Totgesagte leben länger

von Sarah Heppekausen

Düsseldorf, 20. September 2009. "Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus". Mit diesem Satz begannen Marx und Engels 1848 ihr Manifest der Kommunistischen Partei. Sebastian Baumgarten beschwört dieses Gespenst und gibt auch gleich die Begründung per Videoprojektion: "Das Gespenst kennt mehrere Zeiten", zitiert er Derrida vor Beginn seiner Inszenierung von Bulgakows "Sojas Wohnung". Und am Ende wird einer der Geister an die Wand schreiben "Heute ist nicht alle Tage, wir kommen wieder, keine Frage". Ein Phantom stirbt schließlich niemals. Da kann Soja noch so oft auf den auferstandenen Lenin schießen, liegen bleiben wird der nicht.

In Sojas Wohnung lauern nicht nur Lenin, Marx und Engels, da haben auch die Wände Ohren, im Schrank klirren die Gläser, und jedes Mal, wenn es an der Tür klingelt, erstarren alle als bliebe ihnen tatsächlich das Herz stehen. Baumgarten kostet die Schreckgespensterei regelrecht aus, spielt so selbstverständlich mit Bild- und Toneffekten als gehöre ein bisschen Surrealität zum Leben einfach dazu. Bulgakows tragische Farce, die den kapitalistischen Sumpf der sowjetischen Realität zur NÖP-Zeit entlarvt und sprachlich durchaus groteske Züge aufweist, wird so im Düsseldorfer Schauspielhaus zu einem phantastischen Comicfilm mit brillant-bizarrer Besetzung.

Etwas zuviel Morphium
Durchgeknallte sind sie, als hätten sie alle etwas zuviel vom begehrten Morphium geschluckt. Soja (Janina Sachau), die ihre Wohnung tagsüber als Schneiderei für Arbeiterfrauen-Kleidung tarnt, um sie des Nachts als Amüsierlokal zu öffnen, wirft sich mit ihren verfilzten Haaren schmissig um eine Stange, wenn sie das Hinterzimmer betritt. Und entlockt ihr dabei jedes Mal einen Ton wie aus einem Spielautomaten. Ihr Cousin Amethystow kommt nicht mit einem Koffer, sondern mit einem Kühlschrank von seiner langen Reise durch Russland zurück. Engelchen, der chinesische Drogenkurier, wirft mit Knallfröschen um sich und verschwindet dann in dieser Rauchwolke. Und Manjuschka (wunderbar rotzig: Maria Kwiatkowsky) spricht mit der Türsprechanlage als könnten unmöglich echte Menschen vor der Tür warten.

Hier wird getrickst, gelogen und dabei stets die Unschuldsmiene aufgesetzt. Oder die Sonnenbrille, die schützt auch vor verräterischen Blicken. Bulgakow verweist auf Korruption, Spekulation und Betrug, Baumgarten setzt diese Missstände der NÖP-Zeit geschickt und unterhaltsam in Szene. So herrscht auf Thilo Reuthers Bühne permanente Verbrennungsgefahr, und die Fototapeten-Wände lassen sich mir nichts dir nichts vom abrissreifen Zimmer zur schicken Bar umdrehen. Ein Spiel mit dem Feuer, das die zum Teil illegalen Bewohner hier treiben. In der Wohnung Nr. 50, wie Baumgarten Manjuschka behaupten lässt – ein Verweis auf seine vorherige Bulgakow-Inszenierung Der Meister und Margarita am Düsseldorfer Schauspielhaus. Auch dort waren Geister aktiv.

Korruption allüberall
Je länger die Nächte in Sojas Wohnung, desto mehr fließt der Sekt. Und das Wohnen, Arbeiten und Amüsieren wird immer mehr zur Stolperfalle und Rutschpartie. Schnell, aber sicher schlittern Soja und ihre Mitstreiter auf den Abgrund zu. Ihre Sehnsuchts-Stadt Paris werden sie auf diesem Weg allerdings nicht erreichen. Am Ende ist der neureiche Nachbar erstochen, Engelchen und Manjuschka sind mit seinem Geld nach Shanghai geflüchtet, und das Bordell von Geheimdienstlern entdeckt.

Aber in Baumgartens Inszenierung wird niemand verhaftet. Die Verdächtigen dürfen fliehen (bis sie ein Autounfall stoppt) und die Wohnung wird gleich weiter verschachert. Korrupt sind hier eben alle. Bis die Gespenster des Kommunismus wieder auftauchen, von Marx bis Che, in weißer langer Unterhose und mit Pappmasken vor dem Gesicht (Kostüme Ines Burisch). Natürlich haben sie das letzte Wort. "Der Kommunismus ist immer gespenstisch gewesen und wird es bleiben", hat schon Derrida gesagt.

Baumgartens Geisterbeschwörung ist humorvoll, energiegeladen und wäre in der Betonung der magischen Phantastik sicherlich auch in Bulgakows Sinne. Konkrete Ernsthaftigkeit bekommt die Inszenierung durch Videoeinspielungen. Stefan Bischoff zeigt einen Werbefilm der NÖP, Bilder von Panik, Terror und Zerstörung im Schnelldurchlauf und später Putin, wie er über Propaganda der Terroristen erzählt. Und da wird es dann tatsächlich bizarr: Das Stück verlangt ein groteskes, comicartiges Spiel, um über die Absurdität der Wirklichkeit zu sprechen. Glaubwürdigkeit bekommt die Inszenierung aber durch ihre mediale Vermittlung. Fast wie von Geisterhand.

Sojas Wohnung
von Michail Bulgakow
Aus dem Russischen von Thomas Reschke
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Ines Burisch, Musik: Andrew Pekler, Video: Stefan Bischoff. Mit: Janina Sachau, Winfried Küppers, Achim Buch, Maria Kwiatkowsky, Markus Danzeisen, Denis Geyersbach, Viola Pobitschka, Rainer Galke, Julia Holz, Anne Boehmer, Rimma Shalpaeva.

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

Mehr zu Sebastian Baumgarten? Zuletzt inszenierte er im Juni 2009 am Berliner Maxim Gorki Theater Heinrich Manns Professor Unrat, im Dezember 2008 in Frankfurt Camus' Der Fremde und im September 2008 Mozarts Requiem an der Komischen Oper in Berlin.

 

Kritikenrundschau

Moskau zur Zeit der NÖP, alles scheint möglich, doch Sojas Luxus ist futsch, und sie hat nur noch die Wohnung. Um sie zu halten, macht sie einen Betrieb für Berufskleidung auf, unter der Hand werden Raubkopien Pariser Mode angefertigt. "Paris, Paris" war denn auch die Bearbeitung am Deutschen Theater Berlin betitelt, in der Frank Castorf 1988 auf dem Sterbebett der DDR das Stück erstmals auf Deutsch herausbrachte, fasst Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.9.) die Geschichte des Stoffs zusammen. "Bei Castorf ließ das Tschechow-Echo den Ausreisehorizont heller leuchten." Diese Verbindung stelle sich heute nicht mehr her, und so werde Paris im Düsseldorfer Kleinen Haus zur Metapher für einen Fluchtpunkt der Illusionen. "Der Regisseur Sebastian Baumgarten hat ein Faible für Bulgakows dramatische Drehmomente wie auch für die Collageästhetik und Synästhesie-Effekte der russischen Avantgarde". Der Bruchbudenzauber, den er diesmal auf Thilo Reuthers kleiner katastrophenaffiner Totalbühne anzettelt, setze da noch eins drauf, "Blaumann-Satire und Rotlichtmilieuschinken, Gespensterreigen des Kommunismus und Russenfolklore, Slapstick und Salon-Verruchtheit stolpern virtuos ineinander. Knallkopflastig aber werden sie allmählich zum Selbstzweck: Wie das technisch abläuft, interessiert dann mehr als die Figuren. Moskaugummi."

"Baumgarten spielt überbordernd mit optischen Gags", schreibt Günther Hennecke (Kölnische Rundschau, 23.9.), "er bietet mit Filmschnipseln historische Einblicke und treibt die Figuren in die verrücktesten Situationen. Es sei "eine Geisterwelt mit realem Hintergrund, die Bulgakow beschwört und Baumgarten in grelle Bilder umsetzt." Düsseldorf sei damit auf dem besten Weg, Bulgakow "Schneisen ins deutsche Theaterleben zu schlagen. Mit großem Erfolg machte die Bühne am Gustaf-Gründgens-Platz bereits vor einiger Zeit auf Der Meister und Margarita aufmerksam. Nun folgte am selben Ort, im Kleinen Haus, der zweite Streich: "Sojas Wohnung"; eine grelle Farce, die Realsatire und Kolportage grotesk zusammenschmiedet."

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