Besenkammerspiel mit Sukkulent

von Sabine Leucht

München, 5. November 2009. Zwei graue Betonwände, ein rechter Winkel, eine Tür und ein Fenster, das wieder auf grauen Beton schaut: Wo es im Münchner Volkstheater ohnehin eng ist, auf der kleinen "Nachtkastl"-Bühne, geht es heute fast klaustrophobisch zu. Vier Schauspieler stehen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand, wann immer sie in Richtung Publikum spielen, das an zwei Seiten des Raumes auf je vier Stuhlreihen Platz genommen hat und wie weitere Mauern wirkt: Nur 70 Augenzeugen für ein dreifaches Experiment.

Erstens wird hier ein Stück von Juli Zeh uraufgeführt, das nicht wie ein Stück von Juli Zeh wirkt. Zweitens inszeniert es Bettina Bruinier so gar nicht wie Bettina Bruinier bislang an diesem Haus inszeniert hat. Und drittens wird im Stück selbst das demokratische Gewissen in einen Schraubstock gepresst, in dem es erst Blut schwitzt und dann selbst nach Blut schreit. Um es vorweg zu nehmen: Keines der Experimente misslingt, aber Proband Nummer drei ist am Ende mausetot.

Demokratische Polizeiarbeit in der Zwickmühle

Juli Zeh, das war bislang die Bilderauftürmerin und Sprachdrechslerin, in deren klugen Romanen wie "Adler und Engel", "Spieltrieb" oder "Schilf" sich hochbegabte und "moralbefreite Figuren" tummelten, so bezeichnet die studierte Völkerrechtlerin selbst die Bewohner ihrer oft verkopft wirkenden Erzähl-Architekturen. Nun steht plötzlich in München in einer Ecke dieser Besenkammer von Büroraum die junge Polizeianwärterin Susi, die genau weiß, wie Demokratie funktioniert und wie man sich darin moralisch korrekt verhält: "Ich glaube an Naturschutz, Umweltschutz, Tierschutz, Kinderschutz und Menschenrechtsschutz. Ich bin Mitglied bei Greenpeace und amnesty international, schon seit sechs Jahren, und ich war gegen den Irakkrieg. Von Anfang an!"

Doch nun taucht der "Der Kaktus" auf, festgesetzt als mutmaßlicher Terrorist von Jochen Dürrmann, der vielleicht vom GSG 9, vielleicht aber auch ein Wahnsinniger ist. Da ist Susis unintelligenter türkischer Kollege Cem, der Dürrmanns Eifer faszinierend findet. Und da ist schließlich Polizeioberrätin Dr. Schmidt, die die Situation zum Kochen bringt, indem sie den frei schwebenden Vernehmungsirrsinn mit Fakten erdet: Prompt heißt der Kaktus Mehsud, sein Ziel ist der Frankfurter Flughafen und es winken 3.000, 5.000, 15.000 Tote. Zu viel für demokratische Methoden!? Zeit für etwas Abu Ghraib im Namen der Rettung des Abendlandes?

Handlich als Well-made Kammerspiel

Eine Satire auf die grassierende Sicherheitshysterie hätte man von der Co-Autorin des Bürgerrechts-Pamphlets "Angriff auf die Freiheit" sehr wohl erwartet, nicht aber so ein handliches, unprätentiöses, geradliniges Well-made-Boulevard-Kammerspiel, das Umgangssprache, schrille Klischees und plakative Typen zu einem vergnüglichen Cocktail mixt, in dem nur hier und da bekannte Spitzfindig- und -züngigkeiten schwimmen. Ein bitterer Cocktail, denn etwas von der Idealistin, die am Ende dem Kaktus den Schädel einschlägt, steckt wohl in uns allen.

Bettina Bruinier, die am Volkstheater schon Juli Zehs 384-Seiten-Roman "Schilf" entwirrte und die Wechsel der Perspektiven und Schauplätze mit verschiedenen Erzählweisen, Maskenspiel und Rollenwechseln wunderbar spielerisch konkretisierte, geht diesmal ganz anders vor und konzentriert sich in einer fast bilderfreien Zone ganz auf die Schauspielerführung. Das ist gut, solange sie mit Stefan Ruppe, Kristina Pauls und Thomas Schmidt Akteure zur Verfügung hat, die Motive und Befindlichkeiten durch ihre Figuren durchscheinen lassen, ohne sie allzu sehr zu psychologisieren.

Einsatzkommando namens "21. Jahrhundert"

Bruinier, die Juli Zeh sich als Regisseurin für ihren nach dem Prosabrocken Corpus Delicti zweiten Theatertext gewünscht hat, nimmt die Figuren vor ihrer eigenen Beschränktheit in Schutz und erklärt sie lieber etwas zu sehr als sie zu denunzieren. Vor allem der von der Großartigkeit seiner Festnahme-Aktion, einer grenzenlosen 68er-Kindheit und unbewältigten Aggressionen gebeutelte Dürrmann ist bei Thomas Schmidt ein erlebenswertes Armes Würstchen.

Nur mit der Obersicherheitshexe tun sich Bruinier und die "Schilf"-erprobte Sophie Wendt schwer. Wendts Frau Dr. Schmidt, die wunde Punkte erkennt wie ein Spürhund, und Cem was zum Basteln, Susi was zum Stolzsein und Jochen ein paar Grenzen gibt, kommt leider nur schwer ins Spiel. Ob es daran liegt, dass sie einen leibhaftigen Kaktus mitbringt, auf den ihre Mitspieler bis dato gut verzichten konnten? Dieser unmotivierte Schwenk zum Illustrativen und der schon im Stück fragwürdige Schluss sind die wunden Punkte des Abends. Das schwarz gewandete Einsatzkommando namens "21. Jahrhundert", das den wankelmütigen Folterern den Garaus macht, wirkt doch nur wie ein Notausgang.


Der Kaktus (UA)
von Juli Zeh
Regie: Bettina Bruinier, Bühne und Kostüme: Markus Karner.
Mit: Thomas Schmidt, Stefan Ruppe, Kristina Pauls und Sophie Wendt.

www.muenchner-volkstheater.de


Mehr lesen zu Juli Zeh auf der Bühne: Im Archiv finden Sie Nachtkritiken zu ihrem ersten Stück Corpus Delicti, das im September 2007 von Anja Gronau in Essen uraufgeführt und im März 2008 mit dem Jürgen Bansemer & Ute Nyssen-Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde. Im September 2008 inszenierte Sandra Strunz das Stück in Freiburg. Und Jette Steckel brachte im April 2009 Zehs Spieltrieb in Köln auf die Bühne.

 

Kritikenrundschau

In der Welt (7.11.) findet Thomas Meyer , dass Juli Zeh ihre "Botschaft ziemlich dick aufgetragen" hätte. "Die Figuren schultern Atlasähnlich die Last der Welt und leiden zusätzlich an der deutschen Reformpädagogik samt Multikulti-Seichtheit. Die Sätze klingen ein wenig so, wie sich der Streber die Dümmeren vorstellt." Überhaupt wirke das Stück "häufig wie die Bebilderung jenes Pamphlets, das sie zusammen mit ihrem Kollegen Ilja Trojanow unter dem Titel 'Angriff auf die Freiheit' veröffentlicht hat". Zum Glück hätte Bettina Bruinier darauf verzichtet, die Figuren zu Thesenträgern zu machen, dafür "dem gutgelaunt aufspielenden Ensemble Zucker" gegeben und die Schauspieler "bewusst wie Freaks auf Drogen agieren" lassen. "Vor allem Kristina Pauls und Sophie Wendt sorgen für einen letztlich vergnüglichen Abend: Es ist doch eine Komödie".

Auch Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (7.11.) sieht Juli Zeh "bei ihrem Debüt im leichteren Fach" weiterhin als "kämpferische Kassandra", die davor warne, "dass sich der Staat im Kampf gegen den Terrorismus selbst terroristische Methoden zueigen" mache. Sie parodiere "den hysterischen Sicherheitswahn und macht den Anklägern den ebenso kurzen wie leidlich amüsanten Prozess". Allzu "sauber" seien "ihre bewusst klischeehaften Typen" "aus dem Zeitgeist ausgestanzt". Neben ein wenig Selbstironie würden vor allem die Figuren "satirisch abgewatscht". Die Inszenierung könne diese Schwäche "nicht vollends wettmachen".

Michael Schleicher vom Münchner Merkur (7.11.) hat einen "wilden Theater-Ritt" erlebt, "der in seinen besten Augenblicken bissige Satire, in den schlechteren platte Plauderei und allzu konstruiert ist". Das Stück sei ein plakativer Zeit-Kommentar "mit heißem Herzen geschrieben". Doch was in Zehs mit Ilija Trojanow verfasster Kampfschrift "Angriff auf die Freiheit" funktioniere, wirke in ihrem Stück "oft nur naiv, gut gemeint". Wo das Buch aufrüttele, mache die Autorin es sich "bei der Übertragung ihres Themas auf die Bühne manchmal zu leicht. Denn für den Zuschauer ist es einfach, die absurde Kaktus-Folter abzulehnen, sich also auf der richtigen Seite zu wähnen". Trotzdem sei der Abend "ein Theatervergnügen", dank Bruiniers "herzhaft zupackender Regie" und der Schauspieler, die die Textvorlage nur allzu gerne annehmen: Sie "haben Spaß, einmal nicht groß psychologisieren zu müssen, sondern die von ihnen dargestellten Typen kräftig und schrill illustrieren zu können". Da werde "selbst den platteren Dialogen durch Betonung noch eine weitere absurde Drehung entlockt".

Nach Ansicht Christine Diller von der Frankfurter Rundschau (9.11.) fehlen diesem Kaktus die Stacheln. Witz und Wahrheit des Stücks lägen darin, dass der Täter in ein Schema passe, sich aber den legalen Mitteln der Staatsgewalt entziehe. Die hereinplatzende Chefin der Terroreinheit spiele Sophie Wendt "mit schön kaschiertem Wahnsinn". "Amüsant, aber auch ein bisschen erwartbar" sei es hingegen, wie Thomas Schmidts Terrorexperte "selbstquälerisch seine unerträglichen Gutmenschenseiten wiederentdeckt". Und Stefan Ruppe glänze als "zwischen Macho- und Frauenversteher-Image unentschiedener Cem". "Freche, gut funktionierende Dialoge" habe Zeh geschrieben, allerdings sei diese Stück "so well made, dass man sich daran nicht reiben oder gar stechen kann. Über den simplen Konflikt zwischen Massenmord oder seiner möglichen Verhinderung durch Folter, der eigentlich kein Konflikt sein sollte, geht es nicht hinaus". Es bleibt: "eine kleine, schmerzlose Posse in Staatsbürger- und Demokratiekunde".

Anne Fritsch
von der tageszeitung (9.11.) vermag die "dialogische Prägnanz, der Humor und die Leichtigkeit, mit der die Autorin dem schweren Thema begegnet", durchaus positiv zu überraschen. Gekonnt halte Zeh die "Balance zwischen Klamauk und Ernst", so dass ihr "das vermeintlich Unmögliche" gelinge: "ein Boulevardstück mit Demokratiediskurs". Die Autorin entwerfe "ein Dilemma, dem sich keiner entziehen kann" und schicke ihre Figuren in eine "moralische Hölle". Bruinier stelle in ihrer Inszenierung diese vier Individuen in den Fokus, die Schauspieler ließen "unter ihrer präzisen Führung aus den Typen Menschen werden, die mit all ihren Schwächen und Macken glaubwürdig sind". Bei dem "klaustrophobischen Kammerspiel" lenke nichts "den Blick und die Gedanken ab von den Schauspielern". Nachdem der titelgebende Kaktus in der Aufführung lange Zeit abwesend bleibt und die Darsteller in Richtung Zuschauer sprechen, nehme die "alberne Konkretisierung", wenn er schließlich doch noch auftritt, "dem Szenario etwas von seiner durchaus realen Bedrohlichkeit".



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