Tiefe Einblicke ins Elternhaus

von Stefan Bläske

Wien, 31. Oktober 2009. Wofür hat man eigentlich eine Familie? Verwandte? Geschwister? Für Violet Weston ist die Antwort klar: Vielleicht braucht man ja mal 'ne neue Niere. Außerdem lässt sich an Familienmitgliedern besonders gut herumnörgeln. Der Großonkel mokiert sich über den vegetarischen Teenager, die Mutter mäkelt am Outfit der erwachsenen Tochter. Aber dennoch haben die Westons mehr zu bieten als den ganz normalen, schrecklich netten Familienwahnsinn.

Beerdigungen und Familiengeheimnisse

Violets Mann bringt sich um, dramaturgisch klug zu Beginn des Stückes. Zum Beistandleisten reisen Schwester, Schwager sowie die drei erwachsenen Töchter samt Anhang an. Aber das Treffen bringt nicht nur die schwarzen Beerdigungsanzüge ans Tageslicht, sondern auch so manches bislang wie ein Grab gehütetes Familiengeheimnis. Schwelende Konflikte brechen auf, es kommt zur verbalen Abrechnung. Wer hat Angst vor Violet Weston und ihren Verwandten?

Bei der deutschsprachigen Erstaufführung vor genau einem Jahr in Mannheim kam kaum ein Kritiker ohne den Hinweis aus, Tracy Letts habe sich für sein pulitzerpreisgekürtes Werk "August: Osage County" (deutsch: "Eine Familie") wohl bei Ibsen und Tschechow, Eugene O'Neill, Tennessee Williams oder Edward Albee bedient – vielleicht sogar bei allen zugleich. Die einen werteten das als epigonal, die anderen als kongenial.

Großmamas verlässlichster Freund

Aber auch an eine Sitcom fühlten sich viele erinnert. Letts Stück ist eine tragikomische Mischung aus naturalistischem Drama und Well-made-Boulevard. Alvis Hermanis hat sich dafür in Wien nun an einer besonders "realistischen" Inszenierungs- und Bühnenform versucht, es geht ihm ganz um Illusionismus und Authentizität. Die Darsteller tun, als gäbe es eine vierte Wand, dabei fehlt die sogar besonders auffällig, denn auf der Bühne steht ein zweigeschossiges Familienhaus mit offener Front. Die Zuschauer blicken voyeurhaft in das material-gewordene Lebenswerk eines Rentner-Paares, ein wohlig warmes Zuhause, mit loderndem Feuer im offenen Kamin.

Die Räume sind mit Gebrauchtgegenständen und einer Detailliebe ausgestattet wie häufig bei Hermanis, jeder Gegenstand erzählt stumm eine kleine Geschichte. Im ehemaligen Kinderzimmer im oberen Stockwerk lösen sich langsam die Blumentapeten von den Wänden, unten quillt ein Arbeitszimmer über vor Büchern und Zeitungsstapeln. In deren Mitte ein abgewetzter Ledersessel, auf dem der alte Dichter und Trinker Beverly Weston (Michael König) noch ein letztes Mal durchschnauft, summend und winselnd, bevor er geht und stirbt.

Szenen verschiedener Ehen

Für ihre zynischen Kommentare und Pointen muss sich seine Frau nun neue Adressaten suchen, da kommen die drei Töchter gerade recht. Kirsten Dene brilliert als bitterböse und doch verletzliche Großmama, der ihre Beruhigungspillen zum verlässlichsten Freund geworden sind. Auf die Familienmitglieder hingegen ist kein Verlass, wie alle auf die eine oder andere Art schmerzlich erfahren müssen.

Im Zentrum steht Barbara, die älteste Tochter, ein Emotionsbündel, aufgewühlt vom Tod des Vaters und dem Bröckeln der eigenen Ehe. Sie versucht, Haltung zu bewahren und die Familie zusammenzuhalten, sie selbst hält sich fest an häuslicher Hyperaktivität, bezieht Betten, deckt den Tisch, räumt die Wohnung auf: regelt das Äußere, weil das Innen sich so einfach nicht aufräumen lässt. Dörte Lyssewski füllt diese Rolle mit großer Energie, immer ein bisschen überdreht und "drüber". Ihr Mann, wunderbar gespielt von Falk Rockstroh, ist das Gegenteil, er bleibt so ruhig, dass es grausam ist: begleitet sie zur Unterstützung zwar ins Elternhaus, aber die Beziehung ist längst aus für ihn, den Unidozenten, der es mit einer Studentin treibt. Und während Barbara versucht, um die Beziehung zu kämpfen, weicht er nur aus, sucht professionelle Distanz und Beherrschung, selbst dann noch, wenn sie – in einer emotional aufwühlenden Szene – wutentbrannt mit Kopfkissen auf ihn einschlägt. Ihr Engagement geht ins Leere, und so endet sie auch leer. Beginnt zu trinken, bleibt im Elternhaus, bei der Mutter.

Eine Weston bleibt eine Weston

Nach dem anfangs trunkenen Vater und der ständig tablettenschluckenden Mutter geht am Ende auch die älteste Tochter zur Drogerie, es gibt kein Entrinnen: Der fünfstündige Abend (mit zwei Pausen) ist komplett in Tabletten und Alkohol getränkt, von Figuren mit wortzerdehnender Sprechweise geprägt: So phantastisch das von den Darstellerinnen gespielt sein mag, so mühsam wird es doch auf Dauer, zumal gegen Ende, wo dann nochmal vorgeführt wird, was längst klar ist: dass eine Weston eben eine Weston bleibt. Der Abend sackt ins Melodramatische ab, das schon die ganze Zeit ein bisschen mitschwingt.

Bei aller Freude darüber, was für ein schauspielerisches Feuerwerk Hermanis mit einem starken Ensemble gezündet hat, geht das Konzept des Naturalistischen nur bedingt auf. Der originalgetreu übernommene Text ist dafür womöglich eine Nummer zu boulevardesk, die Spielweise und das perfekte Timing und Pointen-Setzen der Darsteller zu Lacher-heischend, der vorgebliche Realismus des Bühnenbilds nicht konsequent genug durchgesetzt etwa in der Beleuchtung oder in den Szenenwechseln, die das Theatrale mal ausstellen, mal verschleiern, ohne darin konsequent zu sein.

Im Ansatz filmische Ästhetik

Egal, wie sehr das Ensemble versucht, möglichst natürlich und authentisch zu agieren, als wäre die vierte Wand verschlossen, als spielten sie wie für eine versteckte Kamera: es bleibt doch immer Theater, kann gar nicht anders als künstlich-theatralisch wirken. Der an sich reizvolle Versuch einer Dogma-Ästhetik (besonders gelungen in der Tischszene beim Leichenschmaus, die an Vinterbergs "Das Fest" erinnert), hätte vielleicht noch konsequenter umgesetzt oder aber deutlich gebrochen werden können.

Alvis Hermanis' Arbeiten beeindrucken doch gerade dort besonders, wo sie den Hyperrealismus nicht allein stehen lassen, sondern das Spiel, die Gemachtheit, das Theatralische mitthematisieren, wie etwa beim Spiel im Spiel in "Sonja" oder in der Inszenierung "Väter", wo die Darsteller während der Aufführung altern, indem sie auf der Bühne geschminkt werden. Das gibt es dann nächsten Monat im Burgtheater zu bestaunen. Vielleicht lassen sich die "theatralische" und die "filmische" Arbeit, die beiden Inszenierungen über Väter und Familie, ja in Relation lesen.

 

Eine Familie 
von Tracy Letts
Deutsch von Anna Opel
Österreichische Erstaufführung
Regie: Alvis Hermanis, Bühnenbild: Monika Pormale, Kostüme: Rudolf Bekic, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Kirsten Dene, Sarah Viktoria Frick, Dorothee Hartinger, Roland Kenda, Dietmar König, Michael König, Dörte Lyssewski, Barbara Petritsch, Martin Reinke, Falk Rockstroh, Sylvie Rohrer, Anna Starzinger.

www.burgtheater.at

 

Mehr zu Alvis Hermanis im Nachtkritik-Archiv: Auch Dostojewkis Der Idiot stattete er im Februar 2008 im Zürcher Schiffbau mit detailverliebter Finesse aus. Bei den Wiener Festwochen inszenierte Hermanis im Mai 2009 Schukschins Erzählungen. Im April 2009 animierte er für seine Geheimnisse der Kabbala in Köln Geschichten von Isaac Bashevis Singer. Hermanis' kleine, aber sehr feine Inszenierung Sonja ist immer noch quer in Europa auf Gastspielen zu sehen.

 

Kritikenrundschau

Wie andere fühlt sich auch Christopher Schmidt von der Süddeutschen Zeitung (2.11.) bei Tracy Lett's "nach traditionellem Rezept" zubereiten Stück "Eine Familie" an O'Neill, Tschechow, Williams und Albee erinnert, allerdings seien "archaische Wucht und tragisches Melos" bei Letts dem "schnellen, bösen Dialog-Witz der Fernseh-Sitcoms gewichen". Die Wiener Schauspieler ließen diese "Gemeinheiten schön flach ins Ohr flutschen, anstatt sich auf die Pointen draufzusetzen, und überzeugen durch brillantes Underacting", allen voran Dörte Lyssewski, als Barbara "eine fahrige, hypermotorische Puritanerin". Vielfach etabliere die Körpersprache eine zweite Ebene, wodurch komplexe Figuren entstünden, "die nicht nur situativ, sondern immer auch charakteristisch agieren". Schon Monika Pormales Bühne sei "ein anti-reduktionistisches Manifest" und zeige das verwahrloste Weston-Anwesen als eine "überladene Krempellandschaft" – "eine Überdosis Naturalismus, und genau darin besteht der Kunstgriff der Inszenierung": dass sie diese zur Konvention abgesunkenen Kunstform "noch einmal auf die Höhe seiner ursprünglichen Intentionen bringt". Einerseits zeige der Naturalismus hier, "dass er eine hochvermittelte Kunstform ist", andererseits verhelfe Hermanis dem Stück so "zu einer überwältigenden Lakonie, die es wegrückt von den schweren Ölgötzen seiner Vorbilder und in die Nähe von Raymond Carver oder Richard Ford, den heutigen Chronisten des amerikanischen Mittelstands".

Zum Wohlgefallen Gerhard Stadelmaiers von der Frankfurter Allgemeinen (2.11.) guckt Hermanis hier einmal nicht, wie meist, "eher undramatischen Leuten", sondern "dramatischen Leuten beim Leben" zu. Herauskämen fünf "herrlich kurze" Stunden, in denen die Figuren wirken wie "lauter Aufgespießte, bei denen die Stacheln durch Seelen und Hirne sich gebohrt haben". Sie bewegten sich durchs Haus, "als seien sie nicht auf einer Bühne, sondern bei sich zu Hause", so dass man ihnen zuschaue wie "Voyeure, die erst eine vierte Wand (...) wegräumen müssen, um mitzubekommen, was eigentlich viel zu intim ist, als dass es uns etwas angehen dürfte". Und eben dieses "in seinen Abläufen genial komponierte Beiläufige, Nebeneinanderherlaufende " bekomme in der "Zuguck-Regie" Hermanis' "ein leises Fieber, ein sanftes Vibrieren, eine überwältigende dramatische Öffnung hin zu einer Schmerzens- und Verzweiflungswelt. Die uns angeht. Sie alle spielen derart gut, dass man gar nicht spürt, dass sie spielen". "Eine Familie" dementiere, "dass es Familie gibt. Dass Amerika eine Wunde ist, die immer nur an Individuen vernarbt. Das haben Dutzende andere Theaterstücke auch schon getan. Aber noch keines hat so schön darüber getrauert – ohne darüber zu weinen. Sondern sogar noch zu lachen."

Das Stück sei "eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit", befindet Ronald Pohl im Standard (2.11.), feiere "in dieser ausufernd redseligen O'Neill-Paraphrase" doch das "Südstaatenmelodram seine nicht mehr für möglich gehaltene Auferstehung". Und das auch noch in einer "bestürzend großartigen Aufführung". Beinahe unglaublich sei es, "mit welcher Selbstverständlichkeit Letts die Schatzkammern des bürgerlichen Trauerspiels – Abteilung: US-amerikanischer Mittelwesten – geplündert hat". Die "herrlichen Schauspieler" nähmen "das Tragödienformat an, beharren aber auf angelsächsischer Leichtigkeit". "Wann hat man die große Dene zuletzt derart souverän gesehen?", fragt Pohl begeistert. Sie sei "das wahre Ereignis dieser fünfstündigen Einfamilien-Schlacht". Das sei "großes Kino, von Hermanis episch inszeniert".

"Wer hier wohnt, der lebt in der Vergangenheit", konstatiert Stephan Hilpold in der Frankfurter Rundschau (2.11.) angesichts des Bühnenbildes. Dieses Haus wolle nicht nur "das Inbild einer Familie sein, die einmal jung und hoffnungsfroh war und (...) jetzt am Endpunkt angekommen ist", sondern auch "ein Stückchen Amerika symbolisieren, dessen Träume zerplatzt sind, aber das sich doch noch stark gibt und unnachgiebig". Hermanis inszeniere "das im Plauderton einer durchschnittlichen amerikanischen Sitcom geschriebene Stück, als arbeite er an einer Musterinszenierung von Stanislawskischem Zuschnitt". Für die Schauspieler sei's "ein Fest", "kein Thema der Weltliteratur (Sparte Familiendrama) wird ausgespart, jede Pointe ausgespielt", und am Ende wisse man nicht mehr, ob's "eher Tragödie oder Boulevardkomödie ist", jedenfalls sei's ein "Stück Broadway".

"Menschenbühnenkunst" hat Ulrich Weinzierl von der Welt (2.11.) beigewohnt. Bei der UA am Broadway und bei der DEA in Mannheim sei aus dem Text "Psycho-Boulevard der Sonderklasse" gemacht worden. Hier indes packe Hermanis das Publikum und nehme es mit "auf eines langen Abends Reise in die Nacht, beklemmend in seiner fürchterlichen Komik". Dem "akribischen Naturalismus der Szene eignet (...) Gespenstisches", man erkenne "das gemütlich vollgemüllte Eigenheim der toten Seelen. Hoppla, das sind doch wir!" Die fünf Stunden rechtfertigt Weinzierl so: "Eine Saga verträgt nun mal epische Breite, ein Panorama darf unter dem Mikroskop betrachtet werden." Die "ungewöhnliche Qualität der Produktion", zeige sich "am Niveau der Darsteller", die ausschließlich über sich hinauswüchsen. "Das Ensemble aus lauter Solisten sorgt für einen Triumph der Schauspielkunst, fern des Klamauks und der Klamotte". Kirsten Denes Violet werde gar "zum Ereignis, atemberaubend in der Eleganz ihrer faszinierenden, erbarmungswürdigen Abscheulichkeit".

"Inzest, Selbstmord, Missbrauch, Sucht, Gewalt – liest man die Ankündigungen, könnte man glauben", Letts "hätte auf einer Liste alles abgehakt, was billigen Effekt macht", so Barbara Petsch in der Presse (2.11.). Im Akademietheater werde dann aber doch etwas anderes geboten "als die kalkulierte Anhäufung von Katastrophen" einer typischen amerikanischen Familientragödie. In dem Neurose-freien indianischen Mädchen Cheyenne zeichne Letts das Gegenbild zur US-Gesellschaft – habe „Eine Familie“ doch auch "eine politische Botschaft: das Resümee der Bush-Ära, in der die USA an der Welt und an sich selbst verzweifelten". Man könne nach dem ersten Akt eigentlich das Kreuz über diesen Stück-Klon machen, "speziell da der Text nur teilweise verständlich ist – eine grobe Unsitte –, die Gesprächspausen sich bedrohlich in die Länge ziehen, (...) und es hier einfach von A bis Z null Neues zu sehen gibt". Aber Letts sei ein "sehr guter Handwerker", Hermanis ein "mittelguter Regisseur, der hier mit Präzision und ideal dosierter Emotion fast zur Meisterschaft aufläuft – und das Ensemble ist himmlisch!" Alle Schauspieler brillierten. "Die Irritation über die Mängel des Konzepts weicht mehr und mehr der Begeisterung".

 

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