Schmied des eigenen Glücks

von Esther Slevogt

Berlin, Dezember 2005. Plötzlich erinnert Berlin sich wieder an Max Reinhardt. Denn obwohl es hier kaum ein Theater gibt, dessen Geschichte nicht auf irgendeine Weise mit Reinhardt verbunden ist, war er lange vergessen. Es existiert höchstens noch ein schemenhaftes Bild des großen Theatermachers, der Deutschland 1933 verlassen musste. Am ehesten erinnert man ihn als Intendanten des Deutschen Theaters, das er 1905 übernommen und weltberühmt gemacht hatte.

Hundert Jahre später entdeckte man ihn dort nun als Referenzfigur wieder – und musste erst mal einiges lernen. Eigentlich nämlich hat man Reinhardt nur aus Trotz wieder ausgegraben: um auf die Geschichte des Hauses jenseits seiner Rolle als ehemaliges Nationaltheater der DDR zu verweisen. Um dann mit einem Bild Reinhardts zu arbeiten, das erst mal alte Klischees bediente.

Mit spitzen Fingern

So blickt der Theatergigant jetzt eher wie ein freundliches Maskottchen vom Spielzeitlogo. "Max 100" verkündet eine Vignette mit seinem Porträt und spricht ihn schulterklopfend beim Vornamen an. Intendant Bernd Wilms schildert seinen großen Vorgänger, der die Regie als gestaltendes Prinzip des Theaters zur Kunstform erhob, und bald Chef eines florierenden Theaterimperiums war, in einem jovialen kleinen Text ("So stell' ich mir Max Reinhardt vor") als weltfremden, schrulligen Mann ohne Portemonaie, dessen Rechnungen stets andere bezahlt hätten; als halbseidenen Theaterkrösus von umstrittenem künstlerischen Rang. Schließlich kommt Wilms zum Ergebnis, dass Reinhardt heute keine Rolle mehr spielt. Spuren würden nur die hinterlassen, die die Welt verändern wollten. Brecht zum Beispiel. Max Reinhardt dagegen habe bloß wirken wollen.

Vorträge von Theaterwissenschaftlern, die das Deutsche Theater zum Reinhardt-Jahr eingeladen hat, haben das schiefe Bild inzwischen etwas gerader gerückt. Gott sei Dank ließ sich das Theater wenigstens nachträglich darüber belehren, mit wem es sich einließ, als es mit spitzen Fingern Max Reinhardt wieder aus dem Theatermuseum holte.

Neue, demokratische Raumlösung

Reinhardt war zweiunddreißig, als er das Deutsche Theater übernahm, das er als Privattheater völlig subventionslos bespielte und zu Weltruhm führte. Bis die Nazis es durch räuberische Steuergesetze ruinierten und so durch die Hintertür arisierten. Das einstige Nationaltheater der DDR ist also erst 1933 in Staatsbesitz gelangt.

So war man im Deutschen Theater dann auch einigermaßen konsterniert, als das Haus bald nach der Wende zur offenen Vermögensfrage wurde. Noch für eine zweite Liegenschaft meldeten Max Reinhardts Erben Restitutionsansprüche an. Am Schiffbauerdamm kurz vor der Friedrichstraße hatte bis 1982 ein Gebäude gestanden, das Reinhardt 1918 von Hans Poelzig epochemachend zum Großen Schauspielhaus umbauen ließ. Keine Architekturgeschichte, in dem dieser enorme expressionistische Theaterbau mit seinen Stalagtiten und der revolutionären Arenabühne nicht zu finden ist.

Reinhardt und sein Architekt hatten hier eine neue, demokratische Raumlösung geschaffen, eine Alternative zur feudalistischen, auf die zentrale Königslogenperspektive hin konzipierte Guckkastenbühne. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot der Poelzig-Bau dann als "Friedrichstadt-Palast" den schönsten Beinen des Sozialismus Asyl, bis das baufällig gewordene Haus an anderer Stelle durch einen Neubau ersetzt und abgerissen wurde.

Die Masse Mensch als Protagonist

Bevor er das Deutsche Theater übernahm, leitete Reinhardt das heutige BE am Schiffbauerdamm, das damals noch "Neues Theater" hieß. Hier entstand 1905 eine der berühmtesten Reinhardt-Inszenierungen, Shakespeares "Sommernachtstraum" mit dem Drehbühnenwald, dem vor ein paar Jahren Leander Haußmann in seiner Sommernachtstraum-Inszenierung noch einmal seine Referenz erwies. In den Zwanziger Jahren baute Reinhardt schließlich die beiden Boulevardtheater am Kurfürstendamm, die, inzwischen hinter der Fassade des Kudamm-Karrees, bis heute existieren und gerade für Schlagzeilen sorgen, weil sie einer Shopping-Mall geopfert werden sollen.

Auch die Volksbühne wurde von Reinhardt während des Ersten Weltkrieges drei Spielzeiten lang geleitet und die Begeisterung des Publikums für eine Inszenierung von Kleists "Hermannsschlacht" im Januar 1918 ließ den berühmten Kritiker Siegfried Jacobsohn resigniert feststellen: "Die Arbeitermassen unterliegen hemmungslos der Suggestion des Theaters." Noch hemmungsloser sollten nicht nur sie fünfzehn Jahre später der Suggestion der Politik erliegen, die Reinhardts Inszenierungen mit einer ganz neuartigen Massenregie vorwegnahm, in dem er die Masse Mensch selbst zum Protagonisten werden ließ.

Entwurf einer ideologiefreien Welt

Berühmt wurde der Einsatz dieser neuen Regietechnik spätestens 1916 am Deutschen Theater, mit Reinhardts Inszenierung von Georg Büchners nachgelassenem Stück "Dantons Tod". Reinhardts Inszenierung ist die dritte Inszenierung dieses Dramas überhaupt und macht es mit einem Schlag zum Klassiker. Erst seine bühnentechnischen Erneuerungen hatten die aus Kurzszenen zusammengesetzte Revolutionstragödie überhaupt richtig spielbar gemacht. Reinhardt inszenierte das Volk atmosphärisch, als akustische Kulisse aus Stimmen und trampelnden Füßen, als dynamisch choreografiertes Bühnenelement in wechselnden Lichtkegeln. Manchmal schälten sich aus der Masse einzelne Individuen heraus: Büchners auf Mittelmaß geschrumpfte Revolutionäre.

Zeitgenössische Kritiker hatten einen Mangel an revolutionärer Energie auszusetzen. Ein allgemeiner Aufbruch hatte das alte Europa erfasst, dessen Ordnung im Untergang begriffen war und man vermisste bei Reinhardt entsprechend avantgardistische Positionen. Bis heute ist es ein Standardargument gegen Reinhardt, er sei antimodern gewesen. "Ich glaube, die Menschheit wäre glücklicher, wenn nicht Einzelne sie immer wieder um jeden Preis beglücken wollten - selbst um den Preis des Glücks", wird Reinhardt kurz vor seinem Tod 1943 in New York schreiben.

In seinem Leben hat er die Weltverbesserer und Zwangsbeglücker massenweise aus dem Boden der europäischen Kultur emporwachsen sehen, und zwar in der Kunst ebenso wie in der Politik. Bekanntermaßen waren die Folgen für das Jahrhundert eher verheerend und oft waren die Künstler blind dafür. Wollten die Welt verändern, selbst wenn sie dafür Niedrigkeiten begehen und Schlächter umarmen müssten, wie es Brecht in seinem Stück "Die Maßnahme" den Zeitgenossen empfahl.

Als tieftrauriges Mysterienspiel vom Scheitern aller Glücks- und Beglückungsversuche wird Reinhardts Inszenierung von "Dantons Tod" im Jahr vor der Oktoberrevolution zur Signatur für alles, was kommen würde. Mehrfach wird er den Stoff in den kommenden Jahren inszenieren. Gegenmodell dazu war Shakespeares "Sommernachtstraum", das er bis an sein Lebensende immer wieder neu inszenierte - als Entwurf einer ideologiefreien Welt.

Naiver Weltflüchtling?

Reinhardts Texte über das Theater lesen sich manchmal, als hätte ein volkstümlicher Ernst Bloch sie geschrieben. Sie sind durchweht vom Geist der Utopie und Gedankenfiguren tauchen darin auf, die sich auch in Schriften des frühen Georg Lukacs und bei Walter Benjamin wiederfinden. Immer wieder geht es um die Krankheiten der Epoche, um Entfremdung, Auraverlust der Kunst und die metaphysischen Konsequenzen, die für den Menschen aus der Entzauberung der Welt entstanden sind.

Theater, das sei "der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt haben, um bis an ihr Lebensende weiterzuspielen" ist einer von Reinhardts berühmtesten Theatersätzen. Er stammt aus einem Vortrag, den er 1928 an der New Yorker University of Columbia gehalten hat, und ist besonders gerne verwendet worden, um Reinhardt als unpolitischen Kindskopf und naiven Weltflüchtling mißzuverstehen.

Tatsächlich geht es Reinhardt um mehr: Dem sich selber fremd gewordenen modernen Menschen bietet er das Theater als Zuflucht an. Nicht als Illusionsmaschine und Betäubungsapparat. Denn dass er seine Zuschauer stets im Klaren über die technischen Mittel seiner Kunst lassen wollte, darauf hat in einem Vortag im Deutschen Theater auch die Berliner Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte noch einmal hingewiesen und Reinhardts Theaterbegriff mit Brechts Epischem Theaters in Verbindung gebracht. Brecht, der in Mitte der 20er Jahre eine Zeitlang Dramaturg am Deutschem Theater war. Vielmehr bestand die Utopie, auf die Reinhardts Theater gerichtet war, in der Schaffung eines unentfremdeten Raums im Spiel.

So radikal hat vielleicht erst wieder Frank Castorf das Theater als Zuflucht für den transzendental obdachlos gewordenen Zeitgenossen begriffen, und neue Theaterformate erdacht, mit denen dieses Angebot an den Mann und die Frau gebracht werden konnte.

Der totalitäre Charme deutscher Kunstreligionen

Und die Leute nahmen Reinhardts Angebot an, strömten in seine Theater und machten ihn reich. Schon manche Zeitgenossen fanden das anrüchig und benutzen es, Reinhardts Seriosität in Zweifel zu ziehen.

Dabei lebte Reinhardt, wie er Theater machte: immer aus dem Vollen, aber auch immer auf eigene Rechnung, sozusagen als autonomes Subjekt. Trotzdem wird bis heute sein wirtschaftlicher Erfolg als Argument gegen Reinhardt verwendet. Als sei es ein Verbrechen, mit Theater Geld zu verdienen und Massen zu begeistern. Dass Avantgarde und Masse durchaus kompatible Phänomene sein können, hat spätestens die Pop-Industrie unter Beweis gestellt.

Im Anti-Reinhardt-Ressentiment spiegelt sich von Anfang an der diskret-totalitäre Charme deutscher Kunstreligionen, aber auch die Tatsache wieder, dass die deutsche Theatertradition höfisch, das Theater als Kunstform ursprünglich für das Volk nicht vorgesehen war. Was bürgerlich an ihm war, hatte das Bildungsbürgertum beigesteuert, das vom Theater vor allem Vermittlung von Werten und Bildungsinhalten erwartete.

Reinhardt hat damit ziemlich aufgeräumt und das Theater demokratisiert. Hat den Regisseur als selbstbestimmten Verwirklicher erfunden, sozusagen als Schmied des eigenen Glücks, von dem das Bürgertum seit der Aufklärung träumte. Ein Glück, das nie mehr als reines Theaterglück sein wollte.

Bis heute scheint man Max Reinhardt den Verweis der Gebundenheit aller demokratischen Theaterkunst an den Zuschauer, also an den Markt, nicht verziehen zu haben. Denn immer noch fühlen sich die meisten Theatermacher als Teil einer Elite mit diffusem Auftrag: Auftrag zur Aufklärung, zur Erleuchtung oder zur Wahrheit an sich. Max Reinhardt ist einen anderen Weg gegangen und deshalb für den subventionierten Kulturbetrieb immer noch eine Provokation.

Zuerst erschienen in der tageszeitung am 28. Dezember 2005

 

Mehr lesen zu Max Reinhardt im nachtkritk-Archiv. Einen wichtigen Beitrag zu einer Revision des Max-Reinhardt-Bildes leistet auch das Buch des Mainzer Theaterwissenschaftlers Peter W. Marx Max Reinhard. Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur.

 

 

 

 

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