Im freien Fall aus dem Leben

 von Joachim Lange

Hamburg, 17. September 2009. Man könnte fast meinen, in Hamburg gäbe es Ibsen-Tage. Erst am Thalia den "Peer Gynt" und dann, tags drauf im Deutschen Schauspielhaus, seinen späten, 1893 das erste Mal aufgeführten, "Baumeister Solness". Nach dem phantasievoll übersprudelnden Ich-Sucher, der Lebensabschlussmonolog eines heillos in seine Schuldvorstellungen Verstrickten.

Schön für die Hamburger Theaterfreunde, dass sich Jan Bosse im ersten und Martin Kusej im zweiten Fall auf so ganz unterschiedliche Weise den alten, ziemlich modern wirkenden Texten genähert haben, um sie, jenseits möblierter Bühnenbeschaulichkeit, ins 21. Jahrhundert zu hieven. Dabei folgte auf den Sound-Sucher am Thalia Theater der Exerzitien-Meister einer eiskalten Analyse exemplarischer Selbstvernichtung im Schauspielhaus.

Neon und Asche
Für Martin Kusej, diesen Spezialisten für die Nachtseiten der Seele und unnachsichtigen Fahnder nach ihren schwachen, kranken, todestrunkenen Stellen, hat Martin Zehetgruber diesmal einen verdächtig hellen Raum gebaut. Könnte gut die Lobby der Baumeisterhölle sein. Hellgraue Wände ohne Türen. Oben eine Decke mit nichts als 35 Neonröhren. Auf dem Boden voller schwarzer Asche befinden sich sterile Allerwelts-Arbeitstische mit einer Unzahl ewig gleicher, gleichförmiger, partout nicht unterscheidbarer, weißer begehbarer Holzmodelle. Etagen vielleicht, die man auch als Haus kombinieren oder zum Turm schichten kann. Irgendwann setzt sich die Drehbühne wie ein Malstrom in Gang und wird immer schneller. Einmal regnet es kurz schwarze Asche.

Kreativ ist hier wohl schon lange keiner mehr, trotz des offenbar anhaltenden geschäftlichen Erfolges, den Solness hat, seit das Haus seiner Frau abgebrannt ist. Erst diese Katastrophe schuf ihm die freie Bahn für einen beruflichen Aufstieg, bei dem er skrupellos alle Konkurrenten aus dem Weg räumte. Einen davon, den jetzt beim ihm angestellten, alten Knut Brovik (Michael Prelle) demütigt er noch, als der schon vom Tod gezeichnet ist. Und dessen talentierten Sohn Ragnar, den hält er bewusst klein, lobt ihn nie, lässt ihn nichts Eigenes bauen, benutzt seine Beziehung zur Buchhalterin Kaja für seine eigenen sexuellen Gelüste. Ein prophetischer Fall von Mobbing in der Konkurrenzgesellschaft.

Selbstbefragung mit Todesengel
Diese ganze Atmosphäre hat hier aber weniger mit dem Leben zu tun, als mit der Panik vor der Abschlussbilanz. In den knapp zwei Stunden wird es bei Kusej aber dann doch 25 Mal ganz kurz völlig finster. Es sind die Schnitte zwischen den Bildern, die hier mehr Konstellationen einer Selbstbefragung sind. Mit einem glänzenden und seine Vertrautheit mit diesem Regisseur ausspielenden Werner Wölbern in der Titelrolle. Der schafft es dabei tatsächlich unter den zwiebelgleichen äußeren Schichten etwas von den Verhängnissen seines Solness preiszugeben. Als ein in Lebensfurcht und Schuldbewusstsein Versinkender, mit der immer wieder aufbrechenden, betäubenden Gier nach der Buchhalterin Kaja Fossli (Julia Nachtmann als blondes Sekretärinnenklischee) und später nach der in sein Leben einbrechenden jungen Hilde Wangel.

Diese Hilde, der er zehn Jahre zuvor, als sie erst zwölf war, beim Richtfest für den letzten Kirchturm, den er gebaut hat, zu nahe gekommen war, und ein Königreich und ein Schloss versprochen hat, kommt auf den Tag genau zu ihm und fordert die Einlösung dieses Versprechens. Bei Katharina Schmidt changiert diese junge Frau immer wieder zwischen einer fordernd, berechnend verführerischen Göre und einer Art Solness-Prinzip, einer gewalttätigen Unerbittlichkeit. Er redet mit ihr über Dinge, die er mit seiner Frau nicht besprechen kann. Sie kommt daher wie eine autosuggestive Therapeutin. Und ist am Ende doch nur sein Todesengel.

Kaltes Feuer der Analyse
Am Anfang sieht man für Sekunden, wie Solness bei seinem Sturz in den Tod, mit dem das Stück eigentlich endet, in der Luft hängt. Denn obwohl er panische Höhenangst hat, ließ er sich von Hilde zum Unmöglichen einer Turmbesteigung verführen und stürzt ab. Im freien Fall aus dem Leben. Am Ende gibt es diesen letzten Aufstieg und Absturz nur noch in den Augen der anderen. Hier hat ihn Hilde längst getötet.

Kusej setzt auf die erbarmungslos kühle Analyse, legt das Skelett der Obsessionen frei und kümmert sich dabei nur am Rande um die Menschen um Solness. So bleibt Samuel Weiss als Arzt ein Stichwortgeber, auch Marek Harloff als der unterdrückte junge Ragnar ist eher blass, während sich Solness‘ Frau Aline bei Ute Hannig in eine eher spöttische Pflichterfüllungspose flüchtet, um mit dem Verlust ihrer Kinder nach dem großen Brand und den ziemlich offen gelebten Weibergeschichten ihres Mannes irgendwie klarzukommen. Es ist ein anstrengendes, eher analysierendes Stück Theater geworden. Bei dem man sich immerhin am kalten Feuer Werner Wölberns etwas erwärmen kann.

 

Baumeister Solness
von Henrik Ibsen
deutsch von Heiner Gimmler
Regie: Martin Kušej, Bühne: Martin Zehetgruber, Kostüme: Heide Kastler. Mit: Werner Wölbern, Ute Hannig, Samuel Weiss, Michael Prelle, Marek Harloff, Julia Nachtmann, Katharina Schmidt.

www.schauspielhaus.de

 

Mehr über Martin Kušej? Im September 2008 inszenierte der Kärntner Karl Schönherrs Weibsteufel und ward dafür gepriesen, gelobt und schließlich zum Theatertreffen 2009 geladen. Zuvor, im Juni 2007 trat er in München mit einem Woyzeck hervor. Der letzte Baumeister Solness, der bei nachtkritik wenigstens eine ausführlichere Erwähnung fand, wurde im September 2006 aufgeführt, mit Peter Kurth und Anja Schneider in den Hauptrollen. Armin Petras eröffnete damit seine Intendanz am Maxim Gorki Theater Berlin.

 

Kritikenrundschau

"Textnah, spannend, einfallsreich, obendrein ein Spielfest fürs Ensemble," konstatiert Werner Theurich auf Spiegel Online (18.9.) Starregisseur Martin Kušej habe in Hamburg aus der Psychologie der Figuren eine strenge Dramaturgie entwickelt, die zwingend zur Katastrophe führte. "Gleich zu Beginn schwebte Werner Wölbern als Titelheld Solness halsbrecherisch hoch über der Szenerie, ein Vorgriff auf seinen Tod - ein stiller, doch kraftvoller Paukenschlag zu Beginn des Abends. Der Hammer hing hoch, bevor er in den folgenden zwei Stunden konzentriert, aber gnadenlos niedersauste." Das Schauspielhaus habe dem Thallia mit großer Geste den künstlerischen Fehdehandschuh hingeworfen. Für die Theaterlandschaft der Stadt könne das nur von Vorteil sein.

Im Schauspielhaus gab's Beifall wie schon lange nicht mehr," berichtet Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (19.9.). Und das nur einen Abend, "nachdem das Thalia Ibsens Sinnsucher "Peer Gynt", auf die Reise geschickt hatte. Wäre dies ein Wettbewerb, Kusej und das Schauspielhaus hätten ihn gewonnen, denn hier gibt es nicht nur glänzende Schauspieler, sondern auch eine messerscharfe, unnachsichtige, eiskalte Selbstanalyse der in Schuldgefühle verstrickten Personen. Großes Schauspielertheater. Und das darf man am Schauspielhaus durchaus ein Ereignis nennen."

Der österreichische Meister der düsteren Visionen wagt eine radikale Operation in der dramatischen Pathologie, bei der er die Seele des Bausmeisters umstülpt und nicht weniger freilegt, als den Nerv unserer Zeit", schreibt höchst beeindruckt Stefan Grund in der Tageszeitung Die Welt (19.9.). Besonders das "grausame und erlösende Bild am Ende" nahm den Kritiker gefangen, "wenn die anderen um die Leiche stehen und staunend kommentieren, dass der Baumeister trotz seiner Höhenangst nach oben steigt. Aber Solness steigt nicht auf ein Gerüst, er liegt ja tot mitten unter ihnen und so beschreiben die anderen den Weg seiner Seele in den Himmel. Dergestalt legt Kušej in diesem einen Bild mit der Anatomie der Sprache ihren Kern der Raummetaphern frei. Die Obduktion der bürgerlichen Gesellschaft enthüllt ihren Charakter als Produzent einer hohen Dunkelziffer."

Der Architekt ist bei Wölbern zunächst der typische gestresste Kleinunternehmer, "der mit den Händen in den Hüften seine Mitmenschen quält", meint dagegen Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (22.9.). Erst das Auftauchen der jungen Hilde, die Solness als Zwölfjährige leidenschaftlich geküsst, "bringt ihn mit zorniger Ansprache und genauen Beobachtungen dazu, die verklemmten Scharniere seines Gefühlsapparats neu zu bewegen." Doch wie bei Bosse "Peer Gynt" einen Tag zuvor ist aus Brieglebs Sicht auch bei Kušej die Abstraktion der Welt und die Konfrontation mit den Ergänzungsspielern nicht viel mehr, als gut geölte Theaterroutine. "Pflichtauftritte von Stichwortgebern dienen lediglich dem Erzählgerüst, technische Effekte wie ein Ascheregen wirken so dekorativ, als wären sie für 'Frau Holle am Vesuv' erdacht, und das statische Bühnenbild verströmt mit zunehmendem Verlauf klinische Monotonie."


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