt sie ihre Kostüme zwischen Pop-Luder und mädchenhaften Sonntagskleidern. Keyboard, Schlagzeug, Bass und Gitarre (Lieven Brunckhorst, Martin Engelbach, Uwe Frenzel und Marco Schmedtje) lassen dabei Klangteppiche der Neo-Neuen Deutschen Welle (von Mia bis Sportfreunde Stiller) erstehen. Zusätzlich bietet Pucher die Schauspielebene an: Ein Elternpaar verfällt dabei ausgehend von aberwitzigen Familienvorstellungen in bestialische Lethargie: Kinder seien wie Holzklötze, meint Michael Masual warmstimmig. Man könne nur vorarbeiten, den Rest beschaffe das Leben.

Spiegelglattes Parkett Familie
In völliger Unabhängigkeit davon bauen Mara Romei und vier Gleichaltrige an einer Welt für verlassene, zu schnell gealterte Kinder. "Meine Mutter war eine Notwendigkeit meines Lebens!" oder "Du musst doch mal lernen, dich von deiner Vergangenheit zu verabschieden!" meinen sie piepsig, während sie auf der Bühne einen Grabhügel aufschütten und mit Blumen schmücken. Über Alledem droht die Videowelt von Meika Dresenkamp als Mischung aus Film- bzw. Dokuzitaten und Originäraufnahmen. Man beobachtet kindliche Drohgebärden, echauffierte Mütter, verklemmte Töchter. Und Palminger, der überdrehte Zeremonienmeister, vermittelt und zappt völlig ungeniert zwischen den Ebenen der Darstellung.

Die Summe dieser aussagekräftigen Oberflächen bleibt von Bühnenbildner Stéphane Laimé auf die Vorderbühne des Burgtheaters zusammengepfercht. Zuckersüß wird wieder populär. Letztlich muss sich dieser Bericht der schier unendlichen Naturgewalt von Stefan Puchers Inszenierungsideen geschlagen geben.

Mit dem "Struwwelpeter" geht ein reines Unterhaltungsfeuerwerk über die Bühne. Hier regiert die Post-Popkultur: Auf dem spiegelglatten Parkett der sozialen Familienprämissen kollidieren neokonservative Biedermeier-Ideale mit daraus resultierenden Girly-Pop-Oszillaten und pseudo-moderner Erziehungspolitik. Die Moral der Geschichte hat sich Pucher gänzlich gespart. Und das bleibt auch ein Manko dieser Aufführung. Das Publikum war aber gänzlich fasziniert.

 

Struwwelpeter
von Julian Crouch, Martyn Jacques, Phelim Mc Dermot
Regie: Stefan Pucher, Musikalische Leitung: Lieven Brunckhorst, Bühnenbild: Stéphane Laimé, Kostüme: Marysol del Castillo, Video: Meika Dresenkamp.
Mit: Birgit Minichmayr, Petra Morzé, Michael Masula, Jacques Palminger.

www.burgtheater.at


Mehr zu Stefan Pucher? Im Januar 2009 inszenierte er Shakespeares Maß für Maß an den Münchner Kammerspielen, im Oktober 2008 Die Perser des Aischylos am Schauspielhaus Zürich. M – Eine Stadt sucht einen Mörder entstand im Juni 2008 am Berliner Maxim Gorki Theater.

Für ihren Wiener Weibsteufel wurde Birgit Minichmayr beim Theatertreffen 2009 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet, für ihre Rolle in Maren Ades Berlinale-Beitrag "Alle anderen" erhielt sie im Februar 2009 den Silbernen Bären als beste Darstellerin. Schon damals redeten sich die nachtkritik-Kommentatoren über sie die Köpfe heiß. Ein Redakteur entdeckte in ihrer Stimme Sound pur.

 

Kritikenrundschau

Ulrich Weinzierl (Die Welt, 11.9.) zieht einen Vergleich mit Matthias Hartmanns Faust-Inszenierung: Puchers "Struwwelpeter" missglückte nicht minder als der "Faust" à la Hartmann: "Dass man sich über Puchers Scheitern weit weniger zu ärgern vermag, liegt einfach am Niveau-Gefälle zwischen dem schlimmen Jungen Peter und dem bösen, sich allerdings strebend bemühenden Gelehrten." Denn der "gute Märchenonkel" Pucher mache aus der Freakshow "eine Art pädagogischen, mit Musik angereicherten Streichelzoo": "Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis." Zudem habe die Regie durch Textergänzungen eine politisch korrekte Botschaft zu verkünden: "Seht her, wie arm sie sind, die Winzlinge, die von ihren strengen, egoistischen Eltern vernachlässigt werden!" Aber "eigentlich" sind zu dieser Premiere "ohnehin alle bloß gekommen, um Birgit Minichmayr zu sehen und zu hören": "Ihr Struwwellieschen ist fast ausschließlich als Chansonette an der Rampe zu erleben, zwischendurch sogar als Rap-Lady. Sie absolviert ihre "Nummern" "tadellos und beeindruckend". Aber, fragt Weinzierl, "wozu der lähmende Rest?"

Auch Norbert Mayer (Die Presse, 11.9.) vergleich die Inszenierung mit Hartmanns Faust, mit dem zweiten Teil: Den habe Hartmannin zu einem "Kinderbuch" gemacht, Pucher dagegen "verwandelt das Kinderbuch "Struwwelpeter" in ein fröhlich-anarchistisches Gesamtkunstwerk". Im Video werde ein Kind "verbal gequält, sogar tätlich angegriffen. Der deutsche Mittagstisch." Und dann: Auftritt Minichmayr, zierlich, schlank, verrucht. "Sie ist der Suppenkaspar und singt über diesen Verweigerer bis zur bitteren Neige." Es bedarf keiner zusätzlicher Bilder, "Minichmayrs raue, volle Stimme genügt". Einmal komme später "ein ostdeutsches Mädchen" zu Wort, das behauptet, "ihre Mutter habe sich nie um sie gekümmert". Sie könnte "Angela Merkel als Twen" sein. Dieser Abend ist alles in allem "unterhaltsam, aber er will uns auch lehren, bessere Erwachsene zu sein".

Zwei Enttäuschungen übermittelt dagegen Martin Lhotzky (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.9.). Die erste: "Der versprochene blutrote Vorhang ist ein weißes Tuch." Die zweite: "Aus dem biedermeierlichen Schauspieldirektor wird ein Talkshowmaster im kleinkarierten Spießeranzug." Und die Eltern, die in der "dünnen Textvorlage" in jeder Szene auftauchen, "gehen unterwegs komplett verloren". Dabei brauch die Horrorshow die "ohnedies schwachbrüstige Umrahmung dringend". Vom Rahmen bleibe nur der Vorname "Bilder". Zu sehr verlasse sich die Inszenierung auf die "Zugkraft" von Minichmayr, die "mit größtem Einsatz" die Liedchen "interpretiert". "Die Musiker sind jedenfalls formidabel, die Inszenierung aber schwächelt arg."

"Eine knapp zweistündige, überaus gelungene, enorm verdichtete Bühnen-Installation rund um den Tatort Familie", hat wiederum Petra Rathmanner (Wiener Zeitung, 11.9.) gesehen. Die "Bankrotterklärung des familiären Zusammenhalts, souverän von Regisseur Stefan Pucher in Szene gesetzt", gleiche aber eher einem Konzert als einem klassischen Theaterabend. Und dass sich Minichmayrs "rauchig-kratzige Stimme bestens für musikalische Interpretationen dieser Art" eigne, habe die Schauspielerin bereits mehrfach bewiesen. Bei Pucher werden "die musikalischen Darbietungen" der Akteurin nun zur "tragenden Säule des Abends" – und Minichmayr "schultert die Aufgabe mit Grandezza".

Stefan Pucher nimmt die Kinder in Schutz, berichtet Thomas Trenkler (Der Standard, 11.9.). Als "Illustration" für diese Absicht dienten aber nicht der Struwwelpeter und all die anderen Figuren, sondern die Videoclips. Und diese "Argumentation greift. Vor allem bei all jenen, die eine (zu) strenge Erziehung ohne Zärtlichkeiten hatten." Die gezeigten Geschichten werden dabei "zumeist nicht dramatisiert: Das Desillusionstheater lässt maximal einen Schneider mit riesiger Schere als Schattenriss zu". Und Birgit Minichmayr gehe auch nicht in Flammen auf: "Sie zieht bloß ihre roten Ballettschuhe aus – und legt sie auf ein Häufchen, das Asche sein soll. Vielleicht deshalb: Weil sie ohnedies brennt." Sie, Minichmayr, "brilliert von der ersten Nummer an – als Chansonette wie als Peitsche schwingende Rocklady".

 

 

 

 

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