Presseschau vom 10. September 2009 - Peter von Becker denkt übers Theater nach
Fluss der Erinnerung
Der große Erfolg von Jürgen Gosch verweist auf einen tiefer empfundenen Mangel in anderen, oft nur kurzfristig akklamierten Interpretationen vor allem älterer Stücke, "deren poetische Komposition, deren abgründige Menschen-Erzählungen und politisch-gesellschaftlicher Anspielungsreichtum verloren gegangen ist", so holt Peter von Becker im Tagesspiegel
(10.9.) aus und denkt anlässlich des Saisonbeginns über das deutsche Theater nach, "das doch als Gedächtniskunst wie sonst keine gilt, aber seine ureigenen Stärken" so leicht vergisst, dass das viele überraschen mag.
"Im Theater, das in Deutschland, Österreich und der Schweiz wie keine andere Kunstart öffentlich gefördert und in der Nachfolge von Aufklärung, Idealismus und linkem Brecht-Erbe noch immer als gesellschaftliche Veranstaltung jenseits der schieren Unterhaltung verstanden wird, in diesem Theater wirkt die erwähnte Unverbindlichkeit und Leere fatal. Auch deshalb will die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste (mit Sitz in Frankfurt am Main) am 5. Oktober im Berliner Maxim-Gorki- Theater eine Konferenz veranstalten zur Frage der 'Marginalisierung des Theaters'." Die Zeit scheint dafür reif zu sein, findet Peter von Becker.
Im Wettlauf mit den aktuelleren, investigativen Medien ziehe Theater allemal den Kürzeren, "wenn es sich nicht mit längerem Atem auf seine eigenen Stärken besinnt." Denn: "Im Zentrum des Schauspiels steht ja, trotz aller Verfremdungen und Dekonstruktionen, noch immer das von lebenden Akteuren verkörperte Drama. Die Stücke handeln von Menschen, von menschlichen Konflikten, und der Mensch ist nun mal eine alte Erfindung. Solange er biotechnisch noch nicht zum Androiden, zur Chimäre oder zum Cyborg mutiert ist, bleibt es bei seinen immer gleichen fünf Sinnen und bleiben die Autoren bei den durch alle Zeiten gleichen, bis heute unerschöpflichen Grundthemen: bei Liebe und Hass, Krieg und Frieden."
Auf diese Voraussetzungen aber lasse sich heute nicht mehr so selbstverständlich bauen. "Im deutschsprachigen Theater hat sich seit einigen Jahren etwas fundamental geändert (...) Viele jüngere oder auch schon mittelalte Regisseure und Regisseurinnen setzen sich immer weniger mit den geschriebenen Texten reibungsvoll auseinander, sondern gleich freihändig über sie hinweg. Stücke sind – mit einem Wort Heiner Müllers – nur noch 'Material', das assoziativ verarbeitet, gemixt und gesampelt wird." Das berge allerdings die Gefahr der schieren Selbstreferenzialität.
Für innere Beglaubigung, nicht äußere Aktualisierung plädiert von Becker und nennt am Ende des Text als Referenzgröße Zadeks "Kaufmann von Venedig": "Finanzkrise? Auch das, damit beginnt es ja. Bei Zadeks Shakespeare-Vergegenwärtigung lag der Rialto an der Wallstreet, aber nicht als äußere Aktualisierung, sondern als innere Beglaubigung einer alten Geschichte in der lebendigen Haut von Schauspielern, von Zeitgenossen: angestiftet von einem Regisseur, der kein 'Diener des Autors' ist (wie ihn sich Daniel Kehlmann wünscht, als gäbe es Diener und Herrn in der Kunst), sondern sein ergründender Interpret. Das zeigt dann: Unter Shakespeares Rialtobrücke fließt der Strom nicht des Vergessens oder des ewig Gestrigen. Es ist, jedes Mal neu, der Fluss der Erinnerung an das, was gestern schon heute morgen ist. Zukunft aus Herkunft. Eine Tragödie, aber auch komisch, gespenstisch modern, zynisch, menschlich. Das Ferne wird plötzlich nah, das Alte wieder neu. So ein Theater lebt weiter. Weil es trifft."
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Genau in diesem Kontext steht für mich die selbstgefällige Attestierung der Marginalisierung des Theaters durch den Tagesspiegel.
das finde ich heute schwierig, denn das ist meiner meinung nach ein total subjektiver punkt, und kunst passiert aus subjektiver wahrnehmung heraus
Ob das dann auch von aussen so wahrgenommen wird, das muss offen bleiben. Müller schreibt dazu: "Und der macht jetzt dem Publikum vor, das er Hamlet ist. Völlig lächerlich. Und was interessant wäre, ist die Differenz von diesem Menschen, der da auf der Bühne steht zur Figur von Shakespeare. Und wenn ich nicht auch noch eine Differenz sehen kann, wenn die nicht mitinszeniert oder mitgezeigt wird, dann ist das ein Analphabetenspaß das Ganze. Das interessiert mich nicht. Ich langweile mich dann ganz schnell."
Spielen vollzieht sich im Bermudadreieck von Körper, Text und Sprache. Langeweile ist tödlich.
weil du eine art theatermessias bist, oder einfach auf alles eine antwort hast?
übst du irgendeinen theaterberuf aus und wenn ja welchen?
"langeweile ist tödlich" -> langeweile wird doch auch individuell sehr unterschiedlich empfunden.
beispiel wilson 7h-abend splittet die, die glauben zu wissen, was langweilige langeweile ist.
Wilson hatte seine Zeit an der alten Schaubühne (zum Beispiel "Death Destruction & Detroit" oder "Orlando"). Inzwischen wird mir in seinen Inszenierungen leider tatsächlich langweilig - und das nicht im Sinne einer produktiven Langeweile, sondern von verlorener Zeit. Zuviel Ästhetizimus.
da hast du mich falsch verstanden.
ich langweile mich da auch manchmal was ich meinte ist langeweile ist subjektiv und kein allgemeingültiges kriterium.
@ jimmy cliff: Und weiter? Was willst du damit sagen? Ich sagte ja bereits, dass es offen bleiben muss, wie jeder einzelne Zuschauer das wahrnimmt, was Regisseur und Schauspieler da bearbeitet haben.