Hey, wir sitzen doch alle im gleichen ARGO-Boot

von Georg Petermichl

 

Wien, 23. Oktober 2009. "Orte, an denen Sie sich vorstellen können, glücklich zu sein...?," liest die pummelige Ethno-Tante aus dem Fragebogen vor. Die insgesamt drei Frauen trafen sich zuvor im Wartesaal einer sogenannten Glücksagentur und offensichtlich war ihre Lebenslage gleichförmig desperat: Im assoziativen Basisfragenkatalog kreuzten unisono an, dass sie sich auf der Suche nach dem "goldenen Vlies" befänden, also nach dem damit versprochenen Glück streben würden –

Und ein Blackout später sitzen sie schon in der "Argo" – dem Schiff der "Argonauten", die einst als hochrangiges Heldenteam der griechischen Mythologie ebenfalls nach dem edlen Fetzen suchten: Eine spitzzüngige Businessfrau (Nicola Kirsch), ein gleichgültiges Alternativo-Girlie (Bettina Kerl) und die bereits genannte, verhärmte Hippie-Vertreterin (Katja Jung), die sich nun freiherzig in den Fragenkatalog vergräbt, als könnte sie in dieser manifest gewordenen Halluzination das gesuchte Seelenheil finden.

Findungskriterien für moderate Glücksgefühle

"Öffnen Sie sich bei dieser Frage!" Verfolger-Spotlight auf die überraschte Figur. "... Mich auf Knopfdruck zu öffnen. Diese Erwartungshaltung!" Reflexartig wird der Zuschauerraum in die Suche nach dem möglichen Glücksort einbezogen: Als erstes schnattert Katja Jung eine Dame nieder. Darauf folgend flirtet sie kurz mit einem Herrn und beider Antworten bleiben natürlich irrelevant.

"ARGOcalypse now" so heißt Simon Solbergs Theaterprojekt, das sich letztlich eher humanistisch den Findungskriterien für moderate Glücksgefühle verschreibt. Seine Figuren haben sich für einen ausgeformten Lebensweg entschieden, der zunächst in ihrem Gehabe zutage tritt: Nadelstreifhose und schimmerndes Wolltop für die Geschäftstüchtige, Pudelmütze, Legwarmers und Trainingsbekleidung für die junge Altruistin und eine wallende Ethnoprint-Hose für die alternde Prinzipienreiterin (Kostüme: Solberg). Sobald es allerdings um anwendbare Glücksstrategien geht, verliert sich dieses moderne Triumvirat in den Wort- und Stimmungshülsen der Ratgeber-Literatur, der Popmusik und der Filmatmosphärenklänge.

Amazoneninsel als introvertiertes Lady-Gaga-Land

Im Wiener Schauspielhaus sieht man damit keine zeitgenössische Deklination der Argonauten-Sage. Das "goldene Vlies" ist auf dieser Bühne nicht zu finden. Sowas gibt es nicht in unserer knallharten Welt der NLP-geschulten Wirtschaftsjünger, der Erfolgs beflissenen Gesundheitsprediger, oder der warmstimmigen Meditationsfanatiker. Simon Solberg hat stattdessen eben diese glücksversprechenden "Global Players" auf die Bühne zitiert. Er vermengt sie mit den antiken Charakterhelden Hylas, Herakles, Atlante, Hypsipyle oder Argos – den Darstellerinnen wird gleichzeitig ein unbewältigbares Maß an Wandlungsfähigkeit abverlangt: Lemnos, die Insel der Amazonen, wird zum invertierten Lady-Gaga-Land.

Bettina Kerl und Nicola Kirsch warten dort mit aufgeklebten Bärten auf Katja Jung als berlinernde, biedere Putzfrau Atlante, die sich von deren männlichem Sexgehabe verzaubern lässt. Als Wüstenprinz von Kios geht es Kirsch im provisorischen Zelt solange gut, bis Kerl als Trinkwasserinvestor Hylas das Wasser aus seinem Beduinenbrunnen glücksbringend vermarkten will. Langsam entfernt sich das Stück in diesen Sequenzen von seinem Original – der Argonauten-Sage, bis es schließlich eher den Olymp der Wirtschaftskonjunktur, des Körperkults, oder eines anderen Autismus' zu erklimmen gilt, anstatt das goldenen Vlies zu ergattern. Trifft man hier auf junges Regietheater, das einen antiken Stoff leichtfüßig im Rahmen von Gesellschaftskritik durch die Mangel dreht?

Typologie der Schmunzelcharaktere

Nur bedingt. Denn: Simon Solberg hat seinen Kunstgriff von Beginn an ausgestellt. Die ersten Minuten sind schleppend und verlangen mit ihren Anleihen am Provisorientheater vehement nach einem Phantasieinput des Publikums. Die Bühne (ebenfalls: Solberg) ist auf drei Meter reduziert. Die Projektionen im Hintergrund werden von der Regieassistentin Katharina Schwarz live in einem Modell neben der Bühne eingespielt. Und das Ensemble stellt – wie immer – eine professionelle Typologie zeitgenössischer Schmunzel-Charaktere auf die Bühne.

Wer unbedingt will, kann also schon nach zehn Minuten aus dem Bühnen-Konglomerat aus Video und der halbherzig aus weißen Schaumstoffelementen zusammen gezimmerten "Argo" aussteigen. Das Premierenpublikum verzichtete allerdings darauf. Solberg hat damit auch auf den Diskurs um die "neue" Regiegeneration geantwortet: Sollte etwas "neu" sein, dann ist das die Phantasie, die von der Welt der Zuschauer für ihre eigenen Probleme eingefordert wird.

 

 

ARGOcalypse now (UA)
von Simon Solberg
Regie, Bühne und Kostüme: Simon Solberg.
Mit Katja Jung, Bettina Kerl und Nicola Kirsch.

www.schauspielhaus.at

 
 

 


Mehr lesen? Nach dem Goldenen Vließ jagte am Berliner Deutschen Theater vor einer Woche auch David Bösch, um dann lediglich eine Beziehungsgeschichte zu finden. Eine der tragischsten Beziehungsgeschichten des Welttheaters, Shakespeares Romeo und Julia nämlich, wuchtete Simon Solberg im September 2009 atmosphärensatt auf die Bühne des Dresdener Staatstheaters.


Kritikenrundschau

Die griechischen Helden in Simon Solbergs "ARGOcalypse now", schreibt Barbara Petsch in der  Tageszeitung Die Presse (25.10.), seien "mehr ein witziger Vorwand für die fundamentale Frage, wohin sich heute Argonauten wenden würden – auf der Suche nach Glück". Der Autorregisseur jage dafür "drei fulminante Schauspielerinnen über den Abenteuerspielplatz Welt". Im Grunde handele es sich bei diesem Abend "um amüsantes Greenpeace-Kabarett, wobei offenbleibt, ob sich der Autor mit den kämpferischen NGO-Thesen überhaupt identifiziert oder sie wie die griechischen Sagen nur als Versatzstücke verwendet, um seine satirische Comedy stylish zu möblieren". Der Spaß sei dabei zwar nur "wechselhaft überzeugend", aber immerhin eines nicht, nämlich "fad" und außerdem von "großartigen" Schauspielern getragen, die "mit einer Verve durch diesen Text" sprängen, "dass man kaum dazukommt, sich zu fragen, wie groß der Tiefgang dieses Stückleins ist", dessen Video- und Katastrophenszenarien-Optik ebenfalls "spektakulär" und "unterhaltsam" sei.

"Mag sein", sinniert  Ronald Pohl im  Standard, 27.10.), "dass auch ein Uraufführungstheater wie das Wiener Schauspielhaus auf der Liste derjenigen Agenturen geführt wird, die sich um die Erzeugung von Glück verdient machen." Allerdings: Nach Genuss dieses Drei-Personen-Stückes "stellt sich ein akutes Leeregefühl ein: versetzt mit Reue und Anwandlungen von Unlust". Das "Ideal der Kulturreise" sei nämlich "das älteste Klischee jeder Ichbildnerei: Noch die läppischste Drogenerfahrung zehrt vom Anspruch, Wahrnehmungsbezirke aufzuschließen, die kein Mensch im Wachzustand betreten kann". Solberg  – "und mit ihm die fabelhaften Schauspielerinnen" – suchten also das Glück im Naheliegenden: "Zwar klappern sie einige Reisestationen der alten Argonauten ab; im Grunde aber exekutieren sie alle einen Text, der sich als famoses Google-Produkt aus aktuellen Einlassungen zu Liebe, "Workout" , Geist- und Gesinnungstraining sowie zur Globalisierung zu erkennen gibt".

 

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