Der ewige Soldat

von André Mumot

Hannover, 4. Oktober 2009. Man sollte meinen, wenn Wolfgang Petry gesungen wird, sei endgültig nichts mehr zu retten. Da stakst nun einer der Soldaten, die eigentlich brandschatzend durch den Dreißigjährigen Krieg ziehen sollen, in Stöckelschuhen über die Bühne und grölt zur "Wahnsinn! Warum schickst du mich in die Hölle?"-Melodie: "Fressen, saufen, huren – huren! huren! huren! Das ist unser Werk auf Erden!" Und wie er so am kahlen hinteren Bühnenrand steht, die Hände beim Singen über den Kopf schlägt und eine imaginäre Meute anfeuert, die ihm nicht antwortet, schleicht sich jenes Gefühl ein, das diesen bitteren Theaterabend von Anfang bis Ende durchdringt: abgrundtiefe Traurigkeit.

Man hätte durchaus anderes erwarten können, wenn der "Simplicius Simplicissimus" fürs Theater adaptiert wird. Schließlich bilden in diesem jüngst in flüssiges Gegenwartsdeutsch übersetzten Barockklassiker endlose Kriegsgreuel den saftigen Hintergrund für eine heiter-derb-moralische Schelmenbiographie. Florian Fiedler aber, der hier seinen Einstand als neuer Hausregisseur des Schauspiels Hannover gibt, setzt den unbedarften Helden in ein postzivilisatorisches Schlachtfeld, auf dem alte Computertastaturen herumliegen und nutzlose Kabel aus den offenen Bodenluken wachsen. Hinten, angeschmiegt an einen kleinen Hügel aus Elektroschrott, sitzen zwei Musiker in Bundeswehruniformen, spielen Gitarre, Flöte, Xylophon oder singende Säge. Die Musik ist häufig heiter, das Personal selten.

Eckpunkte des Verlotterns

Dabei hält sich Soeren Voimas Stückfassung zu Beginn sehr dicht an Grimmelshausens Roman, erzählt von der himmelschreienden Naivität des kleinen Jungen, der bei einem Einsiedler im tiefsten Spessart aufwächst und seine Bildung nur aus der Bibel bezieht. Florian Hertwecks Simplicissimus tritt als vollbärtiger, verfilzter Stauner ins Leben, der unfreiwillig zum Hofnarren der Landsknechte wird und vor allem eins ist: empört über die brutale Primitivität, an die die Zivilisation sich längst gewöhnt hat und die er so gar nicht mit seinen religiösen Lehrsätzen überein bringen kann. "Seid ihr denn Christenmenschen?", brüllt er immer wieder ins Publikum hinein und erntet – erwartungsgemäß – eisiges Schweigen.

Dann aber kommt, was kommen muss. Der reine Tor wird von der Welt korrumpiert, wird selbst zum Opportunisten und Kriegshelden. Grimmelshausen gönnt ihm dafür Hunderte von Seiten voller kleiner Anekdötchen und Episoden, Soeren Voima hingegen muss sich notgedrungen mit Eckpunkten des Verlotterns begnügen. Aber was mit eindringlicher Schärfe und melancholischem Sarkasmus beginnt, zerfällt nun in unübersichtliche Beliebigkeit der Schlacht- und Liebesintermezzi. Geradezu linkisch wirken die Versuche, in diesem oberflächlichen und rasch ermüdenden Reigen szenisch zu skizzieren, wann der Simplicissimus von der einen Kriegspartei zur anderen wechselt, wen er warum heiratet und wodurch sich seine wahre Identität als Adelsspross erweist.

Ein Schelm sieht anders aus

Erst gegen Ende der zweieinhalbstündigen Aufführung stellt sich endlich wieder Verdichtung ein und tröstet über die Durststrecken hinweg. Umworben von liebestollen Französinnen steht der Simplicissimus in Unterhosen an der Rampe und trällert: "Maria durch ein Dornwald ging" – zu dröhnenden Discobeats. Er ist jetzt am Tiefpunkt der Profanität angelangt, und als ihm plötzlich das Mikrofon abgestellt wird, kann er nicht aufhören, sein Lied zu singen, es in steigender Verzweiflung herauszubrüllen.

Im Roman wird sich der Simplicissimus nun reuig von der Welt zurückziehen und dem Leser sehr lange Moralpredigten halten. Hier aber kauert er, der ewige, der prototypische Soldat, bloß auf der Bühne – verzweifelt über seine eigene Verrohung. Und wenn jemand den Kopf aus den Bodenluken steckt, dann schießt er ihn nieder, ohne noch darüber nachzudenken. Nein, ein Schelm sieht anders aus.

Es mag sein, dass Fiedlers Inszenierung als Literaturadaption versagt, weil sie ihrer Hauptfigur die entscheidenden Charakteristika raubt: ihre lässige Unbekümmertheit ebenso wie ihre finale moralische Überlegenheit. Übrig bleibt immerhin die intensive Studie eines Verfalls, der unausweichlich zu sein scheint und direkt in unsere Gegenwart und ihre militärischen Grundsatzfragen vorstößt. Die fröhlichen Flatulenz- und Fäkalienscherze des Barockromans sucht man hier vergebens, auch seine Predigten und seine narrative Größe. Eine untröstliche Klage über den Verlust der Unschuld, mehr kann und will dieser Abend nicht sein. Es genügt.

 

 

Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch
von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen / Soeren Voima
Regie: Florian Fiedler, Bühne: Maria-Alice Bahra, Kostüme: Dorothee Curio, Musik: Martin Engelbach, Frank Wulff.
Mit: Sandra Bayrhammer, Beatrice Frey, Florian Hertweck, Thomas Jansen, Sebastian Kaufmane, Christian Kuchenbuch, Sebastian Schindegger, Andreas Schlager, Martin Engelbach, Frank Wulff.

www.staatstheater-hannover.de

 

Mehr zum "Simplicissimus" von Grimmelshausen? Im Januar 2009 ließ Thomas Dannemann bei der Uraufführung der Theaterfassung von Soeren Voima in Köln die Geschichte goschianisch erzählen. Im Oktober 2007 wurde bei der Ruhrtriennale in Duisburg das ebenfalls von Grimmelshausen inspirierte Stück Courasche oder Gott lass nach von Wilhelm Genazino uraufgeführt.

 

 

Kritikenrundschau

Stefan Arndt ist von Florian Fiedlers Inszenierung enttäuscht. "Das Schauspiel Hannover zeigt eine Bühnenversion von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens lebensprallem und todessüchtigem Roman 'Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch' – und nichts geschieht", schreibt er in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (6.10.). "Zweieinhalb Stunden dreht sich das grausame Panoptikum des Dreißigjährigen Krieges, und dennoch kommt der Abend nicht vom Fleck." Dabei ähnle die Bühnenfassung von Soeren Voima leichthin einem "Kinomassaker" von Quentin Tarrantino. Doch Fiedler, der "ohne Humor und Pathos" inszeniert habe, zeige das Leben und den Tod hier "so flach und grau wie das Bühnenbild von Maria-Alice Bahra". Zu dem "bisschen Theaterzauber", das "den Schauspielern vergönnt" sei, zähle immerhin "die schöne, lakonische Musik, die Martin Engelbach und Frank Wulff als aus der Zeit gefallene Bundeswehrsoldaten vom Bühnenhintergrund beisteuern".

Eva Behrendt
in der Frankfurter Rundschau (7.10.) hingegen findet, dass der "Geschichtspessimismus" schon lange nicht mehr so "grausig und lustig verspielt" ausgesehen habe wie hier bei Florian Fiedler und dem "Simplicissimus" von Grimmelshausen/Voima. Obwohl die "Übertragung des barocken Schreckens in eine apokalyptische Gegenwart" für sie andererseits nichts Zwingendes hat, sondern den Lebensweg des Helden auf ein Stationendrama "herunterbreche". Dem naiven Helden auf seinem Weg durch ein "postindustrielles" "Schlachtfeld" begegne ein "Panoptikum" "seltsam schriller Fabel-und Zwitterwesen", und am Ende sitze er "wieder allein auf dem Schlachtfeld, vor einer Raviolidose, die er mit dem Schürhaken aufgehackt hat. Als "sein alter Landsknecht-Kumpel Oliver auftaucht, erschießt er ihn, ohne hinzusehen."

Nach Ansicht Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (7.10.) fehlt der "disparaten Inszenierung" Fiedlers letztlich "das Organische": "Der Sog eines großen Atems zerfällt in szenische Pusterei." Am Ende jedoch hätte "die dunkle, zivilisationskritische" Grundhaltung dann doch überzeugt. Dass Fiedler nicht das Schelmenstück als solches inszeniert, sondern sich auf die "seelischen Kollateralschäden des Krieges" konzentriert habe: "Wie Simplicissimus, der reine Tor, hier seine Naivität und Unschuld verliert, zielt mit einem finalen Schuss untröstlich in unsere Gegenwart."