Wer stirbt, lügt nicht

von Charles Linsmayer

Basel, 23. Oktober 2009. "Die Lügen haben dieselben Wörter wie die Wahrheit, und trotzdem sind es Lügen." Utterson, der Freund und Rechtsanwalt von Dr. Jekyll sagt das zu seinem Klienten, nachdem dieser ihn immer mehr in Verwirrung gestürzt hat und er nicht mehr bereit ist, ihm auch nur noch das Geringste zu glauben. Wie ist das seltsame Gebaren dieses Fliegenforschers Dr. Jekyll bloß zu erklären? Und was hat er mit dem dubiosen Edward Hyde zu tun, der ihm so verdächtig ähnlich sieht und immer dann auftaucht, wenn Jekyll selbst nicht in der Nähe ist?

Utterson wird am Schluss des Stücks nochmals auf die Frage von Lüge und Wahrheit zurückkommen. Dann nämlich, wenn er sich anschickt, den Mann, der sich Edward Hyde nennt, zu erstechen, und dabei zu ihm sagt: "Man lügt nicht, wenn man stirbt."

Die Schwierigkeit, Licht ins Dunkel zu bringen

Alexander Nerlich hat "Jekyll und Hyde", Robert Woelfls 1999 in Wien uraufgeführte Bühnenadaption von Robert Louis Stevensons legendärer Novelle "Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde" (1886), in schweizerischer Erstaufführung auf der Kleinen Bühne des Basler Theaters inszeniert. Mit einer wunderbar geheimnisvollen Schwarz-Weiss-Bilder-Animation von Franziska Nyffeler, die das Bühnenbild von Christian Sedelmayer in eine ganze Fülle von Situationen und Räume ausufern lässt, und mit drei Protagonisten, die sich mit leidenschaftlicher Hingabe in ein Konzept einbringen, das ganz offenbar darin besteht, das Publikum ebenso nachhaltig in Verwirrung zu stürzen wie den guten Gabriel J. Utterson, der, bevor auch er das Zeitliche segnet, vor lauter Rätsel und Vexierbildern schlicht nicht mehr weiss, wo ihm der Kopf steht.

Man merkt es Atef Vogel, der den vergeblich um Aufklärung bemühten Utterson zu spielen hat, förmlich an, in welche Verzweiflung ihn die rätselhaften Vorgänge stürzen, und natürlich ist es so schwierig, Licht ins Dunkel zu bringen, weil der äusserst wandlungsfähige Dirk Glodde die Identitätsspaltung des Dr. Jekyll dermassen glaubwürdig umzusetzen weiss, dass man die längste Zeit durchaus glauben kann, dass Edward Hyde tatsächlich eine ganz andere, eigene Person ist.

Virtuos dargebrachtes Sprachstück

Wunderbar die Szene, wo Jekyll schliesslich selbst an sich irre wird und in zunehmender Heftigkeit zugleich Hyde und Jekyll sein will: "Wenn Jekyll Hyde ist, muss Hyde ja auch Jekyll sein." Eine wichtige Rolle in diesem ganzen Vexierspiel fällt Hanna Eichel in der Rolle der Ivy zu, die sich zu Hyde ganz anders verhält als zu Jekyll und die schliesslich zu einem Opfer von Utterson wird, der die Wahrheit aus ihr herauspressen will. Wenn Jekyll sie im Kaffehaus trifft, spielt sie die spröde, unnahbare, leicht überkandidelte Schönheit. Im Zusammensein mit Hyde aber wandelt sie sich in eine verführerische Nymphe, die freigiebig ihre Reize spielen lässt und mit dem Geliebten schliesslich zu einem – von der Bühnentechnik durchaus glaubwürdig umgesetzten – Hochzeitsflug abhebt.

Alexander Nerlichs sorgfältige, einfallsreiche und temperamentvolle Inszenierung von Robert Woelfls Stevenson-Adaption ist in vielen Partien ein absurd-komisches, an den Dadaismus oder Jandl erinnerndes, virtuos dargebrachtes Sprachstück, zeigt ihre packendste Wirkung aber in der Intensität und Wucht, mit der da auf fast schon demiurgisch-dämonische Weise in die Abgründe der menschlichen Seele hinabgeleuchtet wird.

 

Jekyll und Hyde (SchEA)
von Robert Woelfl
Regie: Alexander Nerlich, Bühne: Christian Sedelmayer, Kostüme: Bettina Schanz von Koch, Animation Franziska Nyffeler, Musik Malte Preuss.
Mit Dirk Glodde, Hanna Eichel und Atef Vogel.

www.robertwoelfl.com
www.theater-basel.ch

 

Mehr lesen? In München inszenierte Alexander Nerlich im Juni 2009 die Uraufführung von Anne Habermehls Daddy. Der 1965 geborene österreichische Schriftsteller und Dramatiker Robert Woelfl gehörte im Herbst 2007 zu den Mitunterzeichnern des Manifests 10 Wünsche an ein künftiges Autorentheater.

Kritikenrundschau

Der Kärntner Autor Robert Woelfl präsentiere "eine Skelett-Sicht der Figuren" aus Stevensons "Jekyll and Hyde"-Roman, schreibt Claude Bühler auf onlinereports.ch (24.10.). Sein Text sei, "obgleich aus Alltagssätzen bestehend, über der Baumgrenze alltäglicher Kommunikation angesiedelt. Eine Art Poesie in der Windstille einer stilisierten Parallelwelt", in der die Figuren "ironisch und spröde" daherplapperten. Regisseur Alexander Nerlich habe dem Stück im Theater Basel nun quasi "ein Gothic-Gewand übergeworfen". Die Inszenierung gibt Bühler so manche Frage auf: Steckt hinter dem sittenstrengen Utterson etwa "ein nekrophiler Perverser?" Ist Hydes "Bösesein (...) nur unter dem Blickwinkel des viktorianischen Zeitalters und der amerikanischen Filmindustrie wirklich destruktiv" und er eigentlich "einfach ein toller Haudegen, entfesselt, erregt, unabhängig?" Und: Was hält die Story unter diesen "ganz neuen Vorzeichen" noch zusammen? Hier seien es Dirk Gloddes und Hanna Eichels "konzentriert durchgehaltenes Spiel und das Bühnen-Design", die animierten Hintergrund-Illustrationen von Franziska Nyffeler nämlich, der eigentliche "Star der Aufführung".

Die Schweizer Erstaufführung am Theater Basel von Robert Woelfls "Jekyll und Hyde" komme "so sparsam wie sinnig ganz in Schwarz und Weiss daher", schreibt Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (26.10.). "Jekyll und Hyde, Hell und Dunkel, Gut und Böse. Bühnenbild und Kostüme lassen ein sanft historisierendes Kammerspiel erwarten." Unheimlicher als die Doppelnatur von Jekyll und Hyde wirke die des akribisch recherchierenden Rechtsanwalts Utterson "in seinem Aufklärungsfuror, in dem sich das Pathos von Gesetz und Ordnung mit seltsam nekrophilen Untertönen mischt". Hyde hingegen mutiere "in bohémienhaft verschmierter Kleidung (...) mehr zu einer Art anarchistischem Künstler und Nachtwandler, der seine helle Liebesbotschaft an die dunklen Fassaden pinselt." Der "eigentliche Clou des Abends" seien aber "die animierten Illustrationen von Franziska Nyffeler, die über die gerahmte Rückwand laufen". In ihnen stecke "ein Witz drin, der dem eher düsteren Abend einige Gramm Leichtigkeit verschafft."

Alexander Nerlichs "Jekyll und Hyde"-Inszenierung verwandele die Kleine Bühne "in ein interaktives Trickstudio", schreibt Stephan Reuter in der Basler Zeitung (26.10.): "Vorn wird gespielt, im Hintergrund animiert. Reizvoll ist das vor allem, wenn Leinwand und Akteure eine Einheit simulieren und das Geschehen auf der Grenze zwischen Cartoon, Film und Theater balanciert." In diesem Setting gehe es "weniger um Gut und Böse. Eher um Bürger und Antibürger." Hyde sei ein "Künstlertyp", sympathisiere "vermutlich mit der Hausbesetzerszene." Der "Mann im Zwielicht" sei Utterson: "Forscher als der Forscher und plumper als der Unhold". Das Finale komme "abrupt, und doch nicht zu früh", denn Woelfls Plot schwächele bereits eine Weile.

 

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