Das Prinzip Berlusconi

Berlin, 27. Oktober 2009. Veline, so nennt man in Italien die strahlenden Mädchen, die die Fernsehprogramme des Berlusconianischen Mediaset-Imperiums bevölkern. Sie geben sitzend oder kniend den hübschen Rahmen der berühmten Comedy-Sendung Striscia la notizia ab, sie reichen dem Talkmaster die Karteikarten oder ziehen bei Gewinnsendungen das Los aus der Trommel. In den allermeisten Fällen bleiben sie stumm, tanzen viel und lächeln immer, haben lange Haare und sind ziemlich leicht oder zumindest enganliegend bekleidet. Übrigens findet sich diese allgegenwärtige erotische Zier auch schon im Vorabendprogramm.

In den edlen Berufsstand der Velina aufzusteigen, davon träumen in Italien Tausende weibliche Teenager, der Job des Damen-Duos bei "Strisca la notizia" ist mutmaßlich ebenso begehrt wie die Teilnahme bei den "Miss Italia"-Wahlen, ein Medienspektakel von nationalem Interesse. Abgesehen von dem zweifelhaften Frauenbild, das hier befördert wird, ist es vor allem haarsträubend, welche Karrieren die Velinen bisweilen in Berlusconis Popolo della libertà-Partei machen; sie werden auf Wahllisten gesetzt und auch tatsächlich des Öfteren in irgendwelche Parlamente gewählt.

Dass das Prinzip Berlusconi einem jeden – sei er nun Bäcker, Sparkassen- angesteller oder eben Velina – die Möglichkeit des Aufstiegs in die Sphäre der Reichen, Schönen und Mächtigen vorgaukelt, ist eine der Erklärungen für seinen Erfolg. Eine zweite, dass Berlusconi die Leute von dem Gefühl erlöst, "dass etwas nicht in Ordnung sein könnte mit ihren Instinkten" wie Ulrich Ladurner/ Birgit Schönau im Juli in der Zeit schrieben: "Niemand ist unfehlbar auf dieser Welt, alle sind verführbar von der Macht, dem Geld, dem Sex. Alle sind wir wie Berlusconi, und darum kritisieren wir uns selbst, wenn wir ihn kritisieren. Wollen wir das wirklich? Ist es nicht schöner, wir akzeptieren uns, wie wir sind, ein bisschen korrupt, ein bisschen verlogen, ein bisschen rücksichtslos?"

Wer je eine zeitlang unter dem Einfluss jener einschlägigen TV-Berieselung gestanden hat, wird bei Armin Petras' Kaufmann in Venedig-Inszenierung am Maxim Gorki Theater geradezu reflexhaft an die Showgirls des Silvio, einst Schlagersänger auf Kreuzfahrtschiffen, heute zum dritten Mal gewählter italienischer Ministerpräsident, denken müssen. Wenn Shylocks Tochter Jessica (Julischka Eichel) sich dem ältlichen, aber schick behosten Lorenzo im Orientteppich-Schau-Fenster darbietet und über dem durchsichtigen Netzbody lediglich ein paar schwere Goldketten auf dem Busen trägt, kniet sie dort in einer typischen Velinen-Pose und quält sich ein Lächeln ins Gesicht.

Die reiche Porzia lässt Petras bei Sabine Waibel weniger durch Eloquenz und Schlagfertigkeit, die die Shakespeare-Figur auszeichnet, als durch kokettes Haare-aus-der-Stirn-Streichen auffallen. Und ihre Gespielin Nerissa hat in Gestalt der Modell-schönen Sarah Franke auffallende Ähnlichkeit mit der Ramazotti-Ex-Gattin Michelle Hunziker. Zum antrainierten Repertoire dieser maßgeschneiderten Weiblichkeits-Oberflächen gehört es etwa auch, dass die beiden, bevor Porzia zum Altar geführt werden soll, Bassiano und seinem Begleiter erstmal in williger Velinen-Stellung den Hintern zum Tätscheln hinstrecken. Die sonstigen venezianischen Damen am Set dienen konsequenterweise übrigens gleich ganz ausschließlich der Dekoration irgendwelcher Männerschultern.

Das lustig sich durch eine Bankrott-bedrohte Welt amüsierende Berlusconi-Völkchen ist offenbar die Folie, die Armin Petras über seinen gesamten "Kaufmann" legt – und das geht erstaunlich gut auf. Zwanglos fügen sich die Details ins Bild. Von Anbeginn überstrahlt das "Dolce"-Label (ohne "Gabbana") am Bühnenportal die Edelklamottenshow, in der Peter Jordan als Diener Lanzelot virtuos witzig zwischen Italienisch, Englisch und Deutsch kauderwelscht und seine "La crisa, la crisa", "Vaffanculo" und sonstigen Italo-Sprüche mit den entsprechenden, ziemlich originalgetreuen Gesten untermalt.

Auch Bassiano fällt bisweilen in diesen Slang, ansonsten trägt der Schnösel Goldkettchen und lebt über seine Verhältnisse. Dass der angetrunkene Party-Hopper sein Pleite-Sein dabei nicht sonderlich ernst nimmt, zeigt die Tatsache, dass er in Tiefschlaf fällt, bevor Antonio seiner Bitte um Kredit überhaupt stattgeben konnte. Immer wieder werden auch Rassismen angespielt, neben den Shakespearetext-getreuen antisemitischen Anwürfen gegen Shylock improvisiert Jordans Lanzelot über "Neger", "Schlitzis" und "Mongos", Worte, die in Italien doch meist (noch) unbekümmerter über die Lippen gehen als im politisch korrekteren Hierzulande.

Wenn Jessica und Lanzelot Filmeraten spielen, malt Jessica in den Kreide-gezeichneten Fernseher auf der Sperrholzwand ein "RAI 2"-Logo des italienischen Staatsfernsehens in die Ecke, zappt sich durch alle möglichen Kitschszenen und schaltet, sobald irgendwo die Seriösität eines Nachrichtensprechers droht, sofort um – auch dies ein Kommentar auf die Unterhaltungs-betäubte Mediaset-Welt.

Und wenn am Ende der Urteilsspruch über Shylock gesprochen wird, so ist das deutlich als Rechtsbeugung inszeniert. Schon bei Shakespeare bittet Bassiano die als Rechts-Doktor auftretende Porzia: "Beugt einmal das Gesetz nach Eurem Ansehn: Tut kleines Unrecht um ein großes Recht, Und wehrt dem argen Teufel seinen Willen." Petras' Porzia hält kein blitzgescheites Plädoyer, sondern ist vielmehr eine sich mit hohl gewordenen Worten aufs "Herz" berufende Opportunistin, eine Art Advocata diaboli, die vermeintlich der guten Sache das Wort redet und doch nur nach dem gesetzlichen Schlupfloch für die Ihrigen Ausschau hält – und der die Lösung dann mehr zufällig einfällt.

Auch hier kann man getrost nicht nur aus dem Staatshaushalt ausgelagerte Sonderfonds, sondern getrost auch die juristischen Kapriolen des der Korruption und Steuerhinterziehung verdächtigten italienischen Ministerpräsidenten assoziieren, dessen Immunität vor Strafverfolgung erst vor Kurzem endlich für verfassungswidrig erklärt wurde.

Angereichert wird das Italo-Tableau noch mit einer Vielzahl zusätzlicher Beigaben. So brandet immer, wenn der nicht sonderlich helle, aber selbstbewusste Bassiano seine poshe Porzia per Kästchen-Trick endlich zu gewinnen trachtet, die "Vincerò"-Stelle ("Ich werde siegen") aus Puccinis berühmter Nessun dorma-Arie auf, die sinniger Weise jener Oper entstammt, in der der Prinz Kalaf die Prinzessin Turandot eben dadurch gewinnt, dass er drei Rätsel löst.

Zwischendurch dringt immer wieder italienischer Schlagerschmalz durch. Cristin Königs Antonio will das verzweifelte "Ti amo, ti amo, ti amo" nach Umberto Tozzis Super-Hit in einer berührenden Szene einfach nicht zur schönen Melodie geraten. Shylock, der die Rache von den Christen lernen will, wie es Regine Zimmermann in einer zentralen Szene herausschreit, wird eine Filmmelodie aus dem "Paten" beigegeben und erinnert auch kostümmäßig ans Mafia-Film-Genre.

Die Finanzkrisen-Analogie ergibt sich in Petras' leichthändigem, detailgenauem und schlüssigem Kaufmann-Kommentar quasi von selbst – und ohne naheliegende Verfrachtung etwa ins Managermilieu. Ist unser Dilemma in der verschwenderischen Partylaune Bassanios doch ebenso greifbar wie bei der spontan Zehntausende von Dukaten wie nichts dahinversprechenden Porzia oder der an einem Abend Unsummen durchbringenden Jessica. Auf dem Boden der finanzwirtschaftlichen Tatsachen stehen diese Figuren alle nicht. Und Shylocks Beharren auf dem denkbar konkretem Gegenwert seines Schuldscheins, einem Pfund Menschenfleisch, wird in dieser Welt der losgelösten Geld-Virtualien zu einer geradezu nachvollziehbaren Position.

Es ist ein Assoziationsfeuerwerk, das Armin Petras hier abbrennt und dessen zahlreiche Regieeinfälle eben von jener Berlusconi-Folie zusammengehalten werden. Oh pervertiertes Dolce Vita, oh brutta Italia! Ja, schlimm ist es bestellt um der Deutschen Traumland Nr. 1. Aber vielleicht täte man gut daran, sich von diesem Alptraumland nicht allzu weit entfernt zu wähnen.

(ape)

Hier geht's zu den gesammelten Blog-Beiträgen im Menü "gemein & nützlich".