Eine ganz normale Beschimpfung?

von Dirk Laucke

29. September 2009. Im Moment stehe ich in der Schussbahn, antisemitischer Hetze in meiner Regiearbeit "ULTRAS" keinen Widerspruch gegeben zu haben.

Deshalb eine Darstellung, was da in meiner Inszenierung am Thalia Theater Halle gelaufen ist.

Vor ca. zwei Jahren kam im Präventionsrat der Stadt Halle das Thema Fußballfans des Halleschen FC zur Sprache. Grund dafür sind die immer wieder kehrenden gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei oder gegnerischen Fans, aber auch die "Juden Jena!"-Rufe gegen die Mannschaft und die Fans des FC Carl Zeiss Jena. Der Präventionsrat setzt sich zusammen aus Vertretern der Kirchen, Vereinen, Polizei, der Stadtverwaltung, den Stadträten (also auch der Oberbürgermeisterin), dem Jugendamt und im gleichen Atemzug des Kinder Jugendtheaters Thalia (Intendantin: Annegret Hahn).

Alle Themen, die präventiver Arbeit bedürfen, werden dort diskutiert und angegangen. Wie genau das aussieht, weiß ich nicht. Ich weiß jedoch von einem Aktionsplan 2009, der den Punkt 1.3 enthält: "Es wird eine öffentliche Debatte zu Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit sowie zu Grundwerten wie Toleranz und Demokratie initiiert."

Frau Hahn sprach mich an, ob ich nicht Lust hätte, mich in einer Regiearbeit dem Thema Gewalt in den Fankulturen des Halleschen FC anzunähern. Obwohl ich eine völlige Fußballniete bin, sagte ich zu.

Im Stadion

Ich fuhr also mit meinem Regie-Assistenten Matthias Hlady, selber glühender HFC-Anhänger, und der Projektleiterin Kathrin Westphal zu meinem ersten Fußballspiel: Hallescher FC gegen den SV Babelsberg 03. Wir steuerten direkt auf den Ultra-Block zu, der das Zentrum des Spiels, aber auch der gesamten Konflikte zu sein schien: Dieser teilweise schwarz vermummt auftretende Block unterstützt seine Mannschaft laut heroisierender Selbstaussage "immer und überall".

Im Stadion taten sie dies mit Gesängen, Trommeln, Choreographien (hier mal nicht der Tanz, sondern ein riesiges Transparent), aber auch durch den verbotenen Einsatz von Pyrotechnik... Und falls es "knallt", falls gegnerische Fans ihnen die Zaunfahnen stehlen wollen o.ä. – auch mit Gewalt. Alleine dem ersten Anschein nach hatte ich es mit einer rechten Gruppierung zu tun. Thor Steinar, Masterrace usw. sind für sie normale Modemarken. Wenn das Bier zu teuer ist, sind das "jüdische Preise". Dennoch behaupten die Ultras des Halleschen FC von sich, "unpolitisch" zu sein. Politik habe im Stadion nichts zu suchen. Im Stadion, klar. Sonst verhalten sich die jungen Männer wie es ihnen passt, auch klar. Ich habe diese Haltung als Beobachter erst einmal hingenommen und genau diesen Vorgang in meine Inszenierung eingebaut: Die Zuschauer werden mit diesen teils sich widersprechenden Äußerungen konfrontiert. Es ist ihnen überlassen, weitere Schlüsse auf das Weltbild der Ultras und ihre Brisanz im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu schließen.

Direkt nach dem Spiel sprach ich den kahlgeschorenen, Muckibuden-trainierten Vorsänger ("Capo") der Hallenser Ultras an, was er denn von einem Theaterstück über sie halte. Roco kletterte vom Sicherheitszaun und gab mir seine Nummer. Nach ein, zwei Telefonaten hatte ich einen Termin bei den Ultras. Ich brachte einen Kasten Bier mit und redete Klartext: dass uns als Theater als Erstes interessiert, wie diese jungen Männer ticken, was sie ausmacht, was sie antreibt, was sie sonst so machen, wer sie sind. Ziemlich schnell kamen wir auf die Probleme der Ultras zu sprechen: die Polizei, die Stadionverbote und die Presse.

Wenn der Chef spricht

Nach einigen weiteren Treffen kristallisierte sich eine Gruppe von ca. 11 Leuten heraus, die – so schien es mir – wirklich Interesse an einem Theaterstück hatten. Es kam zur Frage, wer denn nun alles mitmachen darf? Ich sagte: Naja, am besten gleich die, die Bock haben, und das scheint bei euch allen der Fall zu sein. Einer von ihnen wollte nicht auf die Bühne; er machte die Dokumentation

Rausgeschmissen oder ausgeladen habe ich keinen einzigen aufgrund irgendwelcher schauspielerischer oder inhaltlicher Aspekte. Nur einen, den Chef der Ultra-Bande, bat ich, mich mein Ding mit den übrigen Jungs durchziehen zu lassen. Ihn lud ich aus. Das lag an der Autorität, die dieser Typ in seiner Gruppe hat und auch verbal durchsetzt: Wenn er da ist, sprechen die meisten von ihnen anders, weniger offen, weniger spaßig als mir gegenüber. Oder sie kriegen, in Chefchens Beisein, den Mund kaum auf.

Nach Frauen habe ich oft genug gefragt, aber die gab es nicht, sie würden im Ultra-Leben beim HFC eine sekundäre Rolle spielen. Frauen hätten wie Rentner oder Kleinkinder in der Fan-Kurve nichts zu suchen. Falls sie doch auftauchen sollten, hätten sie nichts zu jammern, sondern wie Männer auszuteilen und einzustecken...

Geteilte Lebenszeit

Ich traf mich öfter mit meiner Gruppe am Fanhaus gleich neben dem Kurt-Wabbel-Stadion. Wir einigten uns auf einen Erzählbogen für das Stück – auf drei Spiele der letzten Saison, die vielleicht beispielhaft für die Turbulenzen der Ultras des HFC stehen könnten. Es blieb nicht aus, dass ich versuchte, die meisten Spiele, die noch vor Saisonende blieben, mitzukriegen. Ich war mit den Ultras im Kurt-Wabbel-Stadion und bei Auswärtsspielen.

Erstaunlicherweise habe ich auf meinen Auswärtsfahrten und den langen Diskussionen, die ich mit einigen Ultras führen konnte, feststellen können, dass den meisten Leuten aus der Szene Politik tatsächlich nicht so wichtig ist. Man hat seine Meinung, und die ist zumeist rechts, aber das beschäftigt die Jungs (zum Glück!) nicht so intensiv wie die eine Sache, um die sich alles dreht: das Leder und die verfeindeten Ultras. Das Gelaber jedoch von der "jüdischen Uhrzeit", wenn der Bus zu spät kommt und dass "Synagogen in Deutschland nichts zu suchen" hätten, bleibt.

Durch meine geteilte Lebenszeit mit den Ultras erhielt ich einen genaueren Blick dafür, was die Jungs beschäftigt und wo sie versuchen könnten, ein geschöntes Bild von sich abzugeben. Das Stück, das wir entwickelten, ist dokumentarisch, da es sich 1:1 an die Erlebnisse der einzelnen Protagonisten hält und auch ihre Erzählsicht einbehält.

Unter Theater verstehe ich grundsätzlich, dass der Zuschauer zu eigenem Denken mobilisiert wird. Bei "dokumentarischem" Theater ist dies erst recht der Fall, da die Protagonisten auf der Bühne tatsächlich in ihrer Welt existieren. Mir ging es darum, einen Einblick in die Nische der Ultras zu gewähren. Ich ließ die Protagonisten sich zu den Themen positionieren, die umstritten sind. Jedoch nutzen sie dafür weitestgehend ihre eigenen Mittel, ihre eigene Sprache.

Ich versuchte, eine offizielle, normative Selbstdarstellung zu umgehen, indem ich die Protagonisten privat über ihr Anliegen reden ließ. Wo der eine oder andere Darsteller doch in einen offiziellen Ton schlägt, fällt dies sofort auf. Auch das Bühnenbild und Kostüm von Simone Wildt orientierten sich am Look der Ultras: Rot-weiß sind die Farben des HFC. Schwarz sind die Ultras. Rot-weiß ist die drehbare Tribüne im Bühnenraum.

Improvisationen und Abziehbilder

Die Kostüme wurden zusammen mit den Ultras aus ihrem persönlichen Fundus geschöpft bzw. für die fiktionale Gruppierung "Ultras Halle" entworfen. Fiktional ist diese Ultras-Gruppe deshalb, damit die Protagonisten nicht als Generalbeispiel für die gesamte Ultraszene in Halle herhalten müssen und getätigte Statements für die Individuen in der Gruppe sprechen, aber nicht offizielle Meinung etwa der "Saalefront" oder "Ultras Red White" wiedergeben.

Damit das Ganze nicht so unflott kommt, sondern die Möglichkeiten des Theaters auch nutzt, haben der eigens engagierte Schauspielcoach Richard Barenberg und ich die Jungs zum Spiel motiviert. In Improvisationen schöpften die Ultras wiederum aus sich selbst, diesmal auf einer nicht-erzählerischen Ebene. Die Ultras spielen also auch andere Fans, die "Kutten", aber auch den "Manager" und Polizeibeamte. Natürlich kommen diese Rollen als Zuspitzung ihrer Ansichten daher.

Dennoch erstaunte mich, welche Gegenargumente die Protagonisten zu ihrem eigenen z.T. gewalttätigen Verhalten auf dem Kasten hatten. So wissen sie ganz genau, dass der Verein fünfstellige Summen für die ständige Knallerbsenschmeißerei und Randale blechen muss, und dass das Image leidet...

Damit die Ultras ihr Ding nicht zu sauber auf der Bühne abziehen können und eine Gegenhaltung zu ihnen auftaucht, habe ich das Schlimmste für einen harten Fußballfan überhaupt gemacht: einen Fan vom Erzrivalen, dem 1. FC Magdeburg als Live-Moderator engagiert. Dessen steter Widerspruch soll sie auf der Bühne zur Positionierung zwingen und das Gebaren der Ultras hinterfragen. Ob sie mit der Kritik nun etwas anfangen, ist ihr Bier.

Das Dokumentarische darin liegt für mich im Konflikt, der sich jederzeit auch im Stadion mit anderen Fans ergeben kann, in den Äußerungen der Medien, die bei den Ultras immer wieder für viel Wirbel sorgen und vor allem im Live-Moment: Was passiert, wenn diese beiden Welten aufeinanderprallen?

Als die Ultra-Protagonisten den Fakt "FCM-Fan-auf-der-Bühne" zum ersten Mal leibhaftig vor sich sahen, drohten sie damit, das Stück platzen zu lassen. Nach langen Kämpfen und Hin und Her, "erlaubten" sie den FCM-Fan Michl schließlich, mit ihnen auf der Bühne (naja, zumindest auf einem der beiden Balkone) zu stehen. Steven Michl selbst hat eine sehr intensive Verbindung mit Fußball. Sein Onkel war Nationalspieler und Nationaltrainer der DDR – Fußball spielte bei ihm schon seit frühester Kindheit eine Rolle. Er ist definitiv kein Ultra und bezeichnet diese auf der Bühne als Hooligans, Chaoten, Rechtsradikale...

Der Sportreporter Billy Steinhauer

Aus Schiss vor den Ultras und den Bedenken, er könnte Angriffen aus dem Publikum ausgesetzt sein, bat der Darsteller Steven Michl um die Konstruktion einer Rolle, die nicht so weit weg von seinem normalen Leben ist. Wir gaben ihm den Rollennamen "Billy Steinhauer". Steven Michl ist Journalistik-Student.

Da er hervorragend Fußballspiele moderieren kann, machten wir aus ihm einen Sportreporter und zugleich Sprecher verschiedener Medien. Die Rolle Billy Steinhauer hat – Publikumsreaktionen nach – jedoch ein Manko: Billies Auftreten und Kostümbild. Er trägt Flip Flops, ein offenes Hawaii-Hemd und trinkt pro Abend 2 Dosen Bier. Die kritische Instanz ist selbst moralisch nicht unantastbar. Steven Michl und ich einigten uns auf diese Rolle als coolen, ein wenig runtergekommenen Typen, um eben jene Distanz zu seiner eigenen Person zu schaffen, aber auch, um etwas anderes zu verdeutlichen: Derjenige, der nicht dem Dress-Code der "Ultras" entspricht, kann trotzdem die richtigen Dinge sagen.

"Steinhauer"/Michl tritt auf der Bühne in z.T. improvisierte Interaktion mit den Ultras, wird von diesen – mal als Medienvertreter, mal als FC Magdeburg-Fan – gedisst. Seinen Höhepunkt erreicht dies in der "Juden Jena-Szene." Michl äußert dabei seine eigenen Geschichten und Meinungen, aber auch Meinungen über die Ultras, die wir beide in Diskussionen gewannen. Im Stück taucht der Moderator nach jedem Spiel des HFC auf und beschäftigt sich mit der Frage, was hinter der Fassade Ultra beim HFC eigentlich steht.

Der Vorwurf

Am krassesten entlädt sich die gegenwärtige Kontroverse um den Gegenspieler "Steinhauer" und den Vorwurf, ich hätte antisemitschen Äußerungen freie Bahn gegeben, in den Forderungen der Oberbürgermeisterin der Stadt Halle, das Stück solle geändert oder abgesetzt werden. Zur Premiere hatte Dagmar Szabadoz mir noch mit ihrem Sektglas zugeprostet und mit den Ultras angestoßen...

Ein Anstoß für diese Reaktion war sicherlich auch der Artikel aus der Mitteldeutschen Zeitung von Andreas Montag nach der Premiere: "Zum finalen Skandal kommt es aber, wenn die Ultras von der Bühne verkünden dürfen, der Hass-Ruf 'Juden Jena' sei nicht schlimm, nicht politisch und auch nicht antisemitisch. Denn erstens sei man schon zu DDR-Zeiten damit unterwegs gewesen, ohne dass es jemanden gestört hätte. Außerdem stünde ja auch 'Zigeunerschnitzel' unbeanstandet auf Speisekarten. Das Stück, die Regie findet kein Wort dagegen. Triumphgelächter auf der Bühne, im Saal wird mitgelacht. Da bleibt einem die Luft weg."

Im selben Artikel werden Konsequenzen für die Intendantin des Hauses, Annegret Hahn gefordert, falls das Stück nicht abgesetzt oder geändert werde. Wenig später sprangen die Geldgeber von der Kulturstiftung des Bundes, der Chef der Kultur-Gmbh Halle, Rolf Stiska, und die Oberbürgermeisterin auf den Zug auf.

Zur Richtigstellung: die Figur des Stücks Billy Steinhauer äußert doch ein Wort dagegen.

 

Der Text

BILLY STEINHAUER: Ich begrüße Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, hier im Hallenser Kurt Wabbel Stadion in der Partie des Halleschen FC gegen die Gäste von Sachsen Leipzig. Wir können von einem spannenden Spiel ausgehen... (Aufstellung oder so...)

Im Publikum jedoch ist keinerlei Begeisterung zu spüren. Ähnlich wie nach dem Spiel gegen Carl Zeiss Jena, als Hallenser Fans mit antisemitischen Schmährufen störten, Proteste von Seiten der Ultras.

BILLY: Ähnlich wie bei diesem Spiel gegen Carl Zeiss Jena, als Hallenser Fans...

Proteste von Seiten der Ultras.

BILLY: Ja, was denn nun, ihr habt doch Juden Jena gerufen, oder nicht?

Hier: Ton: Juden Jena wird eingespielt.
Proteste und Gegenstimmen. Die Ultras äußern sich zu dem Thema, wies ihnen passt.

BÖRTI: Das haben schon unsre Väter gerufen. Bei jedem Spiel gegen Berlin hieß es Juden Berlin...

BILLY: Genau. Und eure Opas haben bei jedem Sieg auch noch Heil gerufen. Aber auf Tradition baut ihr ja. Das schöne alte Stadion. Die Tradition... Wie alt seid ihr denn?

TOM: Verstehe überhaupt nicht, was an dem Wort Jude so schlimmes dran sein soll. Das ist halt ne Beleidigung wie jede andere auch. Das wär ja bescheuert wenn man Blödmann oder so ruft.

BILLY: Blödmänner wurden ja auch nicht von Idioten wie euch 6 Millionen mal ermordet. Nee, es waren die Juden. Ihr könnt mir nicht erzählen, dass das Wort überhaupt nicht schlimm ist. Ihr sagt doch, es ist ne Beleidigung.

OBERRÖBLINGEN: In der Speisekarte gibt's ja auch noch Zigeunerschnitzel.

BILLY: Was bitte hat denn ein Zigeunerschnitzel damit zu tun?!

BATKE: Wenn du in Westen fährst, kriegste auch noch so Beleidigungen wie baut die Mauer wieder auf zu hören.

BILLY: Ist das eure Legitmation für antisemtische Hetze oder was?

PANSEN: Jungs, das hat doch keinen Zweck! Die drehns ja doch wie sies wollen. Ich sage nur: Spiel gegen Sachsen Leipzig.

Das Fanprojekt hängt ne Fahne auf:

BILLY: Das Fanprojekt.

PANSEN: HFC-Fans sind weder Rassisten noch Antisemiten. Und dann ruppen wir das Ding ab, weil wir wollen, dass man unsre Zaunfahnen sieht, die drunter hängen. Und die machen draus: Wir ruppen das runter, weil wir Nazis sind.

BILLY: Das Fanprojekt. Warum hat denn das Fanprojekt den Spruch angebracht und nicht ihr? Ihr habt das doch gebrüllt. Und wenns so ist, dass ihr keine Antisemiten seid, warum lasst ihr das Ding mal nicht ein Spiel über hängen? Ein einziges Spiel. Nee, ihr wollt ja eure Zaunfahnen zeigen, die sind ja so schön schwarz weiß rot. Gute deutsche Tradition. Das ist es, woran ihr hängt. Oder sehe ich irgendwo das Gegenteil?

Proteste.

BILLY: Das habt ihr nun davon!

Die Ultras gehen auf Billy los.

BATKE Was solln der Mist?! Das kann doch nicht, sein, dass du uns hier immer so darstellst. Typisch Medien. Juden Jena und das Spiel hier haben überhaupt nichts miteinander zu tun.

BILLY Schon gut, schon gut, hier bitte, nehmt das Mikro. Nehmt die Bühne. Nehmt alles und sagt, was ihr wollt.

Chrille kriegt das Mikro.

CHRILLE Herzlich willkommen bei Radio Ultra. Nachdem Spiel gegen Hannover 96 kam es zur Mobilmachung gegen die Ultraszene des Halleschen FC. Neben einer Flut an Presseartikeln erschien auch noch der Mannschaftsbrief gegen die Ultras mit dem Tenor: Hört auf mit euerm Ultraquatsch! Zusätzlich legte der Verein sich eine Strafe selbst auf, um gut vor dem DFB dazustehen: die Einschränkung der Zuschauerzahlen. Ein Schlag ins Gesicht aller Fans des HFC. Kriegt man da nicht mal Lust, das alles sein zu lassen?

Jeder kriegt mal das Mikro und antwortet (die Mannschaft wechselt, wir bleiben... Erfolg, Misserfolg, wir bleiben...) Jeder, der eine Antwort gesagt hat, verkrümelt sich unauffällig. Als letztes Pansen.

PANSEN (...) Wir stehen zum Club. Bis zum bitteren Ende.

Alle sind weg. Das Video verrauscht.

ENDE--

 

Das Publikum

Das Problem bei der Premiere lag darin, dass die Ultras Gelächter und Beifall für ihre Kommentaren ernteten. Natürlich ist klar, wie sowas zu Stande kommt. Die Ultras bringen ihre Freunde und Verwandten mit, die eventuell ähnliche Ansichten haben oder über die Faux Pas' ihrer Anverwandten hinwegsehen wollen.

Ich habe allerdings auch schon Vorstellungen erlebt, in denen völlig unbeteiligte Leute über das "Zigeunerschnitzel" lachen mussten. Vielleicht ist eben jenes Zigeunerschnitzel genau deswegen so lustig für einige im Publikum, weil es ein so weit hergeholtes, unerwartetes Argument ist. Vielleicht sagt es aber auch etwas über die Einstellungswelt des Publikums aus, in der Rassismus und Antisemitismus durchaus geläufig sind.

Ob dem Publikum, wie den Ultras offenbar auch, allein das Bewusstsein fehlt, oder ob es eine bewusste Entscheidung getroffen hat, andere Menschen herabzuwürdigen – das bleibt in den Köpfen der Leute. Sie sind selbst Teil der Inszenierung geworden. Ihre Zustimmung oder ihr nicht geäußerter Einspruch entspricht der Wirklichkeit der Stadt Halle und auch den Verhältnissen im Stadion. "Die Kurve gehört uns," sagen die Ultras dort. Der Untertitel meines Stückes über sie lautet: "Die Bühne gehört uns."

Die Absicht

Ich habe mit dem Stück beabsichtigt, Menschen aus der Nähe zu zeigen, deren Verhalten in der Masse meist auf Ablehnung stößt: durch martialisches Auftreten, Gewalt und antisemitische Äußerungen. Die Ultras sind trotzdem Individuen und haben Witz, Charme und – in dem Fall – keine schwierige soziale Herkunft. Sie sind nicht wer anders in sozialen Zuständen, die man eh nicht ändern kann, sondern sie sind nah an einem dran, sitzen auf der anderen Seite der Hotline einer Energiefirma, vor uns im Amt oder in irgend einem wissenschaftlichen Institut.

Es liegt am Zuschauer, die geäußerten Ansichten zu teilen oder scheiße zu finden. Wichtig war mir und der Dramaturgin Patricia Nickel-Dönicke deshalb eine Szene, in der Roco, der eingangs erwähnte Vorsänger, das Publikum zum Mitmachen motiviert, es klatschen lässt, es rufen lässt: nichts weiter Provokatives, nur "CHEMIE!" Im gleichen Atemzug taucht der Rest der Ultras aus der Versenkung des Orchestergrabens auf, und es folgt das Auftreten im Fan-Block, wenn's ordentlich kracht. Das krasse Erlebnis für mich: Die Leute haben mitgezogen. Das Publikum hat mitgeklatscht und mitgerufen... Bis die ersten Böller flogen...

Das sagt noch nichts über faschistoide Reflexe beim Publikum aus, aber auf jeden Fall etwas darüber, dass die Ultras und ihre Ansichten zumindest bis dahin von den Anwesenden mit Wohlgefallen betrachtet wurden. Oder aber: dass das kritische Verhältnis zu dem, was oben auf einer Bühne passiert, fehlt.

Die Gespräche

Als Reaktion darauf haben wir nach der Premiere dem Moderator Billy Steinhauer, der ohnehin das Publikum beim Einlass von seinem Balkon aus begrüßt, in der Einlasssituation sagen lassen: "Dies ist ein dokumentarisches Stück." In der Hoffnung, dass eine Sache klar wird... Das Publikum reagiert, sehr wahrscheinlich auch wegen der im Vorhinein gelaufenen Presse und seiner nun durchwachseneren Zusammensetzung, inzwischen ein wenig verhaltener.

Dafür sind die Gespräche nach jeder Vorstellung umso intensiver. Die letzten paar Male dauerten sie länger als die Inszenierung selbst (1 Stunde 20 Minuten) und es geht jedesmal heiß her... Das letzte Gespräch hat mich vom Hocker gehauen. Da waren Fans aus Dresden angereist (eigentlich eine Unmöglichkeit, dass die sich angucken, was die Hallenser so treiben), Presse, Politiker (najut, die ham nüscht gesagt), Fußballfans, Theaterleute, normale Theatergänger, linke Jugendliche... Die haben die Ultras natürlich festgenagelt auf die Frage nach den "Juden Jena"-Rufen, aber sie haben auch das gesamte Stück und das Umfeld zu erfassen versucht – was der Stadt Halle schwer zu fallen scheint.

Schließlich will man da bestehenden Antisemitismus lieber ausblenden und wegschneiden als zu heiß-kalt zu servieren und endlich klaren Tisch zu machen.

 

Dirk Laucke wurde 1982 in Schkeuditz geboren und ist in Halle aufgewachsen. Von 2004-2008 studierte er an der Berliner UdK "Szenisches Schreiben".
Sein Stück alter ford escort dunkelblau (UA 27.September 2007, Städtische Bühnen Osnabrück), war 2007 für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und erhielt im gleichen Jahr den Kleist Förderpreis. Ebenfalls 2007 kürte Theater Heute Laucke zum Autor des Jahres.
Das Dokumentarstück Ultras, das am 18. September 2009 am Thalia Theater in Halle herauskam, ist bereits das dritte Laucke-Projekt an diesem Theater. Im Oktober 2005 gab es im Rahmen des Projekts "Internationale Sommerschule Halle-Neustadt" Lauckes politische Late-Night-Show "Neustaat Halle". Im März 2008 wurde am Thalia Theater in Halle Lauckes Stück für und mit Hallenser Kids Silberhöhe gibts nich mehr uraufgeführt.


Auf nachtkritik.de finden Sie folgende Meldungen zum Thema:

Änderungen an Dirk Lauckes Hallenser Inszenierung "Ultras" gefordert (24. September 2009)

Bundeskulturstiftung distanziert sich von Dirk Lauckes "Ultras"-Projekt in Halle (26. September 2009)

"Ultras"-Diskussionen in Halle ohne Laucke / Bundeskulturstiftung nicht offiziell distanziert (7. Oktober 2009)

 

 

 

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