Die Gewalt der hohlen Worte

von Sabine Wirth

Nürnberg, 24. Oktober 2009. Der trojanische Krieg hat viele Opfer gefordert. Klytämnestra, Iphigenie, Hekabe, Andromache, Helena, Kassandra – und Agamemnon. Sie alle waren darin verwickelt, ob sie wollten oder nicht. Diese Namen haben eine Menge im Schlepptau, ziehen große Fragen und Aporien der abendländischen Kulturgeschichte hinter sich her. Und vor allem: Sie wecken große Erwartungen.

Tom Lanoye versammelt all diese Figuren in seinem Stück "Atropa. Die Rache des Friedens", das die Handlung der Tragödien des Euripides und des Aischylos zu einem großen Kriegspanorama verdichtet, gespickt mit Versatzstücken aus gegenwärtigen Machtdebatten.

Der Lebensfaden wird zerschnitten

Die deutschsprachige Erstaufführung unter der Regie von Georg Schmiedleitner, der am Staatstheater Nürnberg schon mehrmals antike Stoffe inszeniert hat, beginnt ebenso wie sie endet: mit einem Streit zwischen Agamemnon (Michael Hochstrasser) und seiner Frau Klytämnestra (Isabella Szendzielorz). Ein Bild bleibt hängen vom textlastigen Anfang: Agamemnon hat seine Tochter Iphigenie im weißen Tutu auf dem Arm, ihre gar nicht so unschuldigen Schenkel umschlingen seinen Körper. Während Agamemnon sie küsst, baumelt in der anderen Hand noch ihr Teddy.

Und dann nimmt – wie der Titelhinweis auf die Schicksalsgöttin Atropos, die den Lebensfaden zerschneidet, schon verrät – das Unvermeidliche seinen Lauf: Iphigenie wird geopfert, Troja zerstört und viele Menschen getötet. Dem Chor der Frauen bleibt nur, das Leid zu beklagen, während sie die verwüstete Kriegslandschaft umsonst nach einem Hoffnungsschimmer absuchen. Jede von ihnen hat ihre eigene Geschichte: z.B. die schöne Helena (Nicola Lembach), die überall die Fremde ist, die abgesetzte Königin Hekabe (Jutta Richter-Haaser) oder die nie Königin gewordene Andromache (Julia Bartolome). Gemeinsam ist ihnen, dass sie etwas verloren haben. Sie irren umher, trinken, haben – mal mehr mal weniger glaubwürdige – Gefühlsausbrüche, weinen, schreien, zweifeln und liegen buchstäblich am Boden.

Anspielungen auf gegenwärtige Kriege

Und das alles im Namen der Kultur. Denn für diese will Agamemnon gekämpft haben, der die Vernichtung Trojas mit einem nüchternen "Die Operation ist abgeschlossen" kommentiert. Er sieht sich als General, der nur seine Pflicht erfüllt, gegen die Barbarei, für die Demokratie. Er schwingt Reden, die klingen, als hätte er sie lange geübt und schlägt einen Ton an, der uns aus den Nachrichten vertraut ist. Sogar über dem Leichnam seiner Tochter hält er eine solche emotionslose Rede. Neben Agamemnons Sprachduktus und der Rede von moderner Kriegsführung, dem Kampf gegen den Terror und Elite-Soldaten machen Detonationsgeräusche und Fernseher Anspielungen auf gegenwärtige Kriege und Politik.

Auch das Bühnenbild, ein verschiebbarer Kasten, in dem vier zum Zuschauerraum hin offene Räume untergebracht sind, baut Brücken zum Heute. Solche mehretagigen Bauten hat man schon des Öfteren auf Bühnen gesehen und könnte es als schöne Kulisse abhaken, wenn es nicht eine Szene gäbe, in der dieses Bühnenbild auf einmal eine Assoziation von zerbombten, in der Mitte auseinander gerissenen Häusern zuließe, deren Innerstes schutzlos nach außen gekehrt wurde.

Frauen als Anklägerinnen

Ebenso schutzlos wirken bisweilen die Frauen. Doch glücklicherweise ist die Täter-Opfer-Rollenverteilung in "Atropa" nicht so eindeutig. Agamemnon wäre so gern ein Opfer seiner Pflicht, doch keiner nimmt ihm das ab. Die Frauen sind zwar mit allen Opfer-Attributen ausgestattet, treten aber auch als Ankläger auf. Sie verschaffen sich Gehör und werden nicht müde, die Greuel anzuprangern. Die Figuren sind mit Ambivalenzen ausgestattet, wofür die Überblendung der Iphigenie- mit der Kassandrafigur, beide mit viel Einsatz und Elan gespielt von Henriette Schmidt, wohl das deutlichste Beispiel ist.

Bei Aischylos tötet Klytämnestra schließlich den aus Troja heimkehrenden Agamemnon als Vergeltung für die Opferung ihrer gemeinsamen Tochter Iphigenie. Bei Lanoye kommt es anders: Die Rächerin tötet nicht ihren Gatten, sondern die als Kriegsbeute mitgebrachten Trojanerinnen auf deren eigenen Wunsch. Dann geht sie und lässt Agamemnon allein zurück, damit er seine letzte große Rede halten kann, die genauso hohl klingt wie die vorherigen.

Mitunter trägt die Inszenierung schwer an der Wortgewalt des Stückes und der Last der großen Themen; an den großen Namen und Erwartungen, die am Ende nur teilweise erfüllt worden sind.

 

Atropa – Die Rache des Friedens (DSE)
von Tom Lanoye
Deutsch von Rainer Kersten
Inszenierung: Georg Schmiedleitner, Bühne: Stefan Brandtmayr, Kostüme: Cornelia Kraske.
Mit: Michael Hochstrasser, Henriette Schmidt, Isabella Szendzielorz, Nicola Lembach, Jutta Richter-Haaser, Julia Bartolome und Ensemble.

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Mehr lesen? Der belgische Dramatiker Tom Lanoye, Jahrgang 1958, ist der Mann fürs Mythische. Bekannt wurde er hierzulande als Autor von Luk Percevals Shakespeare-Panorama Schlachten (1998). Und mit dem Stück Mamma Medea, 2001 in Antwerpen uraufgeführt, das u.a. Jorine Dröse im Januar 2009 am Thalia Theater Hamburg inszenierte. Armin Petras brachte am Berliner Maxim Gorki Theater Mefisto Forever heraus, ein Stück, das vage um den Mythos Gustaf Gründgens kreist.

Kritikenrundschau

In Tom Lanoyes "Atropa" werde "sehr viel und sehr wenig zugleich" erzählt, meint Wolf Ebersberger von der Nürnberger Zeitung (26.10.): der Krieg um Troja "aus der Perspektive sechs leidtragender Promi-Frauen". Das aber "zu einem spannenden Gefüge, einem erhellenden Ganzen über die zerstörerische Macht der Mechanismen zusammenzublenden", sei Regisseur Georg Schmiedleitner "nicht wirklich gelungen". Seine Inszenierung beeindruckt Ebersberger zwar "äußerlich, in ihrem Designwert", zerfalle jedoch "in eine Abfolge kühl dramatisierter Monologe, die den Betrachter kaum ergreifen" und manchmal bloß "die morbide Eleganz einer Antikriegs-Modenschau" hätten – "schicker als das hier versammelte Tragödienpersonal" könne man sich kaum grämen. Auch fragt sich der Kritiker, ob man Michael Hochstrasser eher loben oder doch schelten sollte, dafür, dass er den Agamemnon "als Softie" anlege und die von Lanoye "in seine teils hochpoetischen Verse eingeschmuggelten Bush- und Rumsfeld-Zitate in harmlos-naivstem Ton" liefere. "Der Troja-Clan: eine Seifenoper? Gähn!"

Diese "Atropa"-Inszenierung sei kein "großer Wurf", vielmehr "ein harter Brocken – was sowohl an der sperrigen Textvorlage als auch an der routinierten Regie liegt", befindet auch Steffen Radlmaier in den Nürnberger Nachrichten (26.10.). Der Krieg wirke dabei "anfangs fast wie ein leises Kammerspiel. Man redet darüber, aber man spürt ihn nicht". Aus Radlmaiers Sicht spielt Hochstrasser "einen eiskalten Machtstrategen, der sich (Vater-)Gefühle nicht leisten kann" und "Bomben und Terror emotionslos mit hohl tönenden Worten" rechtfertige. Den Schluss deute Lanoye dann "radikal um: Agamemnon wird (...) nicht von Klytämnestra umgebracht, sondern – in einem schrecklichen Akt weiblicher Solidarität – um alles gebracht, was ihm lieb und teuer ist. Kassandra allen voran." Jedoch wirkt dieser "inszenierte Gewaltexzess" mit geschwungener Axt und Kunstblut auf den Kritiker "unfreiwillig komisch". Allein Agamemnons "zynische Rechtfertigungen" erscheinen ihm "erschreckend aktuell und klingen nach".

Die Texte von Euripides und Aischylos mutierten hier "mit absolut gleitendem Übergang zur Pentagon-Prosa jüngster Vergangenheit ins messerscharfe Welt-Drama von heute", beschreibt Dieter Stoll in der Abendzeitung Nürnberg (26.10.). Schmiedleitners Inszenierung zeige "die Gefühle wie im Gefrierschock" und ordne "der Wucht des Wortes die Gewalt der sparsam, aber stark eingesetzten Bilder" unter, hole sich "ihre Kraft aus der Wut der Frauen". Das belgische Stück hält er in seiner deutschsprachigen Erstaufführung für "schlichtweg überwältigend. Es trifft auf den Punkt." Hochstrasser spiele den Agamemnon "verblüffend soft wie an einer Hohlnadel mit Kreide-Infusion" und als "Pragmatismus-Ungeheuer". Der Regisseur achte bei Gestaltung der Frauenrollen "sehr darauf, dass weder Klagemauerblümchen noch Frauenpower-Mahnmale entstehen" und "in größter, schon an der Schmerzgrenze schrammender Dramatik tänzelt das Stück plötzlich auf Schaumkrönchen von Satire". Gespielt werde das alles von einem "fabelhaft homogenen, in jeder Geste eisig glitzernden Ensemble".


Georg Schmiedleitner mache, schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (5.11.),  aus "Atropa" keine Regieschlacht, sondern ein "gedämpftes Kammerspiel des Schreckens". Die "konzentrierten, diskursiven Szenen" machten die Intensität dieser "schwer unterkühlten Inszenierung" aus. Die Frauen sähen in den Kostümen von Cornelia Kraske aus, als hätten sie sich "für einen Champagner-Empfang chic gemacht". Agamemnon sei "die Schwachstelle der Inszenierung", weil Michael Hochstrasser ihm "weder Manpower noch Charisma" verleihe. "Die Frauen aber, vom walkürenhaft erotischen Muttertier Klytämnestra (Isabella Szendzielorz) bis zu der Löwin Hekabe (Jutta Richter-Haaser), sind enorm. Nicola Lembach spielt mit mondäner Gereiztheit eine Helena, die ihre Schönheit verflucht und sich mit den Troerinnen solidarisiert; Julia Bartolome ist bewegend, wenn sie als Andromache vergeblich ihr Baby zu retten versucht, und Henriette Schmidt wandelt sich in der Doppelbesetzung als Iphigenie und Kassandra von der fundamentalistisch gesinnten Tochter, die beherzt in den Opfertod geht, zur schäumenden Terroristin."