Mühselige Mythen

von Michael Laages

Potsdam, 6. November 2009. Eigentlich folgt das Theater dem Grundgedanken, auf den sich der frankokanadische Autor, Regisseur und Theaterleiter Olivier Kemeid stützt, gern: Einen der großen mythischen Stoffe der klassischen Antike nachzuerzählen und neu zu erfinden als Geschichte des ewigen Flüchtens und Vertriebenseins, durch alle Zeiten hindurch und damit natürlich ganz handfest aktuell im Hier und Jetzt.

Die Aeneis, das zehn Bücher starke und ungemein sagenschatzreiche Epos des Vergil (abgeschlossen mit dem Tod des Autors vor 2028 Jahren) wird üblicherweise als Hymnus auf den Gründer des römischen Reiches gelesen (denn Aeneas flieht ja aus dem brennenden Troja und landet nach schier unendlicher Irrfahrt im damaligen Kernland der späteren römischen Weltherrschaft). Kemeid indessen nimmt jenseits dieser historischen Verortung den Weg selbst als das Ziel – und will so, mit beträchtlich betroffenheitsstiftender Energie, an die ungezählten größeren und kleineren Völkerschaften erinnern, die an unterschiedlich prominenten Konfliktherden alles zurück lassen müssen, ohne zu wissen, wohin die Flucht wohl führen wird. Auch Kemeids eigene Familie kam einst aus Ägypten nach Kanada. So weit, so überzeugend also.

Drei Schnepfen vom Ausländeramt
Damit das aber nun auch niemand missversteht, durchschießt er die Fabel mit Aktualitäten bis zum Abwinken. Zu Beginn, als Troja gleich brennen wird, amüsiert sich das Volk gerade noch in der Disko. Soll sagen: Es könnte jeden und jede treffen, und zwar gerade dann, wenn damit am wenigsten zu rechnen ist. Wie die albanischen boat people anno 1996 landen Aeneas und die Seinen an einem Club Mediterranée-Strand – mit absehbar klischierten Folgen.

Die (bei Vergil) afrikanische Königin Dido ist bei Kemeid Asylbewerberin, heißt Elissa und kämpft gerade mit drei bunten Schnepfen vom Ausländeramt, die viel lieber Geburtstag oder sonstwas feiern würden, um die Aufenthaltserlaubnis. Erstaunlicherweise bekommt sie die schlussendlich auch – und kann dann ihrerseits Aeneas auf der Flucht beherbergen, weil der sie im Asylbewerberheim vor einer Vergewaltigung durch einen schlimmen Abzocker-Vermieter bewahrte… Weil aber unter Flüchtenden Freundschaft und der göttliche Auftrag mehr gelten als Liebe und Gemütlichkeit, muss Aeneas weiter und steigt – um den auf der Flucht verstorbenen Papa noch einmal nach Weg und Ziel der Flucht zu befragen – hinab in die allertiefste Puff-Unterwelt – mit reichlich Drogen-Pillen in der Birne.

Werdet doch endlich mal rasch Brüder!
Dass hier jeder und jede alles versteht, doppelt und dreifach sogar, ist zuweilen der Nachteil einer derart aufgekratzten Zeitgenossenschaft. Denn vor lauter Nicken fällt uns verständnisvollen Gutmenschen dann gar nichts mehr ein und auf. Schon gar nicht die Tatsache, dass die Menschen in all diesen antikischen Schlachtengemälden geruhsamer leben könnten, wenn ihnen nicht ewig und drei Tage diese vertrackten Mythen auf den schmalen Schultern lasten würden.

Selbst der tote Vater gibt dem flüchtenden Aeneas als Puff-Orakel ja nichts als die schlichte Weisheit mit auf den weiteren Weg, dass er vielleicht doch besser bei Elissa geblieben wäre (die sich in der Zwischenzeit leider selbst verbrannt hat); und dass er gefälligst dem Hass abschwören solle – dabei hat dieser fromme Mann bisher noch nie gehasst. Dummes Orakel, dämlicher Mythos: weg damit! Erst wenn er sich davon befreite, wäre er frei – aber das nur nebenbei. Das ist ja nicht Kemeids Thema – für das Theater blinkt und blitzt seine neue "Aeneis" vor lauter Klarheit; nirgends mehr Rätsel und offene Fragen. Stattdessen müssten nur bitteschön endlich mal alle Menschen Brüder werden. Nur die Verhältnisse – sie sind nicht so.

Rennen, schreien, plantschen, tanzen
Wo schon Kemeid hobelt, arbeitet Sascha Hawemann das Werkstück mit dem Holzhammer nach – für die Schauspielstudierenden des 3. Jahres an der Babelsberger Filmhochschule Konrad Wolf hat er eine Art abendfüllenden Cocktail aus Szenenstudien angerichtet und darf mit ihnen sicher sein, dass weithin die "überquellende Energie" der jungen Leute gerühmt werden wird. Das mag stimmen – gleichzeitig stimmt aber auch, dass diese Wirkung unter Inkaufnahme enormer Redundanzen erreicht wird. Was auch immer sie tun, sei es rennen, schreien, Stühle türmen, mit Wasser plantschen, tanzen, sie tun es entschieden zu groß und entschieden zu oft hintereinander. Reduziert auf Haltung und Handlung im Kern, wäre der Abend nur halb so lang.

Und merkwürdig – selbst bei Sascha Hawemann (der, als er sehr viel jünger war, in Potsdam schon mal Oberspielleiter war) zeigt sich langsam eine Art Gemütlichkeit. Der Soundtrack jedenfalls, den er hier den Schrecken der Flucht unterlegt hat, ist an lauer Schlichtheit kaum zu unterbieten. Und wo er gelegentlich in Magdeburg mit gruseligsten Texten dem Publikum an die Nieren und die Nerven ging, rührt er mit der "Aeneis" nur die Multikulti-Soße an für den kulturkulinarischen Speisezettel von Familie Gutmensch. Das ist bei einer deutschsprachigen Erstaufführung dann doch ein wenig wenig.

 

Die Aeneis (DEA)
von Olivier Kemeid
Deutsch von Frank Heibert
Koproduktion mit der HFF "Konrad Wolf" Potsdam-Babelsberg / 3. Studienjahr Schauspiel
Regie: Sascha Hawemann, Ausstattung: Wolf Gutjahr.
Mit: Katjana Gerz, Juliane Götz, Nora Huetz, Leoni Schulz, Alexander Kasprik, Eric Klotzsch, Akhtarjan Saidi, Sebastian Schlecht.

www.hansottotheater.de

 

Mehr zu Sascha Hawemann: Im Rahmen der Autorentheatertage Hamburg 2008 inszenierte er Juliane Kanns Birds.

 

Kritikenrundschau

"Ein berührender, bewegender Text. So weit die gute Nachricht", schreibt Frank Dietschreit in der Märkischen Allgemeinen (10.11.2009). Die in der Reithalle von Sascha Hawemann inszenierte deutschsprachige Erstaufführung des Stückes dagegen sei aber leider vor allem brülllaut und nervig. Die Darsteller (Studenten des dritten Studienjahres Schauspiel der Hochschule für Film und Fernsehen) müssen in einem fort schreien und rennen, sich mit Blut beschmieren und Plastikstühle aufeinander stapeln, Klos und Fernsehgeräte auf die Bühne schleppen, in einer Rinne baden und wild tanzen. "Pausenlose zwei Stunden ist immer etwas los, Hektik wird zum Selbstzweck, Nachdenken zum Fremdwort. Mitgefühl und Mitleid kann nur schwer aufkommen. Die wenigen ruhigen Momente wirken fast wie aufgeklebt."

Diese deutschsprachige Erstaufführung sei für das Potsdamer Hans Otto Theater ein "Glücksgriff", schreibt Lena Schneider in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (9.11.2009). Autor Olivier Kemeid, der den Versen "eine knappe, schnörkellose, poetische Sprache" gebe, erzähle die "Aeneis" als "Migrationsgeschichte" eines "von Grenze zu Grenze Hetzenden". So inszeniere auch Hawemann Aeneas und die Seinen: "als nonstop Rennende, Fallende, Weiterstolpernde". Die Schauspielstudierenden gäben alles, "sind von der ersten bis zur letzten Sekunde fast ohne Pause in Bewegung – auf der Stelle rennend, über die Bühne fegend, rollend, tanzend, vorangepeitscht von einem über allem ausgerollten Musikteppich". Dabei entfalte der Abend "den Sog einer unaufhaltbar voran bretternden Handlung, der das Nie-Innehaltende der Figuren fast körperlich spürbar macht". Mit der Elissa-Figur ("herausragend: Juliane Götz") erzähle Kemeid exemplarisch von der notwendigen Schärfung des "Blicks für den eigenen Umgang mit 'Fremden'". Die Inszenierung beziehe "bedingungslos Position für die Migrantin" und zeige, "wie willkürlich Einwanderungsbehörden oft entscheiden". Dass Hawemann es schaffe, "bei allem Klamauk, aller betäubenden Partyhaftigkeit seiner Inszenierung" solche Fragen "klar und ernsthaft an die Zuschauer weiterzureichen, ist beeindruckend".

 

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