Eine Art Ost-Botho-Strauß

von Hartmut Krug

Dessau, 2. Oktober 2009. Das Büro ist winzig: nur Tisch und Stuhl, davor eine Batterie von Lautsprechern. Von der Wand strahlen van Goghs Sonnenblumen und auf einem Wandbrett lässt eine revolutionäre Tischfigur die französische Fahne leuchten. Die Chefin der internationalen Jugendherberge in Kühlungsborn klemmt sich hinter ihren Schreibtisch, nutzt das jubelnd hochgereckte Gewehr der Figur als Brieföffner und resümiert über ihr Leben und ihre Arbeit. Dabei befreit sich Ursula Werner aus verdruckster Verlegenheit in scheinbar fröhliche Zufriedenheit.

Wie die Schauspielerin den nüchtern-lakonischen Text dieser Frau durchspielt und durchdenkt, wie sie dessen Untergründe und Brüche ausstellt, wie sie aufblüht ins leuchtende Lächeln, das besitzt gleichermassen Unterhaltungswert wie Wahrhaftigkeit. Kontrolle und Staatssicherheit sind Alltag – diese Frau weiß, dass sie kontrolliert wird und kontrolliert selbst. "Ich weiß doch, was los ist."

Menschen, die ausgeträumt haben

Und so redet sie über Versorgungsprobleme und Kommissionen aus Berlin, über eine ehrgeizige junge Stellvertreterin, über die Küche als Schmuckstück und ideologische Waffe und über die anstehende Abschlussfeier für die französischen Gäste, die hier einen, von der Gesellschaft für Deutsch-Französische Freundschaft veranstalteten Deutschkurs besucht haben.

Einar Schleefs kleine, nur 25 Taschenbuchseiten umfassende Erzählung "Abschlussfeier" ist eine Folge von Monologen einer Chefin und ihrer Mitarbeiterinnen, die in Erinnerungen, Reflexionen und Beschreibungen einen Alltag lebendig werden lassen, der von allgemeiner Kontrolle, von Illusionslosigkeit und Pragmatismus, aber auch von kleinen Sehnsüchten bestimmt ist. Wie Schleef ein kleines Gesellschaftspanorama entwirft, von Menschen, die ausgeträumt haben, die sich eingerichtet haben und doch weiter träumen, das besitzt bestürzende Präzision.

"Abschlussfeier" ist mindestens die dritte Erzählung Schleefs, die Armin Petras (nach "Zigarren" und "Die Bande") auf die Bühne bringt. Während bei Schleef die Erzählungen der Chefin und ihrer Mitarbeiterinnen (die Dolmetscherinnen fehlen bei Petras) beiläufig und still daher kommen, beläßt Petras das Monologische zwar weitgehend, doch treibt er die Berichte in bunt ausschweifende Theatralik und überbetonte Komik. Es wird anspielungsreiche englische und ostdeutsche Rockmusik gespielt, es werden Briefe überm Wasserkocher geöffnet, die kittelbeschürzten Küchenfrauen ergänzen sich in ihren Berichten, als seien sie eine Person, und zur Abschlussfeier wird das Büro vollgestellt mit Grünpflanzen und Tischbannern, während von einer Spieluhr die Internationale erklingt.

Kader und Passanten

Vor allem aber muss das Publikum wandern. Zunächst vom kleinen Studio unterm Dach des neu eröffneten und renovierten "Alten Theater" ins Parterre, wo in einem wilden Partykeller (Bühne: Annette Riedel) die Reste der von Saufen und Ficken bestimmten Abschlussfeier weggeräumt werden müssen. Hier motzt Petras Schleefs Figuren-Charakterisierungen mit vielen bunten Einfällen auf. Julischka Eichel und Sabine Waibel als junge Putzfrauen versuchen, statt der Olsenbande im DDR-Fernsehen das schwedische Programm und mit dem Westprogramm einen Sissi-Film herein zu bekommen und nachzuspielen, und sie dürfen sich nach massivem Bowle-Brüderschaftstrinken sexuell-existentiell miteinander austauschen.

Das sind Szenen mit den von Petras-Inszenierungen gewohnten Spielereien, teils einfallsreich und schauspielerisch herrlich, teils albern langatmig. Schauspielerisch überzeugt der Abend völlig. Hilke Altefrohne spielt die Stellvertreterin als Gegenmodell zur muttihaften Chefin Ursula Werners: im Hosenanzug und mit mißmutiger Fleppe, Kaugummi kauend und so selbstverständlich wie unzufrieden über ihre Staatssicherheits-Kontakte sprechend. Nach Alkoholgenuss, während ein Ostsong "Gib nicht auf" tönt, bricht sie sogar ins tobende "ich halt's nicht mehr aus."

Christel Ortmann und Regula Steiner-Tomic spielen ihre Küchen- und Reinmachefrauen mit wunderbar redseliger Maulfaulheit hinein in eine totale Erschöpfungshaltung. Der Abend endet vor dem Theater auf offener Sandfläche rund um ein kleines Zelt, umrahmt von besetzten Parkbänken, und junge Komparsen arrangieren sich zu einem bunten Gesellschaftspanorama, als sei es eine Art Ost-Botho-Strauß.

Unaufdringlich bestürzende Schilderung

Ein Mädchen mit Krone läuft umher, ein anderes spielt Tennis, ein lesender Junge tritt in ein Wasserloch, und ein Kameramann filmt und wirft seine Bilder auf eine Hauswand. Wenn allerdings eine "wirkliche" alte Frau ihr Fahrrad durch die Bedeutung spielende Menge schiebt, treffen sich Theater und Realität, – und die sinnliche Realität der neugierigen, "echten" Passantin gewinnt. Schliesslich stellen sich zwei Jungen ans Mikro, erzählen von ihren Erlebnissen bei der Abschlussfeier, und die Chefin hat das letzte Wort. Nachdem alle jungen Leute in einen Barkas gestiegen und erst abgefahren und bald darauf wieder zurück gekommen sind, ziehen sie die Herbergs-Mitarbeiter in einer langen Polonaise mit – nur die Chefin bleibt verwirrt und unentschieden sehnsüchtig zurück.

Schleefs unaufdringlich bestürzende Schilderung einer illusionslos träumenden Gesellschaft peppt Petras mit seinen wunderbaren Schauspielern und mit vielen schönen, aber auch mit einigen allzu äußerlich wirkungssüchtigen Einfällen zu einem unterhaltsam-bunten Abend auf: eben zum schnellen Petras-Theater. Das, weil es eine Koproduktion mit dem Berliner Maxim Gorki Theater ist, bald auch in Berlin zu sehen sein wird.

 

Die Abschlussfeier (UA)
nach einer Erzählung von Einar Schleef
für die Bühne bearbeitet von Armin Petras
Regie: Armin Petras, Bühne: Annette Riedel, Kostüme: Karoline Bierner, Video: Niklas Ritter, Dramaturgie: Carmen Wolfram. Mit: Ursula Werner, Christel Ortmann, Regula Steiner-Tomic, Hilke Altefrohne, Julischka Eichel, Sabine Waibel, Dirk Meinhardt, Max Georg Nowak.

www.anhaltisches-theater.de
www.gorki.de

Mehr lesen zu Armin Petras im nachtkritik-Archiv: mit der Dramatisierung von Werner Bräunigs, zu DDR-Zeiten verbotenem Nachkriegs-Epos Rummelplatz brachte Petras im Januar 2009 ein Panorama aus den Gründungsjahren der DDR auf die Bühne des Maxim Gorki Theaters. Im Februar 2009 beschäftigte sich dortselbst das Theaterspektakel Korrekturen mit Geschichten und Stücken aus sechzig Jahren Deutschland.

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (18.11.) schreibt Christopher Schmidt über Armin Petras’ Inszenierung von Einar Schleefs "Abschlussfeier": "Kongenial" sei Petras’ Adaption der 1978 erschienenen Erzählung. Petras sei "als Regisseur" mittlerweile so etwas wie "der Verweser des literarischen Werkes von Einar Schleef auf dem Theater", das könne man ihm "nicht hoch genug anrechnen". Bei "Abschlussfeier" handele es sich um eine "ebenso einfühlsame wie amüsante Beschwörung der Vergangenheit" und ob ihrer "präzisen und zarten Zurückgenommenheit" um "wohl" eine von Petras’ "besten Regiearbeiten überhaupt". Na, Donnerwetter. Die "sexuelle Not der Frauen, die in der Jugendherberge arbeiten", sei neben "der fehlenden Reisefreiheit" das "andere große Thema" in Schleefs Erzählung. Es gehe um "den Mangel an Freizügigkeit in jeder Hinsicht". Ursula Werner als Ferienheim-Chefin koche sich die DDR "buchstäblich schön". Hilke Altefrohne stünden als Stellvertreterin "vor lauter Frust die Haare zu Berge, Sabine Waibel als "enthemmte Gerda" und Julischka Eichel als "gehemmte Gisela" reckten "unzüchtig den Po in die Höhe", um sich gegenseitig anzumachen. "Mal beißen sie sich, mal tanzen sie eng umschlungen, und die Szene ist so toll in ihrer schreiend komischen Tristesse, als hätte es Genets Zofen in den DDR-Plattenbau verschlagen." Der Rausch werde zur "ersatzweisen Entgrenzung in einem Land, dessen Grenzen unüberwindlich sind". Mit "feinen und einlässlichen Mitteln spüren Petras und seine Spieler dem Lebensgefühl der DDR-Jugend nach". An diesem Abend sei "zweierlei evident geworden": Die "friedliche Revolution von ’89 war auch eine sexuelle, und es ist nicht zuletzt der Pop gewesen, der die Verhältnisse zum Tanzen brachte".

Nach der Berliner Premiere von Einar Schleefs "Abschlussfeier" am Maxim Gorki Theater zeigt sich Christine Wahl im Tagesspiegel (16.11.) nachhaltig irritiert darüber, dass in Armin Petras' Bühnenadaption der Schleef-Erzählung "die DDR über weite Strecken wie ein Partykeller mit Kindergeburtstagscharme aussieht". Die "beklemmenden Nuancen" der Vorlage seien "allein im Spiel von Ursula Werner zu sehen, die sich (...) mit Marx-Devotionalie und Exquisit-Sonntagskleid als Leiterin der Gesellschaft vorstellt. Anschließend kotzt Hilke Altefrohne als ihre von der Stasi installierte Stellvertreterin wenigstens noch konsequent den angestauten Lebensüberdruss aus sich heraus. Aber schon nach einer halben Stunde, wenn der Ort gewechselt (...) wird, geht es nicht nur räumlich bergab." Man erlebe dann "seltsam geschichtslose Gestalten, die einem genauso gut in einer Shakespeare- oder Dürrenmatt-Inszenierung von Armin Petras begegnen könnten." Wenn schließlich im dritten Teil "in einer Mischung aus Polonaise und Pop- Gymnastik eine Art ostdeutsch-französische Vereinigungsparty gefeiert" werde, sei "Schleef endgültig erledigt."

Auch 20 Jahre nach dem Mauerfall habe man noch kaum angefangen, sich bezüglich der DDR "in genauerer Erinnerung zu üben", meint Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (16.11.): "Solches Erinnern würde auf Unvereinbarkeiten stoßen: Das Leben ist nie auf einen Nenner zu bringen, auch das DDR-Leben nicht. Man lese Einar Schleef, um davon eine Ahnung zu bekommen." In der Erzählung "Abschlussfeier" gebe es etwa "keine Figur, die auf eine Hintergrundwahrheit festzulegen wäre: Die Stellvertreterin wurde mehr in die Stasi hineingezwungen, als dass sie Spitzel aus Überzeugung geworden wäre, die Chefin ist staatshöriger als ihre Worte glauben machen, die Angestellten sind widerborstiger als sie selbst vorgeben." Die Erzählung habe "so viel Wirklichkeit aufgesogen, dass es für ein ganzes DDR-Panorama reicht." Genau so habe sie Armin Petras auch genommen: "Alles wirkt hier satirisch überzeichnet und beißend realistisch zugleich." Es würden hier "die historischen Begebenheiten nicht wie lustige Bauklötzchen nebeneinander gewürfelt, sondern als einander gleichzeitig ergänzende und widersprechende Ebenen ineinander verschränkt."

Einar Schleefs Erzählung "Abschlussfeier" von 1978 bestehe aus Monologen, erläutert Hans-Dieter Schütt im Neuen Deutschland (5.10.) und macht sich Gedanken über Schleefs erzählerische Stärke: "die Klaglosigkeit und Aushaltezähigkeit der Porträtierten, sich das lebenslange Grau für Momente eines wie immer gearteten Rausches wegzusaufen, wegzuknutschen, wegzufantasieren." Armin Petras wisse bei seiner in Dessau uraufgeführten Bühnenfassung durchaus, "dass aus der Erzählung keine wirkliche Dramatik werden kann. Er treibt die beinahe dokumentarische Tonlage der Schleef-Monologe über Strecken ins Schrille. Er tut es im Verbund mit starken Schauspielerinnen." So wage die Regie etwa in der Szene nach der Abschlussfeier "– und zwar bis zur Strapaze – die Stimmungsschau, eine um sich selbst kreisende Besoffenheit am Grenzübergang zum Kater". Schütt schließt mit den Worten: "Eine Theaterstück-Skizze. Plädoyer für den sogenannten einfachen Lebensentwurf, der sich durch komplizierte Verhältnisse beißen muss. Im Verschleiß das Dasein bejahen – du gehst leutefeundlicher nach Hause."

Schleef und Petras nähmen in "Abschlussfeier" Ort und Personal – eine Jugendherberge an der Ostsee samt Einheimischen und Gästen – "als Mikrokosmos des verdrucksten ostdeutschen Schmerzenlandes – in einer großartigen Balance von Tragik und Komik", schreibt Andreas Montag in der Mitteldeutschen Zeitung (5.10.). "Allen voran, aber bestens begleitet von einem starken Ensemble, trägt Ursula Werner, der Gast aus Berlin, dazu bei. Ihr Auftritt als Heimleiterin macht den Abend zum Ereignis." Sie verkörpere "den ganzen alltäglichen Wahnsinn der versunkenen ostdeutschen Republik: Naive Systemtreue und putziger Stolz, den permanenten Mangel trickreich zu verwalten, treffen auf die Angst, durch die viel jüngere, im Auftrag der Stasi spitzelnde Stellvertreterin (großartig zynisch: Hilke Altefrohne) ausgebremst und weggebissen zu werden." Was über Jahre am Dessauer Schauspiel "oft an Geschwätzigkeit und Langeweile zu ertragen" gewesen sei – man habe es "an einem gelungenen Abend vergessen können".

Nach der Berliner Premiere von Einar Schleefs "Abschlussfeier" am Maxim Gorki Theater zeigt sich Christine Wahl im Tagesspiegel (16.11.) nachhaltig irritiert darüber, dass in Armin Petras' Bühnenadaption der Schleef-Erzählung "die DDR über weite Strecken wie ein Partykeller mit Kindergeburtstagscharme aussieht". Die "beklemmenden Nuancen" der Vorlage seien "allein im Spiel von Ursula Werner zu sehen, die sich (...) mit Marx-Devotionalie und Exquisit-Sonntagskleid als Leiterin der Gesellschaft vorstellt. Anschließend kotzt Hilke Altefrohne als ihre von der Stasi installierte Stellvertreterin wenigstens noch konsequent den angestauten Lebensüberdruss aus sich heraus. Aber schon nach einer halben Stunde, wenn der Ort gewechselt (...) wird, geht es nicht nur räumlich bergab." Man erlebe dann "seltsam geschichtslose Gestalten, die einem genauso gut in einer Shakespeare- oder Dürrenmatt-Inszenierung von Armin Petras begegnen könnten." Wenn schließlich im dritten Teil "in einer Mischung aus Polonaise und Pop- Gymnastik eine Art ostdeutsch-französische Vereinigungsparty gefeiert" werde, sei "Schleef endgültig erledigt."

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