Immerhin im Tod ein Star

von Kerstin Edinger

Essen, 24. Oktober 2009. Werther hört laute Musik, steht auf einer abgedunkelten Bühne und schreibt mit Kreide Sätze an die Wand – zum Beispiel "Death can really make you look like a star" von Andy Warhol. Es ist ein Spiel zwischen den Zeiten, denn wir begegnen hier nicht Werther, sondern einem jungen Mann aus der Gegenwart, ganz in Schwarz gekleidet, der seine eigene Totenmesse zelebriert. Die Figur des Werther dient ihm dazu, sein Ableben so extravagant wie möglich zu begehen.

Werthers Leid ist auch sein Leid – er durchlebt mit ihm sein eigenes Martyrium, das er gleichzeitig auf einem Film für die Nachwelt festhalten will. Dieser Film soll ihm die berühmten "15 minutes of fame" bescheren und bei seiner Suche nach Unsterblichkeit voranbringen.

Liebesleid in Zeiten seiner Verschickung als Handy-Film

Regisseur Jan Neumann kontrastiert in seiner Inszenierung Videoeffekte und Rockmusik mit Goethes klassischem Text. Radikal hat er gekürzt ohne Goethes Sprache zu verändern. Ein Textgerippe muss reichen, um in dieser schnelllebigen Zeit der Verzweiflung des Protagonisten nachzuspüren, denn Neumann geht es nicht nur um die unglückliche Liebe eines einzelnen, sondern auch um die verzweifelte Suche nach Verortung einer jungen Generation. Der junge Mann ist dem sogenannten "Werther-Effekt" erlegen, einem Phänomen, das bereits mit Goethes Werk seine Benennung fand und medial inspirierte Selbstmorde meint. Denn schon Goethes suizidaler Briefromanheld verursachte eine Welle von Nachahmungungen seiner selbstzerstörerischen Tat.

Auch hier nun soll das Ableben grandios ausfallen und eine Videokamera dem jungen Mann zum posthumen Ruhm verhelfen – deshalb zelebriert er die ganze "Werther-Story" nicht für uns, sondern für ein Medienpublikum: Werthers unglückliche Liebe zu Lotte, seine Abneigung gegen deren Verlobten Albert, bei dessen Namensnennung es ihn schon unwohl überkommt. Der junge Mann entblößt sich vor uns emotional. Er will, dass wir ihn kennenlernen – komplett. Er filmt in seinen Rachen, seine Zähne und schreit "Ich muss hier fort". Immer wieder wiederholt er diesen Satz, erst laut, dann stockend, dann leise, fluchend, ein jäher Aufschrei. Er holt ein echtes blutendes Herz aus einem Glas und pfeffert es an die Wand.

Neumann holt den Werther ins Hier und Jetzt, überträgt ihn in die heutige Medienkultur, ins Handyzeitalter, in dem Emotionen sofort gefilmt und verschickt werden. Und doch geht Neumanns Konzept nicht ganz auf. Dieser junge Mann bleibt uns fern, seine Verzweiflung fremd, denn fast den ganzen Abend erzählt er seine Geschichte nicht uns, sondern einer Kamera. Das Stück ist darauf ausgerichtet, es auf einer großen Leinwand zu verfolgen und vergisst dabei die Möglichkeiten des Theaters.

Ein zappelndes, wimmerndes Männlein

Matthias Eberle als Werther, der seine Figur ausformt, gekonnt Stimmungen variiert und ironische Brüche mitspielt, bleibt damit kaum Raum, sein Liebes- und Lebensleid zu vermitteln. Er ist hauptsächlich damit beschäftigt, nicht für uns, sondern für die Kamera zu agieren. Das schränkt ihn nicht nur als Schauspieler ein, sondern reduziert auch die Figur des "Werther". Denn was bleibt abseits der Leinwandprojektion? Ein zappelndes Männlein, wimmernd und jammernd meist im Halbdunkel vor einer Kamera agierend. Er küsst sie, er schreit sie an, er flüstert mit ihr – ein armseliges Bild, ein Verlassener, einer, der sich für ein Filmchen lächerlich macht.

Unser Mitgefühl für Werthers Liebesleid schwindet und macht Platz für die Frage, was dieser junge Mensch eigentlich will. An uns jedenfalls redet er vorbei. Werther, eine Fernbedienung in der Hand, inszeniert seinen Abgang. Und endlich – gegen Ende blickt er auch einmal dem Zuschauer und nicht nur der Kamera ins Auge. Pathetisch überhöht er sein Leid und wird zu Christus selbst, der sich opfert. "Mein Gott! Warum hast Du mich verlassen?" Ein goldener Sarg erwartet ihn. Eingekleidet in typisch gelb-blauer Werther-Manier hält er sich das Reclamheftchen auf die Brust, legt sich in den Sarg und erschießt sich – mediengerecht.

Jan Neumanns "Werther" ist ein jugendlicher, ein moderner "Werther", im Hier und Jetzt verankert, gesellschaftlich relevant – und doch verspielt die Inszenierung ihre theatrale Wirkung. Denn dieser Werther erzählt seine Geschichte einem Fernsehzuschauer, keinem Theaterbesucher mehr.

 

Die Leiden des jungen Werther
von Johann Wolfgang Goethe
in einer Fassung von Jan Neumann
Regie: Jan Neumann, Bühne und Kostüme: Thomas Goerge, Video: Matthias Lippert, Licht: Daniel Bühler, Dramaturgie: Sabine Reich. Mit: Matthias Eberle.

www.theater-essen.de

 

Mehr lesen? Im April 2009 mischte am Zürcher Neumarkttheater die Regisseurin Anna-Sophie Mahler Goethes Werther auf, Jan Bosses Version vom Maxim Gorki Theater Berlin war 2007 zum Theatertreffen eingeladen. Den Dramatiker und Regisseur Jan Neumann, 1975 in München geboren, hat für nachtkritik.de Esther Boldt porträtiert.

 

 

Kommentare  
Jan Neumanns Werther: Keiner will "junge Männer" sehen!
Warum denn schon wieder "ein junger Mann"? Muß man das denn immer und immer wieder sagen! Die will niemand sehen!!
Neumanns junger Werther: verstümmelt und verzerrt
Eine schreckliche Inszenierung, die, insbesondere wenn man die Lektüre des "Werthers" so liebt wie ich, unglaublich wütend macht. Ich habe keine Probleme mit Neuinterpretationen, ganz im Gegenteil: Das ist es ja gerade was das Theater spannend macht (oder machen sollte)! Aber wenn man die Figur eines Werthers so verstümmelt und verzerrt und dies sich in keiner Weise am Text oder wenigstens am Spiel rechtfertigen lässt, ist dies einzig und allein mangelhafte Regie- und Dramaturgiearbeit. Hier hat der Regiesseur der Figur des Werthers seine Interpretation dreist aufgezwungen, er "kastriert" ihn bis nur noch ein notgeiler, retadierter junger Neider entsteht. Neumanns Werther ist unfähig sich in seiner Liebe zu verlieren, Matthias Eberle (den ich auffallend positiv als Orest in Erinnerung hatte) bleibt eindimensonial und pendelt zwischen einschläfernder Gleichgültigkeit und affektierten Hasstiraden. Und hier setzen die Grenzen der Neuinterpretation ein: Nimmt man dem Werther seine charaktergebenden Eigenschaften bleibt von der Figur nichts mehr übrig. Ein Werther der sich in der Liebe nicht verlieren kann ist kein Werther, ein Hamlet ohne seinen Drang nach Gerechtigkeit ist kein Hamlet und eine Effi Briest ohne ihre Naivität ist keine Effi Briest. Rational und rollenpsychologisch weitergedacht müsste Neumanns Werther zum Amokläufer oder Mörder Alberts werden und nicht zum Selbstmörder. Somit hat Neumann schlicht und ergreifend die Semantik des Stückes, bzw. des Romans zerstört und damit wird es paradox. Neumanns Werther lässt nicht tief blicken. Den einzigen Einblick den der Regisseur dem Zuschauer mit seiner Inszenierung gewährt, ist eine ausgiebige Präsentation seines Musikgeschmacks: Schmerzhaft ungekonnt und ohne irgendein Gefühl für die richtige Stimmung oder den richtigen Moment wird die Inszenierung in regelmäßigen Abständen von kitschigen spätromantischen Symphonien, Ozzy Osbourne, verstörenden New Electro-Klängen oder auch einer Liveaufnahme von Robbie Williams zerrissen. In dieser Premiere habe ich als Zuschauer definitv mehr gelitten als Werther, hier war sein Selbstmord allerhöchstens für mich die notwenige Erlösung.
Jan Neumanns Werther: beieindruckend!
Die Inszenierung hat mich sehr beeindruckt, zeigt sie doch auf der einen Seite Werthers Persönlichkeitsstruktur (ja, er ist aus Verliebtsein, nicht aus Liebe, wahnsinnig geworden), auf der anderen Seite eine häufig anzutreffende Selbstdarstellung heutiger Menschen (Selbstinszenierung ohne eigenes Erleben als Hintergrund, mediale Aufmerksamkeit ohne Rücksicht auf Selbstachtung). Matthias Eberle hat dies großartig dargestellt, eine außergewöhnliche Leistung!
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