Choreografie der Gequälten

von Andreas Wilink

Köln, 26. September 2009. Das Eröffnungsbild kreiert die Stille des Anfangs. Paradiesischen Zustand. Eine Unschuldvermutung. Dann wird es Licht. Das Drama beginnt – und der Zerfall setzt ein. Es "ward eine Finsternis über das ganze Land", sagt Matthäus, Kapitel 27, als auf Golgatha gestorben wird. Der Tod der Cordelia und des Lear behauptet eine ähnliche Wirkung. Aus dem Dunkel, dem noch Ungestalteten, heben sich schemenhaft Körper, die in schwarzen Nebeln zu schwimmen scheinen.

Nur zur Rampe hin, wo eine niedrige Backsteinmauer die Grenze zieht, die später – Schlachtengetümmel ersetzend und übersetzend – zerhauen und geschleift wird, bewegt sich in einem Streifen Helligkeit eine schmale Gestalt. Ihre Stimme, die von den Gipfeln der Verzweiflung herab über die Agonie des Alters und die Schwere der Gattung redet, kommt aus dem Off, während sich ihre Trägerin, Barbara Nüsse, für den Lear bereit macht und einkleidet.

Shakespeare als Elementarereignis

Was mit großer Geste beginnt, kann nicht klein enden. Karin Beiers "König Lear" zur Eröffnung der Spielzeit am Kölner Schauspielhaus hat den Mut, die Konsequenz und den Willen zum Weltdeutungsdrama, das hier ein Weltendedrama meint, in dem das, was ist, nur eine Silbe, eine Sekunde, einen Licht-, Kleider- und Stimmwechsel getrennt ist vom Nichts. Den Zwischenraum – mit der Ver-Nichtung von Ordnung – füllen 140 pausenlose Minuten schmerzhaft intensiv, unfeierlich, unerbittlich, radikal. Bis auf die Knochen freigelegt, lässt die Inszenierung keine Gefallsucht, strapazierte Aktualitätsfloskeln und entleerte Dekonstruktionsformeln zu. Nach diesem Abend weiß man wieder, warum überhaupt man ins Theater geht.

Wir glauben den Raum zu kennen. Er setzt Zeichen, nicht mehr und doch genug, um eine Spiel-Welt zu konturieren und zu imaginieren. Johannes Schütz hat einen seiner Baukästen skizziert, in dessen Leere jeder Gegenstand abstrakt bleibt und doch konkret darstellbar, dynamisierbar und fühlbar wird, jede Form des Menschseins sichtbar und untersuchbar wird. Drei Monate nach Jürgen Goschs Tod tritt eine Regisseurin, wenn zwar mit ihrer ganz anderen Geschichte, ihrer progressiven Entwicklung und besonders ihrer ureigenen Musikalität, das Erbe eines zwingenden Theaters an, richtet den Blick unabwendbar auf die Natur des Humanen und zeigt Shakespeare als Elementarereignis.

Allein unter Frauen geht die Welt zu Grunde

Karin Beier besetzt das Stück rein weiblich: Die Welt geht allein unter Frauen zu Grunde. Sechs Schauspielerinnen in Reifrock und Hosen, in Tweed und bunten Pullundern, ausstaffiert wie für den Club des toten Dichters oder kostümiert für die Zirkusmanege (Greta Goiris), lassen das Niedere und Erhabene umstürzen, sich einander annähern und antithetisch konfrontieren. Sie ergänzen Shakespeares Endspiel um Farben der Groteske, stellen Kontaktstellen zwischen Komik und Katastrophe her und bringen – mit roten Nasen und Narrenpritsche – Beckett und Grock ins Spiel.

Man hat den Besetzungs-Coup bald vergessen, bei dem das Ensemble (mit Ausnahme von Nüsses Lear) doppelt und dreifach das "Fach" wechselt, Überblendungen herstellt und Bruchstellen markiert, so dass etwa Edmund, Cordelia und Narr bei der immens begabten Kathrin Wehlisch eine passagere Existenz zwischen Irrwisch und Intelligenzbestie führen. Gleichwohl legt sich etwas verletzbar Weiches in die Figuren, die die Pein qualvoller, die Verzweiflung ungeschützter, die Grausamkeit brutaler macht, wenn Körper, die gebären und nähren, zugleich den Tod bringen oder ihn erleiden.

Wucht und Zartheit einer Bach-Passion

Im Konfektionsmantel mit Schlips und Anzug, eine Papierkrone auf dem Kopf, teilt Lear sein Reich, erhöht und verdammt. Kurz angebunden, trocken, harsch und kalt: der Machthaber als sturköpfiger Beamter, der vor der Pension steht, bis sein durchs Äußerste zur Erkenntnis gebrachtes Wissen und Gewissen ein Mahnmal des Jammers schafft. Mit nackten Brüsten, rührend mädchenhaft, wahnwitzig heiter, aufs Ursprüngliche geworfen, trotzt die grandiose Barbara Nüsse gewissermaßen a capella, ohne lautes Beiwerk dem Sturm auf der Heide, während aus Schläuchen und Wassereimern Nässe auf sie pladdert.

Lears Erschütterung unter dem Entmächtigungsgesetz, die Notgesänge Gloucesters (Julia Wieninger), dem in einer aufgeputschten Disco-Szene die Blendung widerfährt, die gerissen-gewitzte nietzscheanische Überlebenstechnik Edmunds, der Ichverlust Edgars (Anja Lais), die Verhöhnung des Anstands durch die mörderischen Töchter, gemildert vielleicht durch eine Andeutung früheren Missbrauchs seitens des Besitzer-Vaters, erzeugen einen unheimlichen Bannkreis.

In dieser kaputten, verrohten Welt sind Mordtat, Leichenfledderei und Geschlechtsakt, geile Zurschaustellung und erbarmenswerte Entblößung eins. Die Choreografie der Gequälten und der Quälgeister hat die Wirkkraft eines Goya, erreicht Wucht und Zartheit einer Bach-Passion, wiederholt die formvollendeten Gewalt-Exzesse bei Anthony Burgess und ist doch immer auch Authentizitäts-Performance auf der Höhe und aus den Tiefen der Zeit.

 

König Lear
von William Shakespeare
Deutsch von Rainer Iwersen / Fassung von Karin Beier
Regie: Karin Beier, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Greta Goiris, Musik: Jörg Gollasch, Musikerinnen: Silvia Bauer, Yuko Suzuki. Mit: Barbara Nüsse, Anja Herden, Anja Lais, Angelika Richter, Kathrin Wehlisch, Julia Wieninger.

www.schauspielkoeln.de

 

Mehr lesen? Karin Beier, 1965 in Köln geboren und seit der vergangenen Spielzeit Intendantin am Schauspiel Köln, hat das das dümpelnde Haus im Turbotempo wieder in die Oberliga gespielt. Im Februar 2009 kam am Wiener Burgtheater Caldérons Das Leben ein Traum am Wiener Burgtheater. Im Mai 2008 kam am Schauspiel Köln ihre imponierende Grillparzer-Aneignung Das Goldene Vlies heraus.

 

Kritikenrundschau

"Ein irrer alter Mann, ein wüstes Land." Christian Bos evoziert im Kölner Stadt-Anzeiger (28.9.) dieses "erste" Lear-Bild und meint weiter: "Samuel Beckett fand hier sein Menschenbild." Karin Beier habe nun in ihrer Inszenierung den "König Lear" auf "diese Beckett'sche Grundsituation reduziert. Das ist, zumal zum Saisonauftakt des Kölner Schauspiels, mutig. Und es macht das große Stück nicht kleiner, seine Wahrheiten jedoch umso bitterer." Die Landschaft des Lear – wie Beier sie zeichne – sei "eine von jedem Sinn entkleidete Wüste des Realen, frei von den Sinnzuschreibungen, mit denen der Mensch sich seine Umwelt erst erträglich macht. Weshalb auch die Aufführung für den Zuschauer zur Anstrengung, für manche vielleicht sogar zur Zumutung, wird. Hier gibt es keine durchpsychologisierten Figuren, mit denen man sich identifizieren, an denen man sich festhalten könnte. Barbara Nüsse ist als Lear erst ein schroffer Machtmensch, dann ein verärgerter alter Mann, dann ein nackt umherspringender Irrer, dann ein gebrochener Greis und endlich tot." Das sei "schonungslos, und anders kann man auch Nüsses Spiel nicht beschreiben. Wie schön, wie schrecklich, sie wieder in Köln erleben zu dürfen."

"Das ist das stärkste Frauenstück seit Shakespeares Tagen", schreibt Ulrich Weinzierl (Die Welt, 29.9.). Allerdings: "Den Lear als Hosenrolle, das gab es schon: Weiland Marianne Hoppe, von Robert Wilson dazu angestiftet, ist einst in Frankfurt tapfer Köln voran gegangen." Ob dies ein Fortschritt war, sei aber vorerst mal dahingestellt. Hier jedoch wurde "beträchtlich radikaler" besetzt: "Alle haben sie (...) Frauenkörper." Und "mag sein, die Sache hat irgendwie mit Feminismus und dem Patriarchat zu tun. (...) Allein, die Frage bleibt: Was bringt's?" Nichts, antwortet der Kritiker: "Die All-Female-Version könnte freilich Schule machen, etwa bei "Julia und Julia"." Doch niemand möchte leugnen: Zuweilen gelingen "hübsche Momente und Arrangements voll Bildkraft, in ihrer Einfachheit überzeugend. Trotzdem hat – wie so oft – Loriot das Trefflichste gesagt: Ein Leben ohne Möpse (in des Wortes doppelter Bedeutung) ist möglich, aber sinnlos. Dasselbe gilt für 'Lear' ganz ohne Mann."

Wie Barbara Nüsse den Lear spiele – das sei ein "mimisches Ereignis", schreibt Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (28.9.): "die schnarrende Arroganz und Ignoranz der Macht, die Schrullen des Alters und dann den Irrsinn, der den schmächtigen Leib durchzittert – das sollte man gesehen haben." Karin Beier werfe "Shakespeares Untergangsfresko mit ebenso energischem wie breitem Strich auf Johannes Schütz' fast leere Riesenbühne. Als wär's ein Beckett-Endspiel im Teilchenbeschleuniger." Und sie mische "die Wucht der Jämmerlichkeit mit beherztem Klamauk und schraubt die Inszenierung rasant ins Chaos: Männlein und Weiblein, Könige und Clowns, Blut und Tränen – irgendwann ist das auf diesem Höllentrip einerlei. Das infernalische Getümmel aber hat Risiken und Nebenwirkungen, verschluckt manch intime Einzelszene und lässt die Tragik oft eher exaltiert als intensiv wirken."

"Dass alle Darstellerinnen Frauen sind, scheint für Karin Beiers Inszenierung gar nicht so entscheidend", vermutet Dina Netz auf Deutschlandradio Kultur (26.9.) "Aber dass die Rollen wechseln, sehr. So kann sie zeigen, dass sich die Kategorien Gut und Böse verwischen, niemand nur das eine oder andere ist. Denn das andere Gesicht der herzensguten Cordelia (Kathrin Wehlisch) ist Edmund, der seinen Bruder beim Vater Gloucester anschwärzt. Nur eins haben alle Figuren gemein: Sie sind grotesk bis zur Lächerlichkeit." Dieser "Lear" sei "kein großes Drama, sondern eine große Freifläche für die Schauspielerinnen, die zahllose Nuancen des menschlichen Wahnsinns zeigen können." Karin Beier habe ihrer Regiehandschrift "mit dieser hochphilosophischen und hochselbstreflexiven Inszenierung (...) eine weitere, leuchtende Facette hinzugefügt".


"Shakespeares Drama ist das Drama des Alters", schreibt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (1.10.). Weswegen Karin Beier in ihrer "Lear"-Inszenierung den Abzählreim "Eene mene meck, und du bist weg", zur "närrischen Weltenformel" erhebe. Überdeckt wir für den Kritiker diese Ebene jedoch von der Anstrengung, durch konsequente Frauenbesetzung eine "weibliche Sicht aufs Stück" herauszuklopfen, die sich ihm jedoch nicht erschließt. So bliebe eine "eindrucksvolle, weniger eindringliche Schauspielerverausgabung". Karin Beier "wäre wohl gern Jürgen Gosch". Aber: "Wo bei Gosch Maskeraden und Exzesse intuitiv wirkten, elementar, wirken sie bei Beier gewollt, aktionistisch."

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