Fremd sind sie eingezogen

von Anne Peter

Berlin, 7. November 2009. Selten geschieht es, dass die öffentliche Diskussion dem Theater derartige Steilvorlagen liefert. In diese Sarrazin-bewegten Zeiten passt das Berliner "Beyond Belonging"-Festival, das Shermin Langhoff vor drei Jahren am Hebbel am Ufer als Plattform für postmigrantische Kultur entworfen hat, wie die Faust aufs Auge jener Neuköllner Boxclub-Kids, die Matthias Lilienthal zur Eröffnung seiner Intendanz auf die HAU-Plakate drucken ließ.

Wenn irgendwo in Berlin vehement an Türken-Klischees gerüttelt und die von der Politik großflächig versäumte Integrationspolitik erfolgreich nachgeholt wird, dann wohl hier – und nicht erst seit gestern. Seit er 2003 das Drei-Häuser-Kombinat in Kreuzberg übernahm, bemüht sich Lilienthal um lokale Andockung und die Einbindung verschiedener Protagonisten der Migranten-Kultur, manche von ihnen haben Shermin Langhoff und er erst fürs Theater entdeckt. Namen wie Neco Çelik, Nuran David Calis, Tamer Yiğit tauchten immer wieder im HAU-Programm auf. Vor einem Jahr hat Langhoff dann mitten im Kreuzberger Wrangelkiez ein eigenes Haus für postmigrantisches Theater eröffnet, das Ballhaus Naunynstraße.

Busreise durchs Leben der Einwanderer
"Beyond Belonging" veranstalten sie in diesem Jahr zum ersten Mal gemeinsam. Vom Ballhaus aus konnte man mit dem Theaterbus unter Regie des israelischen Regisseurs Michael Ronen auf halb als Alltagsexperten-, halb als Mitmachtheater angelegte "Große Geld oder Leben Tour" gehen: Während der MP3-Player von den alltäglichen Sorgen, Hoffnungen und Kalkulationen eines individuellen Einwanderer-Lebens plauderte, wurde unter anderem bei Europas größtem vietnamesischen Handelszentrum, dem beeindruckenden Dong Xuan Center in Lichtenberg Station gemacht. Die dortige Spielzeug-Klamotten-Lebensmittel-Fülle konnte man jedoch leider nur im Schnellschritt bestaunen und zu den ansässigen Friseuren und Nageldesignerinnen per Minuten-Spielchen bloß Minimalkontakt herstellen.

Im HAU3 wurde noch einmal das vor einem Jahr entstandene, grandios wütende "Warngedicht" von Tamer Yiğit und Branka Prlić gezeigt: ein von vier Kreuzberger Jugendlichen gesprochenes, gerapptes, getanztes Poem des Aufbegehrens, in dem sich harter Schulhof-Slang nicht nur zu eigenwilliger Poesie verdichtet, sondern auch sehr verschiedene jungendliche PostmigrantInnen-Perspektiven jenseits des bloß abbildhaft Dokumentarischen durchgespielt werden.

Familienporträt in den Zeiten der Yuppisierung
Auch Tim Staffels neues Stück "Man braucht keinen Reiseführer für ein Dorf, das man sieht", das die Gentrifizierung des Wrangelkiezes und ihr Hineinwirken in die dort lebenden Familien in den Blick zu nehmen trachtet, basiert laut Programmzettel auf Gesprächen mit Anwohnern, Gewerbetreibenden, Unternehmern und Politikern. Herausgekommen ist dabei aber weniger tiefenscharf gestellte Differenziertheit als das doch eher klischiert anmutende Porträt einer fünfköpfigen Familie, das durch so manch gewollt drastischen Schlenker angeschrägt ist: So gibt Sohn Hakan zwar den Poser, verkauft heimlich jedoch seinen Körper um des lieben Geldes Willen für Schwulen-Porno-Drehs, bevor er die eigene Homosexualität anzuerkennen bereit ist und sich mit seinem Kumpel Karsten zusammentut; Vater Mahmut wird hingegen in die Türkei abgeschoben, weil er die siebzehnjährige ukrainische Prostituierte mit Drogen bezahlt hat.

Vor allem dieser Mahmut und seine stets zurückhaltend um Familienfriedens-stiftung bemühte Frau Günay bleiben den anatolischen Gastarbeiter-Schablonen doch sehr nah: Er hat seiner Frau früher öfter mal eine gelangt, trinkt viel und vögelt lieber käufliche Damen. Die gute Gattin verzeiht ihm, lässt sich aber törichterweise im Handumdrehen vom Makler bequatschen und unterschreibt umgehend den Vertrag über die "Modernisierung" der Wohnung, weshalb die Familie hinterher 180 Euro mehr im Monat bezahlen soll. Dass sie das natürlich nicht aufbringen kann, sondern wegziehen muss, komplettiert das Musterbeispiel der fortschreitenden Yuppisierung. Entsprechend macht der älteste Sohn aus der Teetrinkstube des Vaters nach dessen Abschiebung einen Sushi-Laden.

Aufgeräumtes Niederlächeln
Das hat in seiner Anhäufung von Unwahrscheinlichkeiten durchaus Soap-Qualitäten – worauf in der von Anfang an auf Tempo und Witz getrimmte und am Ende heftig beklatschten Inszenierung von Nurkan Erpulat im HAU2 nicht nur der seitlich platzierte Flachbildfernseher verweist, auf denen Großaufnahmen des jeweils gerade live Gespielten zu sehen sind, sondern auch die in den Rahmenszenen überdeutlich ins Spiel gebrachte Videokamera.

Dabei verändert der 1974 in Ankara geborene, erst in der Türkei als Schauspieler, dann in Deutschland als Theaterpädagoge und Regisseur ausgebildete Erpulat so manches Textdetail und überdreht auf der mit Bett, Sofa, Esstisch ausgestatteten Würfel-Haus-Drehbühne jedes darin angelegte Stereotyp in die Parodie. Er lässt Mama und Papa Sahin meist aufgeräumt lächeln, was selten zu den Sätzen passt, die sie nach Staffel zu sagen haben. Das ist beabsichtigtermaßen komisch. So auch die Szene, in der Melek Erenays Günay den Dialog mit dem Makler im Alleingang spielt, dabei zwischendurch immer wieder übertriebene Schüchternheitsposen einnimmt und sich am Ende Gesicht über auf die Couch plumpsen lässt. Manche Dialoge funktionieren auf diese Spielweise allerdings auch gar nicht, die Eltern-Figuren sind von vornherein ganz ans Komische verloren.

Synchrones Knacken von Sonnenblumenkernen
Anders bei der selbstbewusst Kopftuch-tragenden Tochter Feride, die Claudia Wiedemer ebenso mit feiner Ironie wie mit aufmüpfiger Wut ausstattet und die am ehesten das Zeug zu einer interessanten Figur hat. Auch Murat Seven als Identitäts-verwirrter Hakan hat schöne Szenen, etwa wenn er sich erst vehement gegen Oral-Sex vor der Kamera wehrt und im nächsten Moment der Geld-Verlockung wegen umkippt. Ansonsten spielen die Jungs unter Hochdruck, auch hier wird viel in die Übertreibung geschubst und vor allem etwas viel herumgebrüllt.

Zwischendurch posieren alle aufgesetzt lächelnd fürs Familienfoto, knacken synchron Sonnenblumenkerne und warten immer wieder mit bestem, deutschen Liedgut von "Oh Täler weit, oh Höhn" bis "Fremd bin ich eingezogen" auf – der deutlichste Hinweis darauf, dass die vorgeführte illusionäre Familienidylle wohl nicht allzu weit von deutscher Sippschaftsduselei entfernt ist. So tritt die bisher streng Kopftuch-verhüllte Mutter Günay am Ende auch noch mit langer Blondhaarperücke als Loreley auf.

Am Ende hat Erpulat mit seinem hoch engagierten Ensemble so manche Spitze gegen Allerwelts-Rassismen verteilt und jedes Türken-Bild zerpflückt. Die von Staffel ins Zentrum gerückte Gentrifizierung ist für ihn offenbar weiter kein Problem. Der erste Post-Sanierungs-Mieter ist schließlich – Türke. Schön wär's, wenn man das Ganze tatsächlich auf die derart leichte Schulter nehmen könnte.


Man braucht keinen Reiseführer für ein Dorf, das man sieht...
von Tim Staffel
Regie: Nurkan Erpulat, Musikalische Leitung: Tobias Schwencke, Bühne und Kostüme: Mascha Mazur, Video: Florian Fischer.
Mit: Peter Becker, Philipp Denzel, Melek Erenay, Stepan Gantralyan, Murat Seven, Claudia Wiedemer sowie Statisten.

www.hebbel-am-ufer.de
www.ballhausnaunynstrasse.de

 

Mehr zum Berliner Festival Beyond Belonging im nachtkritik-Archiv: 2007 warf Irene Grüter einen Blick auf das Programm der 2. Edition. 2008 fand im Berliner Ballhaus Naunynstrasse, dessen Gründung im gleichen Jahr auf das Beyond-Belonging-Festival zurückzuführen ist, mit Dogland ein eigenes kleines Festival zu postmigrantischem Theater statt.

 

Kritikenrundschau

Regisseur Nurkan Erpulat habe "wenige Probleme mit Klischees", schreibt Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (9.11.2009), "er überzeichnet in alle Richtungen, richtig gut funktioniert das nur dort, wo die Grundhaltung der totalen Ironie mit Ruhe angegangen wird". Wenn sich Familie Sahin etwa "zum Familienidyll aufstellen und gemeinsam deutsches Volksliedgut intonieren".

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