Bollywoods formschöne Kronleuchter

von Stefan Bläske

Wien, 5. Oktober 2009. Dramatisch ist er, der Herbst in Wien. Die Werkstatttage für junge Dramatiker am Burgtheater wurden in diesem Jahr zwar ausgesetzt, aber das ist kein Grund, auf das Blätterrascheln herbst-zeitloser und zeitgenössischer Dramatik zu verzichten. Zu Monatsbeginn eröffneten die wiener wortstaetten ihr Festival Roter Oktober mit der Uraufführung "Mein Wien", Ende September lud das Reinhardt-Seminar erstmals zu seinem neuen Festival Dramatisches Erzählen Heute.

Gestern ging's zu Ende, dieses Autorenfestival ohne Jury, ohne Preisvergabe, ja letztlich ohne Autorenförderung. Viel eher fördern die Autoren das Festival, stellen ihre Texte und bekannten Namen zum lauten Werbetrommelrühren zur Verfügung. "Franzobel, Daniel Kehlmann, Matthias Wittekindt, Nino Haratischwili und Volker Schmidt, sowie der große Euripides. Das legendäre Wiener Max Reinhardt Seminar öffnet erstmalig seine Pforten für ein neuntägiges Theater-Festival." In leuchtenden Farben wurde es angekündigt, und programmatisch eröffnet: mit Nino Haratischwilis Stück "Georgia", in dem sich zwei Georgierinnen über das deutschsprachige Theater lustig machen. Dort gelte es als konservativ, Geschichten zu erzählen, gehe es nur noch ums Finden neuer Formen.

Galopp durchs Schniedelwutzdenken

Aber besteht der Übergang vom dramatischen zum szenischen Erzählen nicht gerade darin, adäquate Formen für den Text zu finden? Form und Geschichten müssen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern stets als Zusammenspiel begriffen werden – und die intensive Auseinandersetzung der Regiestudierenden mit den zeitgenössischen Texten, wie sie auf dem Festival präsentiert wird, illustriert genau dies.

Sarantos Zervoulakos dramatisierte Franzobels Roman, der zwar "Liebesgeschichte" heißt, dem österreichischen Orgien-Mysterien-Phantasten allerdings zur mal pubertären, mal libertinären Sex-and-Crime-Story geraten ist. Ein Mann, Verkörperung kleingeistigen Schniedelwutzdenkens, endet im Gefängnis, als er in Jerusalem versucht, Terrorist zu werden, nachdem sich zuhause Frau und Kinder aus dem Fenster gestürzt haben, er seiner Liebhaberin Liebhaber erschossen hat, und jene, die "Angebumste", das "verfügbare Fickfleisch", erst mit einer Dogge schlief und dann bei einem Bombenattentat auf dem Prater zerfetzt wurde.

Es sind ekelhafte Geschichten, mit Wortkraftmeiereien manchmal auf Toilettenwandspruchniveau. Aber Sarantos Zervoulakos gelingt es auf wundersame Weise, die ausufernde Geschichte zu straffen, zu verdichten, Franzobels Sprachgewalt dabei herauszukitzeln und auf lediglich zwei Quadratmetern Spielraum gleichsam zur Explosion zu bringen. Drei Darsteller sitzen auf einem Bumsbett, frontal zum Publikum, und sind in dieser scheinbaren Handlungsarmut so energiegeladen, so klar im Sprechen und intensiv im Spiel, dass sich in der Phantasie tatsächlich die verrücktesten Welten öffnen. Mit blitzenden Augen galoppieren die Schauspieler durch Text, Rollen und Emotionen – ein treffsicherer verbaler Schlagabtausch, eine feuchtfröhliche Inszenierung in ihrer Mischung aus Formenstrenge und boulevardesker Spielfreude.

Gute Miene zum marktradikalen Spiel

Das Gefühl, dass die Inszenierung den Originaltext stärkt und bereichert, entsteht auch bei Volker Schmidts "Man muss dankbar sein". In der Fabrik einer Billiglohnrepublik sind die Näherinnen dankbar fürs Arbeithaben, fürs Auf-Toilette-Dürfen, die Zuschauer sind als NGO-Vertreter geladen, sich über die Wiener Arbeitsbedingungen zu informieren. Sie, also wir, kommen aus ehemaligen Billigproduktionsländern, die nun boomen – die Verhältnisse haben sich umgekehrt.

Ein Zukunftsszenario, ein "Kniff", mit dem Volker Schmidt die Situation des Ausgebeutet-Werdens näher an uns heranzuholen glaubt. Die jungen Arbeiterinnen machen gute Miene zum marktradikalen Spiel und zeigen sich motiviert ("Das ist blubb blubb, aber nicht zack zack"), aber bald schon bröckelt ihre Präsentationsfassade, die wahren Schicksale kommen zum Vorschein, gewerkschaftliche Agitation fasst Fuß, ein Wettern gegen Zinseszinsgesellschaft und Outsourcingfetischisten.

Jérôme Junod setzt dieses dramatisierte Fair-Trade-Produkt mit reichlich Musikalität in Szene: mit kleinen, schnurrigen Nähmaschinen-Choreographien à la Chaplins "Modern Times", vor allem aber: als Bollywood-Revue. Höchst kitschig dürfen sich die Arbeiterinnen in Pretty-Woman-Träume retten, pathetisch und glücksgrinsend singen sie Playback, tanzen und werfen sich in muskulöse Männerarme. Dieser leicht- und glitzerbekleidete Hindi-Frohsinn bringt zum einen kulturelle Differenzen und Globalisierungsmomente in die Inszenierung, die im Stück weggebügelt wurden, zum anderen lässt er die Zuschauer in dieselbe Falle tappen wie die Figuren. Wir wollen lachen, träumen, schwärmen und darüber das Elend vergessen, die Vorstellung entlässt uns beschwingt und schmunzelnd – sie nimmt sie also ernst, die Manipulationen durch Macht und Musik, und verpackt sie in bonbonbuntem Sozialkitsch.

Dass sich im kitschigsten Moment dann auch noch ein goldener Kronleuchter in die Arena des Max-Reinhardt-Seminars herabsenkt, ist wohl der Schlagobers für jene, die gerne nochmal genüsslich an Daniel Kehlmanns Salzburger Kristallluster-Rede denken wollen.

Bösartigkeit unter der Oberfläche

Der Halbwüchsige nun aber aus Daniel Kehlmanns Geschichte "Töten" bewegt sich unter der Sonne, von sommerlicher Ferien- und Mittagsträgheit affiziert: mit letztlich tödlichen Konsequenzen. Für das Festival wurde die Geschichte von Tobias Dörr verfilmt und von Benedikt Haubrich als Solo, als Hörsaal-Präsentation inszeniert. Der Erwachsene berichtet von jenem Jugend-Erlebnis, dann folgt die Filmvorführung als Rückblende. Dieser Kurzfilm, in glatter Werbeästhetik gedreht, bekommt durch die Geschichte des tötenden Jungen eine unter der Oberfläche liegende Bösartigkeit und Kraft, fast wie bei Michael Haneke oder Lars von Trier. Der vorherige, engagierte Vortrag indes ist zwar visuell schön gelöst und liefert ein interessantes Psychogramm, wird dem ruhigen Erzählfluss der Vorlage allerdings nicht ganz gerecht. Die wunderbar lakonisch erzählte, ganz auf innere Wahrnehmungen, Wiederholungen und Monotonien abzielende Geschichte wirkt wohl einfach am stärksten im gähnenden Tonfall des literarischen Ausgangstextes.

Ganz auf die Vorlage, auf Inhalt, Geschichte und psychologisch-mimetisches Spiel vertrauen die beiden Inszenierungen von Matthias Wittekindts "Mann ohne Beil" und Nino Haratischwilis "Georgia". In guten Momenten taucht man ein in diese Welten, in schlechten wird man zurückgeworfen auf eine klassische, pseudorealistische Studententheaterästhetik. Da wünscht man sich dann eben doch eine deutlichere ästhetische Handschrift, ein bisschen mehr Form für die Geschichte. Dass das gut zusammengeht, hat das Festival ja eindrucksvoll bewiesen.


ZORN! – Dramatisches Erzählen Heute
27. September bis 4. Oktober 2009 am Max Reinhardt Seminar und Salon5 in Wien
Künstlerische Projektleitung: Anna Maria Krassnigg, Dramaturgie: Karl Baratta, Gwendolyne Melchinger.

Liebesgeschichte (UA)
von Franzobel, Bühnenfassung: Sarantos Zervoulakos
Regie/Ausstattung: Sarantos Zervoulakos. Mit: Sophia Magdalena Freynhofer, Christoph Schechinger, Markus Westphal.

Georgia (ÖEA)
von Nino Haratischwili
Regie: Hannan Ishay, Bühne und Kostüm: Maria Eberhardt, Musik: Dimitar Karamitev. Mit: Florentin Groll, Jens Ole Schmieder, Markus Subramaniam, Nike Van der Let, Doina Weber.

Töten (UA)
von Daniel Kehlmann
BÜHNE: Regie/Textfassung: Benedikt Haubrich, Sounddesign: Christian Mair. Mit: Bernd-Christian Althoff.
FILM: Regie/Drehbuch: Tobias Dörr, Kamera: Michael Schindegger, Ton: Konrad Glas, Schnitt: Toby Wider, Sounddesign: Konrad Glas, Nils Kirchhoff, Produktionsleitung: Dominik Brauweiler, Aufnahmeleitung: Andrea Klem. Mit: Flavio Schily, Swintha Gersthofer, Kurt Klem, Lukas Spisser, Olga Wäscher, Isabella Wolf.

Man muss dankbar sein

von Volker Schmidt
Regie: Jérôme Junod, Bühne und Kostüm: Lydia Hofmann, Choreographie: Christina Schollenbruch. Mit: Karoline Bär, Nadine Kiesewalter, Olga Wäscher, Ulrich Brandhoff, Robert Finster, Patrick Seletzky.

Mann ohne Beil (UA)
von Matthias Wittekindt
Regie: Christine Mattner, Bühne und Kostüm: Nathalie Lutz, Musik: Christian Weißenberger. Mit: Babett Arens, Jan Cerha, Swintha Gersthofer, Horst Schily, Merle Wasmuth, Isabella Wolf.

www.dramatisches.at

 

mehr nachtkritiken