Die einsturzgefährdete Leichtigkeit der Rauschkugel

von Otto Paul Burkhardt

Tübingen, 27. September 2009. In der Wahlnacht ein Stück über Alkoholismus anschauen – ob das als subtile Form des Widerstands gegen die dröhnenden TV-Polit-Runden gewertet werden kann, sei mal dahin gestellt. Denn auch das "Paradies" (2004), Alison Louise Kennedys Roman über eine Trinkerin, ist eigentlich eine Hölle. Doch damit sind wir schon mitten drin in der Besonderheit des Plots.

In der handelsüblichen männlichen Trinkerliteratur, in der sich so disparate Autoren wie Joseph Roth, Hans Fallada, Ernest Hemingway und Charles Bukowski treffen, geht es tendenziell schwer, genialwahnsinnig, depressiv, manchmal auch nur dirty oder dumpf-naturalistisch zu. So nicht unbedingt bei der schottischen Erfolgsautorin A. L. Kennedy – deren Antiheldin, die 36-jährige Hannah Luckraft, hat eine gewisse Leichtigkeit: eine Genuss-, eine Humor-, eine Sinnlichkeitstrinkerin, bei der Suff, Witz und Sexualität in guten Momenten noch harmonieren.

Lebenskünstlerin mit Sekundärproblemen

Katja Gaudard zeichnet diese Hannah auch zunächst so, als ob deren Trinksucht die nur leicht entgleiste Form einer ironisch-nonchalanten Lebensart sei. Gaudard fächert hierfür eine ganze Reihe von Tonfällen auf – gibt die muntere Rauschkugel, die stolz ihren geliebten vierzigprozentigen Whisky Marke Bushmills herumzeigt, und die frech plappernde Lebenskünstlerin, die freilich schon eine leicht verzwungene Fröhlichkeit zur Schau stellt. Gleichzeitig wird klar, dass diese Hannah bereits in einem pathologisch fortgeschrittenen Stadium mit Sekundärproblemen des Alkoholismus okkupiert ist – mit der Beschaffung von Stoff und mit der Aufarbeitung von Filmrissen.

Auch das hat noch Witz, wenn Gaudards halbwegs nüchterne Hannah rekonstruieren muss, was ihr anderes Ich, die sturzbetrunkene Hannah so alles wieder angestellt hat. In welchem grausam öden Hotel bin ich, fragt sie sich beim Aufwachen, was ist das für ein Schlüssel in meiner Hand, und wer bittschön ist der hässliche, zottlige Typ neben mir? Gaudard erzählt das in volltrockener Ironie dem Publikum und setzt dabei ihr "Trinkerlächeln" auf, gewohnt, Suffkatastrophen mit Chuzpe zu überspielen. Und irgendwie fällt einem dabei ein, dass die Autorin A. L. Kennedy auch als Stand-up-Comedian aufgetreten ist.

Krankheitsprotokoll im abstrakten Raum

Realismus? Bloß nicht. Lallen und Torkeln? So gut wie nie. Regisseurin Jenke Nordalm, die auch als Theater- sowie Filmautorin arbeitet und schon Prosa von Christa Wolf oder Virginia Woolf für die Bühne inszeniert hat, stellt Hannahs Krankheitsprotokoll in einen abstrakten Gedankenraum (Bühne: Jelena Nagorni). Ab und zu sieht sogar das Publikum Hannah doppelt, real und als Filmprojektion. Und in schlimmen Momenten wirkt der mit weißen Hängeketten umgebene Raum wie ein halluziniertes Sterbezimmer.

Katja Gaudard erfindet ihrer Antiheldin eine Vielzahl innerer und äußerer Stimmen – aufmüpfig, dann wieder traurig-clownesk, oft flapsig, in schlimmen Augenblicken atemlos schnell memorierend: die Sprache als Seismograph für tiefer liegende Verwundungen. Hannah säuft sich übrigens am liebsten mit Robert ins "Paradies", einem ebenfalls alkoholkranken, anderweitig verheirateten Zahnarzt, den Udo Rau (der alle Bezugspersonen und somit Hannahs Umfeld verkörpert) mit einer durchaus lässigen, lustvollen Ruhe ausstattet. Robert habe sie, Hannah, früher mit einem Blick betrachtet, mit dem er sonst wohl "einsturzgefährdete Hochhäuser" angeglotzt hätte, erzählt Katja Gaudards Hannah in routinierter, pointensicherer Selbstironie.

Illusionslose Abwärtsspirale

Immer wieder in der rund 105-minütigen Bühnenfassung des Romans, zu der Jenke Nordalm die markantesten Szenen verdichtet hat, knallen dann doch die Tiefpunkte, die Exzesse, die Totalausraster ins Protokoll und zerdeppern das Psychogramm einer fidelen, toughen Ulknudel-Schluckerin. Harte Momente, in denen Katja Gaudard sehr eindrücklich eine derangierte, würdelos gewordene Hannah zeigt, wie sie sich auf allen Vieren in einer Ecke verkriecht. Wie sie auf den Boden pisst, sich mit Dreck beschmiert und "O Haupt voll Blut und Wunden" brüllt. Und wie sie wieder wachen Widerstandsgeist entwickelt: "Sie reden in der dritten Person über dich, obwohl du dabei bist, als wärst du ein Idiot oder ein Hund."

Das "Paradies" am LTT bleibt wie im Buch eine Abwärtsspirale aus Suff, Entzug und Weitertrinken. Jenke Nordalm erzählt ihre Bühnenfassung des Romans (eine andere wurde 2007 in Essen gespielt) ganz im Kennedy'schen Sinn: Unsentimental und direkt. Schonungslos und unpathetisch. Illusionslos und ohne wohlfeile Sozial- und Ursachenpsychologie. Manchmal mit einer gewissen bockigen, bewusst unkorrekten Leichtigkeit (ohne zu verharmlosen). Mit unbarmherziger Härte und lebensweisem Humor.

 

Paradies
nach dem Roman von A. L. Kennedy
in einer Theaterfassung von Jenke Nordalm
Inszenierung: Jenke Nordalm, Bühne und Kostüm: Jelena Nagorni.
Mit: Katja Gaudard, Udo Rau.

www.landestheater-tuebingen.de

 

Mehr zu Jenke Nordalm? Zu Beginn des Jahres hatte in Aachen ihr Ensemble-Projekt Heut werd ich nicht alt Premiere.

 

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Kritikenrundschau

In der Intimität der Nebenspielstätte könne sich das Publikum "den inneren und äußeren Verwüstungen eines verpfuschten Säufer(innen)lebens kaum entziehen", schreibt Wilhelm Triebold im Schwäbischen Tagblatt (29.9.) über Jenke Nordalms "Paradies". Für ihn ist der Abend ein "packendes, intensives Kammerspiel. Extrem, exhibitionistisch, exzessiv: Der scham- und hemmungslose Ritt auf der Rasierklinge". Bestens geglückt sei die Verfrachtung des Romans auf die Bühne, Nordalms Fassung "tatsächlich ein Theatertext geworden, selbst wo er Erzähltext bleibt". Katja Gaudard erweise sich als "wahrlich grandiose Schauspielerin". Alison Louise Kennedys Protagonistin sei "eine tragische, darin aber eingebettet auch verzweifelt komische Figur". Wie Katja Gaudard das "in eine herb-eckige, knochige Körpersprache umsetzt, ist beeindruckend – bis ins masken- oder fratzenhaft verzerrte Gesicht; ein Mi(e)nenspielfeld, das neben der entstellenden Frohsinnsgrimasse aber auch Regungen tiefster Traurigkeit und Vereinsamung preisgibt". Und weil sie "ganz ohne die üblichen darstellerischen Spiel- und Stilmittel" auskomme, "die einen Trinker sonst halt effektvoll torkeln und auch glasigen Blickes lallen lassen", behalte ihre Hannah immer "einen entscheidenden Bodensatz an Würde". Die Inszenierung verzichte auf solche "Mätzchen, um lieber hinter der Sucht den Sehnsüchten" nachzuspüren.