Ob du gehst oder bleibst, das ändert nichts

von Simone Kaempf

Berlin, 10. Oktober 2009. Es gibt kein Festhalten. Nicht in den Tanzszenen, wenn Arme in ausholenden Gesten zugreifen und die Körper der anderen doch nur für Momente halten können, bevor sie sich entwinden und wieder entgleiten. Nicht in den Texten von Falk Richter, wo der Satz "Lass uns einfach alles so lassen, wie es ist" immer dann die Runde macht, wenn eine Beziehung nur noch Fiktion ist, sich der Status quo also längst verändert hat.

Aber auch der Apparat drumherum ist als Realität nicht mehr festzuklopfen. Kay zum Beispiel fantasiert sich auf eine Taxifahrt durch Paris, wo eine Videoinstallation ihn einerseits an eine Norwegenreise mit einer Jugendliebe erinnert und andererseits Fragen an eine ungewisse Zukunft aufwirft: Erlebt er jetzt den Zusammenbruch des Systems, so wie er es bisher kannte, oder taucht die Krise in zyklischen Abständen als Naturgesetz immer wieder auf?

Choreographie der Zerreißprobe

Dieser Kay (Kay Bartholomäus Schulze) erzählt in "Trust" seine Geschichte nicht selbst. Er sitzt in einem Sessel mit dem Laptop auf den Knien und lauscht staunend-verstört seiner Geschichte, die der Schauspieler Stefan Stern vorne an der Rampe ins Publikum schleudert, vielleicht gerade erst erfindet, mit sehr viel Grimassen und Überbetonungen; aber vor allem mit einer überraschenden Selbstironie, die Richters extrovertiertem und doch so ernstem Reden über Selbstauflösung und Nihilismus eine wohltuende Tonlage gibt.

Aber nicht nur das: Die niederländische Choreographin Anouk van Dijk erschafft die wichtige tänzerische Doppelung mit ihrer speziellen Bewegungstechnik, die immer an den Gliedern zu zerren scheint. Sie selbst, drei Mitglieder ihrer Compagnie und fünf Schaubühnenschauspieler agieren wechselnd auf der Bühne. Wenn der Text halb nihilistisch, halb orientierungslos ansetzt, dass es nichts ändern würde, ob man geht oder bleibt, sich berührt oder nicht, sich anschaut oder nicht, den anderen anruft oder nicht, dann offenbart die Choreographie die Zerreißprobe, die darin steckt.

Materialsammlung der Maßlosigkeiten

Oft tanzt van Dijk allein auf der Bühne. Mit sich windendem Körper, als ob an den Armen und Beinen unterschiedliche Kräfte wirkten, die schnelle Richtungswechsel provozieren. Wenn sich die Paare tänzerisch finden, dominiert das Annähern, Einknäueln und aneinander Abgleiten, das offen hält, woher diese Kräfte eigentlich stammen: gesellschaftlich von außen angetragen oder doch von innen herausgeboxt?

Beides hakt sich in Falk Richters "Trust" unter. Sein Text ist Materialsammlung und Textfläche. Den unterschiedlichen Stimmen sind verschiedene Arten der Maßlosigkeit zuzuordnen. Eine Frau hat die Autos ihres Freundes verschenkt, seine Millionen verloren, sein Haus verkauft. Ein verlassener Mann sitzt Tag für Tag vor dem Fenster. Das Mädchen wiederum, das von ihren Eltern vernachlässigt wurde, allein zurückgelassen in einem Hotelzimmer in Shanghai, ist aus Rache Fondsmanagerin geworden, "Sprengmeisterin" nennt sie das, damit alles in die Luft fliegt. Und auch von der RAF ist die Rede, die jetzt in "Vierter Generation" in den Führungsetagen das gehasste System effizient und nachhaltig untergehen lässt.

Die kalte Schönheit des Macbooks

Klingt alles ins Absurde übertrieben, aber in Kombination mit dem Tanz gewinnt die Idee einer zerstörerischen Kraft, die im Inneren das Prinzip Mensch ausmacht, etwas klaustrophob Überhöhtes, das in den Bann zieht. Denn die Körper erzählen in ihrer ganz eigenen Sprache, welche Kräfte in ihnen walten. Malte Beckenbach sorgt am Musikcomputer und an den Instrumenten für wechselnden Bühnensound. Er war schon vor zehn Jahren am DJ-Pult dabei, als Falk Richter und Anouk van Dijk in Nothing Hurts zum ersten Mal zusammenarbeiteten.

Die Clubatmosphäre von damals sieht jetzt um einiges schicker aus, ist aber auch voll kalter Schönheit: der DJ nutzt ein Macbook, ein Stahlgestänge ist im Bühnenhintergrund aufgebaut, schwarze Sofas und Clubsessel stehen auf der Bühne. Anfangs rutschen die sieben Schauspieler und Tänzer von den Sesseln auf den Boden, rappeln sich wieder hoch, straucheln und sacken wieder zusammen, kriechen langsam über den Boden vorwärts, bis sich alle als Kollektivkörper auf dem großen Sofa verknäulen und verhaken. Die Beats treiben sie, immer geht es einen Schritt vor, dann zieht sie etwas wieder zurück.

Therapeutischer Schreiworkshop und existentieller Schmerz

Zwischendurch steuert die Energie auf einen Kulminationspunkt zu: die Schimpf- und Sehnsuchtstiraden der Schauspieler werden lauter, die Beats werden drängender, bis es nicht mehr schneller geht und die Musik schlagartig abbricht. Kay spricht jetzt davon, wie es war, alleingelassen die Stille zu spüren. Aber das Bild, dass hier jemand am Boden ist, vervollständigt wieder einer der Tänzer, der sich am Boden wälzt und um die eigene Achse dreht.

Der Abend wechselt immer wieder die Stimmungslage. Manchmal überlappen sich Tanz und Schauspiel in harten Schnitten, dann fließt alles ineinander. Mal sitzen die Spieler auf Stühlen in einem therapeutischen Schreiworkshop, in dem das Imitieren von Hundegebell nicht gelingen will. Von diesen Stühlen gleiten sie auch herunter, ziehen sich wieder hoch, um doch wieder zu straucheln. Eine Kraft treibt sie, und in der steckt auch ein existenzieller Schmerz, dem die Verbindung aus Tanz und Schauspiel berührend Ausdruck verleiht. "Unser System basiert im Kern darauf, virtuelle Werte zu schaffen und reale Werte zu verbrennen", heißt es einmal in Richters Text. Die Tanzszenen bleiben immer abstrakt genug, auch solche Assoziationen zuzulassen.

 

Trust (UA)
Ein Projekt von Falk Richter und Anouk van Dijk
Regie und Choreographie: Falk Richter und Anouk van Dijk
Bühne: Katrin Hoffmann, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Malte Beckenbach, Dramaturgie: Jens Hillje. Mit: Peter Cseri, Anouk van Dijk, Lea Draeger, Jack Gallagher, Vincent Redetzki, Judith Rosmair, Kay Bartholomäus Schulze, Stefan Stern, Nina Wollny, Musiker: Malte Beckenbach.

www.schaubuehne.de


Mehr lesen? Kritiken zu weiteren Falk Richter-Aufführungen an der Berliner Schaubühne finden Sie hier: Kabale und Liebe vom Dezember 2008, Der Kirschgarten vom Januar 2008, Im Ausnahmezustand vom November 2007.

 

{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=8dcsqz02jf8}

 

Kritikenrundschau

"Was ist denn das? Ein kleines Kunststück!", freut sich Andreas Schäfer im Tagesspiegel (12.10.). Falk Richter und Anouk van Dijk gelinge mit "Trust" eben "jene Quadratur des Inszenierungskreises", um die sich die Ostermeier-Schaubühne so fleißig bemühe. "Einerseits hip zu sein und andererseits – sagt man das noch? – kritisch." Wobei das eine und das andere "nur mithilfe konzeptioneller Gewalt" zusammen gehe. Der Abend über Verschränkung und Zusammenbruch von Finanz- und Beziehungssystemen sei "unterhaltend", gewähre "blitzartige Einblicke in die Undurchsichtigkeit komplexer Prozesse" und spiele "virtuos groteske Paarsituationen" durch. Die Texte erinnern Schäfer dabei "nicht nur entfernt an die Texte René Polleschs". "Dass die Auflösung aller Sicherheiten und Werte (im Geldsinn des Wortes) (...) auch spürbar wird", liege vor allem an den Tänzern und der mittanzenden Choreografin. Sie sorgten "für eine spielerische Leichtigkeit" und fänden "eine treffende Darstellungsbalance zwischen roboterhafter Getriebenheit, gefühlstauber Erstarrung und ungerichteter, expressiver Wut". Normal 0 0 1 219 1253 10 2 1538 11.1282 0 21 0 0

Kapitalismuskritik als Revue "mit motivisch locker verknüpften zynischen Stand-ups und Sketchen sowie psycho-illustrativen Tanzeinlagen", hat Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (12.10.) gesehen. Das "Nummernprogramm" puste sich "zwischendurch zum supercoolen, perfekt getimten, sauber durchagitierten Kunsthappeningprodukt auf. Substanz einzufordern, wenn es um die platzenden virtuellen Werte der Finanz- und Wirtschaftskrise geht und um beziehungsgestörte moderne Bürgerseelen, das hieße das Thema nicht verstanden zu haben". "Trust" sei "ein streckenweise unterhaltsamer Theaterabend solcher Art, wie René Pollesch sie erfunden hat – nur eben als schicke Anklage, ohne Polleschs fröhlich überfordernde Ideenfülle und den selbstzerfleischenden, würgenden Galgenhumor". Auch van Dijks "Tanzeinlagen zu pseudolyrischen Sprechmantras" bringen für Seidler "keinen inhaltlichen Mehrwert", sondern erweitere lediglich Richters "kapitalismuskritische Produktpalette und erschließt neue Vertriebswege".

Die "intelligente, ästhetisch bestechende, streckenweise sehr unterhaltsame Stimmen- und Körperperformance" von Richter/van Dijk stürze sich "auf die Absurditäten der finanzwirtschaftlichen Blasenbildung" und schlüge aus ihnen "aberwitzige Funken", schreibt hingegen Anne Peter in der tageszeitung (12.10.). Ausgelotet werde "der kollektive Zustand einer Generation von karrieristischen Hyperindividualisten, die außerhalb ihrer von Geld dominierten Arbeitswelt keine Erfahrungen mehr machen". Richters Text schraube sich in den besten Momenten "zur beißenden Satire hoch, knüpft Floskelkaskaden oder leistet sich sprachlich so manchen Pollesch-Anflug". Der "waghalsige" Kurzschluss von der "Verantwortungslosigkeit von Finanzjongleuren" mit derjenigen "heutiger Beziehungsphobiker" überzeuge, weil er "manchen Aha-Effekt bereithält – was bei Bossen und Bankern anstandslos hingenommen wird, würde im privaten Rahmen sofort zum Eklat führen". Die Tänzerarrangements mit ihren "Bildern des Haltsuchens und Fallengelassen-Werdens, des Hinschlidderns und Balanceverlierens" wirke auf das "zuletzt oftmals in oberflächlicher Coolness steckenbleibende Richter-Theater wie der reinste Adrenalinschock".

"So sehr sie sich mühen, sie kriegen es nicht zu fassen und sie kriegen einander nicht zu fassen. Es gibt keinen Halt", beschreibt Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (12.10.) die Körper auf der Bühne. Die Untersuchung der Frage, was "der substanzielle Vertrauensverlust mit den erschöpften Menschen und ihren Beziehungen" anstelle, sei "grandios gelungen als eine Art von Gegenwartsdramatik, die punktgenau in ihrer Zeit sitzt, und zwar indem sie darauf wartet und drängt, dass genau diese Zeit bald vorbei sein möge". Richter inszeniere seinen Text zusammen mit van Dijk "dicht und intensiv, mit einer großen Ruhe, die einen wie ein beunruhigender Sog erfasst". Hier laufe "das Vage, das Angedeutete, das Mögliche (...) zu großer Form auf. Beziehungen im Konjunktiv". Dieser Abend entbehre "im besten Sinne jeglicher Substanz, und selten war Substanzlosigkeit im Theater so sinnvoll und so substanziell zu spüren".

Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (13.10.) indessen ist beglückt. Falk Richter wirke mit dieser Inszenierung "wie von sich selbst befreit, gereift, gewachsen". Wobei es auch an Anouk van Dijk liegen können, deren Choreographie Richters Text auffange, kommentiere und weiterspinne. Während sonst an seinen Dramen störe, dass sie eben keine seien, sondern nur eine Zusammenfügung "langer Loops", funktioniere "Trust" als "Zustandsbeschreibung" ganz "wunderbar". Die Absurdität der gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Verhältnisse sowie des eigenen Verhaltens rückt Michalzik hier ganz nahe ("Man fragt sich, warum wir nicht wirklich den nächstbesten Finanzhai zusammenschlagen und stattdessen FDP wählen."). – "'I used to want to change the world and now I´m just caring about parking place.' Falk Richter lässt den Selbstwiderspruch zu, daraus brechen dann diese verdrehten Bewegungen, irren Textschleifen und steilen Dialogkurven hervor, manchmal kommt er damit René Polleschs Theaterwirbeln sehr nah, aber das macht nichts."

Wie Falk Richter und Anouk van Dijk die beiden Bedeutungsebenen des Wortes "Trust" verschränken und dabei die Marktmechanismen des globalen Kapitalismus und die Erschütterungen durch die Finanzkrise auf die private Beziehungsebene herunterbrichen, das hat "ein enormes Witz- und Wutpotenzial", befindet auch Christine Dössel (Süddeutsche Zeitung, 14.10.). "Und obwohl hier, was ungemein befreiend wirkt, gehörig Dampf abgelassen, Zorn rausgelassen, Kapitalismuskritik geübt wird, ist der Abend dennoch von einer grundtiefen Traurigkeit getragen, dem Gefühl heilloser Einsamkeit und Vereinzelung in einer Welt, die aus den Angeln geraten, in der jede Sicherheit abhanden gekommen ist." Das Zusammenspiel zwischen den Schauspielern und van Dijks Tänzern funktioniere dabei "wunderbar". Denn "der Tanz formt, illustriert und komplettiert Richters Texfläche, welche umgekehrt in der Brüchigkeit und Skizzenhaftigkeit, mit der sie von sich fremd gewordenen Menschen erzählt, aber auch in ihrem oft lyrischen Fluss, den Tanz geradezu herausfordert, Körperlichkeit einfordert". Es zeige sich "dieses existentielle Verlustgefühl in einer markt- und konsumorientierten Welt, ausgedrückt in Sätzen, wie sie auch das hysterische Diskurstheater von René Pollesch bestimmen, dem Falk Richter in seiner Kapitalismus- und Gefühlsökonomiekritik sehr nahe ist".

 

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