... weil wir gottgleich sind

von André Mumot

Göttingen, 20. September 2009. Man wünschte sich, es wäre nicht so. Aber das, was sich im klaustrophobischen Studio des Deutschen Theaters Göttingen an diesem Abend abspielt, ist offenkundig das Stück der Stunde. Schließlich findet beinahe zeitgleich mit der Premiere ein Gottesdienst statt, bei dem über tausend Menschen im bayerischen Ansbach für einen jugendlichen Täter und die Opfer beten, die er lebensgefährlich verletzt hat.

Erst wenige Tage ist es her, dass ein 18-Jähriger, mit Molotow-Cocktails und einer Axt bewaffnet, in einer Ansbacher Schule Amok gelaufen ist. Sein Ziel sei es gewesen, heißt es heute, so viele Menschen wie möglich zu töten. Und wie in Erfurt, wie in Winnenden, scheint es noch immer die finstere Strahlkraft jenes Massakers an der amerikanischen Columbine High School vor zehn Jahren zu sein, die junge Männer zu solchen Gewalttaten inspiriert.

"Wir werden Nachahmer haben"
Dylan Klebold und Eric Harris hatten damals in ihrer Schule 12 Kinder, einen Lehrer und dann sich selbst umgebracht. An diesem Abend stehen sie in schwarzen Trenchcoats auf der Bühne, tragen kreisrunde "Natural Born Killers"-Sonnenbrillen und filmen einander gegenseitig, sodass ihre angespannten, fiebrigen Gesichter als übergroße Projektion an einer der Wände aufragen. Und sie sprechen noch einmal die Sätze, die sie uns hinterlassen haben. "Ich hoffe, unsere Videos werden eines Tages auf der ganzen Welt gezeigt", sagt der eine. Und der andere fügt hinzu: "Ich weiß, wir werden Nachahmer haben, weil wir gottgleich sind."

Der Journalist und Schriftsteller Joachim Gaertner hat 25.000 Seiten Ermittlungsakten zum Columbine-Amoklauf ausgewertet und daraus den dokumentarischen Roman "Ich bin voller Hass – und das liebe ich" gemacht, der im März im Eichborn-Verlag erschienen ist. Und auch die Stückfassung des Jungen Schauspiels des Deutschen Theaters Göttingen funktioniert als Collage aus Originalzitaten. Deshalb sitzt das Publikum auch um eine quadratische Spielfläche aus unzähligen Zetteln, Papieren, Kritzeleien und Dokumenten herum – eine Materialsammlung als Teppich für fünf Schauspielerinnen und Schauspieler, die als Eltern und Mitschüler, als Polizisten und unbeteiligte Zeugen sprechen.

"Verbannt in diese ewige Hölle"
Zwei von ihnen, Dominik Bliefert und Lorenz Liebold, bleiben allerdings in ihren Rollen, verkörpern Harris und Klebold, die sich Schritt für Schritt auf ihre Tat zu bewegen und dabei vor allem eins betreiben: konsequente Selbststilisierung. Unentwegt sprechen sie von dem, was sie lieben, und von dem, was sie hassen, arbeiten verbissen und ohne Unterlass an ihrem Ich-Bild. Sie lieben "Rammstein" und den Ego-Shooter "Doom", sie hassen Sportler und Cheerleader, sie bewundern die Nazis, verachten aber Rassisten, beschimpfen Schwule, lesen Nietzsche, hören "Nine Inch Nails" und vertreten das Prinzip der natürlichen Selektion.

Aus Unsicherheit erwachsen Allmachtsfantasien, aus Selbstmitleid Selbstübersteigerung: "Ich bin ein Gott der Traurigkeit", sagt Dylan Klebold, "verbannt in diese ewige Hölle." Im klaren, unaufgesetzten Spiel der beiden Hauptdarsteller erreicht dieses Identitätskauderwelsch beklemmende Glaubwürdigkeit. Tatsächlich fühlt man sich den Tätern nah.

Dass auch dieser Theaterabend damit Gefahr läuft, die fatale Identifikationsattraktivität der Columbine-Attentäter aufs Neue heraufzubeschwören, scheint Regisseur Joachim von Burchard durchaus klar gewesen zu sein. Deshalb verzichtet er klug auf jede reißerische Emotionalität, auch auf Betroffenheitsbekundungen und auf pauschale Erklärungsversuche. Das, was Klebold und Harris auf Internet- und Chatseiten, in Schulaufsätzen, Gedichten, Kurzgeschichten und Videos zum Ausdruck bringen, klingt oft nur kümmerlich und ist nie wirklich weit entfernt von den üblichen Pubertätskrisen. Was die beiden jungen Männer dann schließlich dazu bringt, die letzte Schwelle zu überschreiten und zu Massenmördern zu werden, bleibt hinter ihren pathetischen Worten und den schrecklichen Taten dunkel.

"Sie wollten immer Stars sein"
Das eigentliche Töten, das zum Teil durch ein fortlaufendes Telefongespräch dokumentiert ist, wird am Ende als FBI-Protokoll verlesen. Dieser schwer erträgliche Bericht ist der Höhepunkt eines äußerst differenzierten Kammerspiels, das nicht nur wegen seiner Aktualität verstört, sondern weil es dazu auffordert, den Wahn der Täter nachzuvollziehen, ohne Präventionshoffnungen daraus ableiten zu können. Auf dieser Studiobühne besteht die schlichte, furchtbare Zumutung darin, die Realität der Täter und der Taten zu ertragen. Und sich der Tatsache bewusst zu werden, dass Columbine längst Teil unserer Medien- und Jugendkultur geworden ist, ein Identifikationsangebot, das nicht zurückgenommen werden kann.

Deshalb muss auch das reflektierteste Theater vor sich selbst erschrecken. "Sie wollten immer Stars sein", sagt eine der Schauspielerinnen, bevor das letzte Licht ausgeht. "Wir haben sie dazu gemacht."

Ich bin voller Hass – und das liebe ich
nach dem dokumentarischen Roman von Joachim Gaertner
Stückfassung von Joachim von Burchard und Nicola Bongard
Inszenierung: Joachim von Burchard, Ausstattung: Jeannine Simon, Musikalische Leitung: Jan Exner.
Mit: Imme Beccard, Dominik Bliefert, Jan Exner, Lorenz Liebold, Anna-
Katharina Philippi.

www.dt-goettingen.de

 

Mehr lesen? Thomas Freyer hat sich in seinem Stück Amoklauf mein Kinderspiel ebenfalls mit der Problematik jugendlicher Attentäter auseinandergesetzt.

 

Kritikenrundschau

Der Stoff ist schwierig, aus verschiedenen Gründen, schreibt Peter Krüger-Lorenz im Göttinger Tageblatt (22.9.). Denn die Jugendlichen Eric Harris und Dylan Klebold waren die ersten, die ein Massaker derart präzise und langfristig planten. "Es war auch die erste Tat mit derart verheerendem Ausmaß. Harris und Klebold werden noch heute von einigen Jugendlichen verehrt. Nicht unwesentlich ist dafür neben Internetkommunikation auch Medienresonanz verantwortlich." Heikel also, sich mit diesem Thema theatralisch zu befassen, auch wenn die Intetion des DT-Teams natürlich Aufklärung ist, so Krüger-Lorenz. Drastisch seien auch einige der (Ton-)Dokumente aus den Akten, "eine Lehrerin informiert die Polizei über die Eindringlinge, einer der Täter steht bereits vor der Tür. Wenig später wird er dort Menschen erschießen." Sehr vorsichtig sind von Burchard und Bongard mit dem Material umgegangen. "Sie haben versucht, eine Balance zwischen Information und Theatralik zu finden." Selbst bei der Kostümwahl hat Ausstatterin Jeannine Simon es vermieden, den Tätern zu nahe zu kommen. "Ganz gelungen ist es ihnen allerdings nicht, die notwendige Distanz über die gesamte Spielzeit von gut 100 Minuten zu wahren." Wenn Dominik Bliefert und Lorenz Liebold in die Rollen der Killer schlüpfen, überschreiten sie manchmal die Grenze – eine Entscheidung der Regie. "Sehenswert ist die Inszenierung dennoch, denn sie berührt. Sie wirft Fragen nach den Gründen einer solchen Tat auf, die sie allerdings nicht beantworten kann. Doch wem ist das bis heute, zehn Jahre nach der Tat, schon gelungen?"

 

 

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