Archäologie der Anekdote

von Wolfgang Behrens

15. September 2009. Vor dem Klappentext muss man warnen. "Der erste Roman des Meisterregisseurs Luc Bondy handelt – vom Theater" liest man da, und das ist schlichtweg falsch. Okay, der Ich-Erzähler Donatey war Mitarbeiter eines bekannten Theaterregisseurs namens Gaspard Nock, und ja, es gibt ein paar Bemerkungen und kleine Geschichtchen das Theatermilieu betreffend – das Ganze indes als Theaterbuch auszugeben, ist Unfug und suggeriert, dass hier einer insiderisch ein paar Anzüglichkeiten über den Betrieb ausplaudern würde. Doch gerade nicht der Plauderton macht dieses schmale Bändchen aus, nicht er verleiht ihm seinen Charme: Luc Bondys "Am Fenster" ist vielmehr im Murmelton geschrieben – und das ist etwas ganz anderes.

Ein nicht alter, aber alternder Mann, ein Mann über sechzig, einer, der sich erst nach ein paar Seiten und nur zögerlich als "Ich" anspricht ("wir könnten sogar ein 'Ich' aus ihm machen, obwohl ich auch sechzig und nicht er bin") – ein Mann also steht am Fenster einer Zürcher Wohnung, in der er mit seiner Freundin lebt, und murmelt vor sich hin. Nach eigenem Bekunden ist seine Daseinsform das Vegetieren. Und weil er aus der Gegenwart kaum noch etwas zu beziehen hat, lässt er sich von der Vergangenheit umtosen – kurz: er erinnert sich.

Mohrrüben unterm Bett

Es ist dies bereits der gesamte Plot des Romans, der – wie die meisten Bücher, auf denen das Wort Roman steht – strenggenommen keiner ist. Aber das ist nicht wenig, denn dem Erinnern, wie Bondy es vorführt, wohnt ein Zauber inne. "Manchmal liegen unter unserem Bett Mohrrüben und Nagellack, auf dem grünen, von meinem Großvater ererbten Fauteuil Geldwährungen aus der Zeit vor dem Euro und eine Flasche Mineralwasser und dazu die alten Illustrierten in der Besenkammer und ein altes, leeres Terrarium mit vertrockneten Pflanzen darin (es stammt aus der Zeit, als ich eine Boa besaß)."

Donatey, der Alternde, beschreibt seine Wohnung mit einem gleichsam archäologischen Blick – die Dinge erscheinen als zusammengetragene, wenngleich zusammenhanglose Fragmente vergangenen Lebens. Auf ebendiese Weise blickt der murmelnde Donatey auch auf die Menschen, die ihm in seinem Leben begegneten: Die Gestalten flackern schlaglichtartig vor seinem inneren Auge auf, in einigen Details sind sie gestochen scharf.

Zugleich bleiben die Figuren Fragmente, fantastische Torsi, die zu ergänzen der Leser eingeladen ist: Hinter jedem erinnerten Charakterzug, hinter jeder Bizarrerie, hinter jeder angerissenen Geschichte öffnet sich der weite Raum des Unerzählten.

Geister der Vergangenheit

Luc Bondy betreibt in "Am Fenster" eine Art Archäologie der Anekdote. Da ist die Mutter des Erzählers, Mathild, die zusammen mit den jüdischen Großeltern nur knapp der Shoah entronnen ist: "Mathild, auf der Flucht mit ihrer Mutter durch Frankreich, brüllte bei jedem Grenzposten die Militärs an, die nach ihren (falschen) Papieren verlangten, und kam so durch", heißt es einmal lakonisch – ein Satz, der ein prägnantes Bild heraufbeschwört und doch alles offen lässt.

Da ist Gaspard Nock, der Regisseur, der nach rauschenden Erfolgen irgendwann passé ist und die Theaterhöchststrafe erleidet: "Er verarmte und arbeitete in Nürnberg, wo Hitler so viel Erfolg gehabt hatte." Da ist Claire, die Ex-Freundin und Kriegsfotografin, die "über Nacht – niemand weiß warum – weiße Haare bekommen" hat. Und da sind der Bildhauer, die Kostümbildnerin, der Arzt, der Anwalt und andere mehr – Geister der Vergangenheit, die vorbeihuschen und doch jeder eine ganze Welt im Schlepptau haben.

Wie der Zufall

"Theaterregisseur" ist in dem Buch, das in einer nahen Zukunft spielt, ein bereits seit 2014 verschwundener Beruf. Und auch ansonsten murmelt Donatey, am Fenster stehend, von Lebensformen und Milieus, die zum Teil vom Aussterben bedroht scheinen: das liberale, altmodisch den Künsten zugewandte Großbürgertum ist eines davon. Von alldem erzählt der Autor Luc Bondy mit leichter Hand, in einem Deutsch, dem oft eine französische Satzmelodie eignet – so auffällig zuweilen, dass man nach dem Lektor rufen möchte, bis man es als Eigenheit akzeptiert (und bis man auf der allerletzten Seite liest, dass Peter Handke als Lektor zu Hilfe sprang).

Einige Male handelt dieses kleine Buch, das nicht vom Theater handelt, dann ja doch vom Theater. Einmal heißt es etwa, dass der Regisseur durch die Erinnerung von Zuschauern lebe, "die einen Unterschied wahrnehmen zwischen einer zufälligen und einer wie Zufall wirkenden Komposition". Das kann man getrost auch auf den Schriftsteller Luc Bondy übertragen: In demjenigen Leser jedenfalls, der den so mäandernden wie vielfach im Ungefähren versickernden Erinnerungsstrom von "Am Fenster" nicht als zufällige, sondern als wie Zufall wirkende Komposition nimmt, wird Bondys Büchlein eine gute Weile weiterleben.

 

Luc Bondy
Am Fenster. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2009.
160 Seiten. 17,90 Euro.

Mehr Buchrezensionen? Helene Varopoulou hat sich in dem Sammelband Passagen Gedanken zum zeitgenössischen Theater gemacht, Thomas Oberender in Leben auf Probe das Geheimnis des Theaters zu ergründen gesucht.

Mehr über Luc Bondy? Im Juni 2008 hat er in Wien Jean Genets Die Zofen inszeniert, im Mai 2007, ebenfalls in Wien, Shakespeares König Lear.

 

 

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