Ein Schmarren über Gott und die Welt

von Nikolaus Merck

Berlin, 12. November 2009. Willkommen zurück. Nach acht Monaten im Trockendock lässt der Panzerkreuzer Volksbühne sein gellendes Horn erschallen: Alle Frau und Mann, geleitet vom Abenddienst (neuerdings nicht mehr im Shirt, sondern in Anzügen), bitte Platz nehmen. Die Stuhlreihen sind abmontiert, stattdessen weiße Seesäcke im Parkett fest angekettet, die Holzpaneele verhängt – eine schwarze Welt von der Bühne bis unter den Rang: das Zwischendeck.

Das Schiff zählt zu den Nicht-Orten, wie der Ethnologe Marc Augé Durchgangsstationen wie Flughäfen, Bahnhöfe und andere Transiträume bezeichnet. Zwischenstadien der Existenz. Friedrich von Gagerns 1921 entstandenes Stück "Ozean" schildert die Passage einer Anzahl von Revolutionären und Wirtschaftsflüchtlingen vom lieben deutschen Vater-, eher jedoch Mutterland nach Amerika. Die Zeit: nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848.

Aus der Tiefe des Sauerkrautfasses

In der frisch renovierten Volksbühne führt Frank Castorf den Schmarren urauf. Von Gagern, Jagd- und Jugendbuchautor, Verfasser von Indianergeschichten und in den zwanziger Jahren Bestsellerautor zählte zu den Lieblingsautoren von Heiner Müller. Ellenlange Monologe über buchstäblich Gott und die Welt zerdehnen die erste (und große Teile der zweiten) Hälfte seines monumentalen Seestückes. Und Castorf lässt sich, wie gewohnt, nicht lumpen. Er nimmt die Zuschauer als Geiseln, die sich ihr Theaterglück ersitzen müssen. Das blitzt allerdings nur kurz auf. Wenn Maria Kwiatkowski als kleine blinde Hexe Thekla stracks über die Bühne auf ihren künftigen Geliebten Bruno Wiegand (Max Hopp) zumarschiert, mit dem sie sich gemeinsam dem einschlägigen Hans Albers-Liedgut hingibt, bis beide die Liebe ereilt.

Das Glück wächst sogar noch, wenn Volker Spengler als "ein Unbekannter" sich verdurstend in Jesus Christus verwandelt. Urkomisch, wenn der buddhahafte Spengler mit irrem Blick und strubbeligem Haar auf seinem Seesack thront, mit den Beinen baumelt, den Zeigefinger in die Luft sticht und dabei mit einer Stimme, die krächzt und grollt, als käme sie aus der Tiefe eines Sauerkrautfasses, gebieterisch Wasser oder wenigstens Gott vor die Schranken des Weltgerichts fordert.

Meuterei mit Liedlein

Castorf begreift die Menschen des Zwischendecks, wie lächerlich sie auch immer in der volksbühnenüblichen Spielmelange aus slapstickhaften Einlagen und ewigem, unter Aufbietung erheblicher Stimmkräfte vollführtem Räsonnieren erscheinen mögen, als Transformationsfiguren. Gebildete Männer wie der Geologe und Astronom Johannes Hylander (Hermann Beyer) oder tatkräftige Führungskader wie der Barrikadenkämpfer Emerich Herczy (Michael Schweighöfer) werden von armen Schluckern in die künftige gesellschaftliche Elite des jungen amerikanischen Staates aufsteigen. Die gesellschaftliche Stellung und mit ihr die Identität wechselt bei der Passage über den Ozean und durch die Zeit. Castorf verhandelt damit ein eigenes Thema, die Identität desjenigen, der sich zu Hause als Außenseiter begreift, in Lateinamerika jedoch als Angehöriger einer schwerreichen Nation wie einer betrachtet wird, dem potentiell (nahezu) alle Türen offen stehen.

In der Volksbühne müssen die Reisenden im Zwischendeck zunächst aber ihren Durst überstehen, denn es fehlt an Wasser und Proviant. Kapitän Dieter Montag hat es vorgezogen, die Laderäume mit geschmuggeltem Schnaps und Schießpulver zu füllen. Doch im Passagen-Drama allgemeiner Wandlung wird selbst dieser tyrannische und gewalttätige Kapitän, der Mannschaft und Passagiere mit der Waffe bedroht ("Auf See gibt es keine Menschenrechte") ein anderer. Ein revolutionäres Liedlein (weniger sirenenhaft als üblich vorgetragen von Silvia Rieger) genügt, ihn zur friedlichen Übergabe der Kommandogewalt zu bewegen. Denn dem Durst ist mittlerweile die Meuterei gefolgt, während der sich bisher gehorsame Matrosen in menschliche Bestien verwandeln.

"Weißt du, wieviel Sternlein ste-he-hen"

Das Schiff gerät in Brand, die Guten unter den Passagieren werden von ihrem Autor auf einem Floß versammelt, zusammen mit den saufenden und mordenden Meuterern. Die Hure Renate (Anne Ratte-Polle), die gerade noch in Artaud'schen Wendungen über den Zusammenhang von Pest und Theater mit der Farbe Schwarz meditiert hatte, opfert sich für ihre Reisegefährten auf, indem sie sich von dem wild gewordenen Mob der Matrosen vergewaltigen lässt.

Am Ende ist Land in Sicht und für die Helden eine materiell bessere Zukunft, die der Regisseur im Vorgriff bereits gezeigt hatte. In farbigen Morgenröcken aus Seide hatte er die Reisenden vor einem Glitzervorhang postiert und vor projizierten Bildern aus New York "Weißt du, wie viel Sternlein ste-he-hen" anstimmen lassen.

Doch auch die Belastungen dieses neuen Lebens werden die alten sein. "Mutter!", rufen die Sterbenden auf hoher See, und von der Mutter als Inbegriff der Geborgenheit schwadronieren hier so gut wie alle. Die Familie als Sozialisations-Instanz, Agentur der Rollenteilung und Exerzierfeld partriarchaler Gewalt, deren Kehrseite die Frau als schützende und bergende Mutter abgibt, wird auch von den Demokraten nicht in Frage gestellt.

Schwarzer Käfer Neoliberalismus

Selbst die Macht der Kirche wird in der Neuen Welt ungebrochen bleiben. Castorf findet dafür ein schönes Bild, wenn Dieter Montag als Jesuitenpater, dem weder die Haie noch die Feindseligkeit der Demokraten etwas anhaben können, unversehrt dem Meer entstiegen, auf den Wassern wandelt wie einst der Heiland persönlich.

Zuletzt enthüllt Castorf in einem Perspektivenwechsel den Gesamthorizont seiner theatralischen Reflexion. Da zitiert Max Hopp einen Text der mexikanischen Zapatisten, in dem davon die Rede ist, dass die indianischen Ureinwohner nach 503 Jahren Unterdrückung ihre eigene Stimme wiedergefunden haben. Und wir erkennen, dass es die europäischen Einwanderer auf Schiffen wie dem Friedrich von Gagerns waren, die halfen, die US-amerikanische Hegemonie auf dem neuen Kontinent zu begründen. Wie sich auf der Passage vom alten Kontinent zum amerikanischen der Mensch in Gott und die Hure in eine Heilige verwandelten, so wird sich aus den arbeitslosen Wissenschaftlern und politischen Flüchtlingen die neue amerikanische Wirtschafts- und Militärelite rekrutieren. Deren Macht sich zuletzt in jenem "schwarzen Käfer Neoliberalismus" verpuppte, von dem Castorfs Zapatist berichtet.

Auf die Dauer von viereinhalb Stunden gesehen weder groß, noch sonderlich unterhaltsam, bot der Abend so doch wenigstens Anlass, auf eigene Faust weiterzudenken.

 

Ozean (UA)
von Friedrich von Gagern
Regie: Frank Castorf, Raum und Kostüme: Bert Neumann, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Bärbel Bolle, Laura Lo Zito, Maria Kwiatkowsky, Anne Ratte-Polle, Silvia Rieger, Hermann Beyer, Frank Büttner, Jean Chaize, Marko Dyrlich, Mario Fechner, Max Hopp, Henry Krohmer, Dieter Montag, Kurt Naumann, Samir Osman, Mex Schlüpfer, Michael Schweighöfer, Volker Spengler, Axel Wandtke, Harald Warmbrunn.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Mehr zu Inszenierungen Frank Castorfs im nachtkritik-Archiv: Vor einem Jahr, im November 2008, inszenierte er das Selbstverschwender-Stück Kean mit Alexander Scheer in der Titelrolle, dann Amanullah Amanullah im Prater (April 2009) und zuletzt Medea in der Freiluft-Agora (Juni 2009).

Außerdem gab sich Castorf im Vorfeld der Wiedereröffnungs-Inszenierung "Ozean" ungewohnt selbstkritisch, nachdem er lange wenig von einer verschiedentlich diagnostizierten Krise seines Hauses hatte wissen wollen. Und im Juli 2009 sprach der neue Chefdramaturg Stefan Rosinski in einem Interview über seine Visionen für die Volksbühne.

 

Kritikenrundschau

"Thema ist die Revolution," klärt uns Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (14.11.2009) auf. "Ohne da jetzt in die Einzelheiten gehen zu wollen: Castorf zieht sie, sich und das Stück nicht durch den Kakao, er zieht sie und sich durch den Schlamm." Für Michalzik ist dieser Unterschied entscheidend: "Er will im Dreck und im Morast der Geschichte stecken. Manchmal ergibt sich daraus Großes: Anne Ratte-Polle ersetzt Gagern einmal durch Artaud und schleudert Sätze wie 'Alle großen Mythen sind schwarz wie die Pest!' um sich. Das heult sie mit herabgerutschten Trägern verzweifelt heraus und haut es uns wie ein wiedergeborener weiblicher Hitler um die Ohren. Fast ebenso groß Volker Spengler, der Gott entgegendonnert, dass er vor seinen Richter treten soll. Und zwar so, wie wenn er selbst Gottvater wäre." Doch dann lehnt sich der Kritiker wieder zurück und fragt sich, warum man hier diesen aufgeblasenen, vergessenen Text fast vollständig vom Blatt spielt und warum man dazu eine neue Dramaturgie braucht."

Obwohl vieles an diesem anstrengenden Abend für Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (14.11.2009) noch die "guten wie schlechten Merkmale des nach wie vor unnachahmlichen Castorf-Theaters trägt" (nämlich: "Dramaturgiedurchhänger hier, Grossauftritte dort, blosse Albernheiten neben gefährlich geschärften Figuren"), wirkt das Spiel auf ihn "kaum mehr porös, sondern grösstenteils eingekapselt, phasenweise gar merkwürdig melancholisch". Die Inszenierung bleibt damit für Pilz meist in jenem "abgeschotteten Vorspielmodus gefangen", den sie zu durchbrechen vorgeben würde. Dennoch gibt es für den Kritiker "kaum ein derart energisches Theater, das ästhetisch Einspruch gegen die grassierende Verdummung aus Utopielosigkeit erhebt. Auch damit ist Castorf allein auf weiter See". Auch gelte Frank Castorfs Theaterglaube nach wie vor "dem grossen, wilden, alles durchherrschenden Augenblick, in dem sich die Bühnenenergie wie unter einem Brennglas sammelt" und der auch diesmal große Momente hervorbringe, die man allerdings hart ersitzen müsse.

"Die Volksbühne gibt sich", meint Peter Kümmel (Die Zeit, 19.11.2009), "inmitten einer ins Elegante und Schmerzlose abrutschenden Stadt, als der gute alte Ort des Schmerzes. Coolness ist hier verboten." Man könne sich Castorfs Theater dabei wie "einen nackten, dampfenden Mann" vorstellen, "der immerzu aus der Hölle ins Polareis und wieder zurück in die Hölle stürzt", und zwar, "um ja nicht in moderate Berliner Lounge-Temperatur zu verfallen". Rätselhaft bleibe es aber, was Castorf mit dem Stück von Gagern anstelle. Ein "ozeanisches Gefühl" stelle sich jedenfalls nicht ein. Im Grunde wolle er aus "Ozean" ein "großes Einschlafgespräch, eine Joseph-Conrad-Oberdeck-Meditation" machen. Es dominiere an diesem Abend der "hoffnungslose, entschlossene Predigerton". Und es sei bei Castorf auch vorbei mit dem "Affirmationsverbot". Aber etwas Neues zeige sich. "Warte, sagt Castorf, es werden härtere Zeiten anbrechen, uncoole Zeiten".

Für Christopher Schmidt von der Süddeutschen Zeitung (14.11.2009) steckt Frank Castorf so fest in der Krise "wie Melvilles Käptn Ahab mit seinem Holzbein im Achterdeck." Dass Castorf nun ausgerechnet mit diesem "in expressionistischen Schmalz gehauenen Sinnsucherdrama des einst populären Jugendautors" versucht habe, das Ruder an seinem schlingernden Haus herumzureißen, darin besteht für Schmidt die einzige Frechheit eines Abends, der ansonsten aus seiner Sicht "mit anarchischem Aberwitz geizt wie im Stück der Kapitän mit dem Proviant an Bord. Das Pathos ist hohl wie die Fässer, die irgendwann herumgeworfen werden." Ein Ensemble trauriger Epigonen des Volksbühnen-Stils, das sich über Euro-Paletten dialektfreudig, aber unverständlich heiser schreie, sitze viereinhalb geschlagene Stunden lang die Ratlosigkeit eines Regisseurs aus, der von Gagern kaum je in die ozeanische Pfütze spucke und "sich mit kraftloser Kraftmeierei über Wasser hält."

Schwimmt sie, schwimmt sie nicht?" fragt Ulrich Seidler bang in der Berliner Zeitung (14.11.2009), um am Ende eine beträchtliche Schräglage zu konstatieren. Aber für Seidler scheint die Lage nicht ganz hoffnungslos: Die Volksbühne treibt, untergegangen ist sie aus seiner Sicht noch nicht. Unterdessen sitze ein Haufen schrägen Volks, "wie man es auf den glatten deutschen Bühnen viel zu selten sieht", geduldig seine Zeit ab. Es habe bei Castorf schon immer Durchhänger gegeben - um so euphorischer erlebte der Kritiker auch diesmal die Glücksmomente. "Sie konnten meditativ wirken, Kleingeist austrocknend, in den abschweifenden Denkrausch führen. Es hat bei Castorf noch nie eine fertig inszenierte Premiere gegeben - um so unmittelbarer und ungeschützter das Spielerlebnis. Castorf-Gucken war schon immer Arbeit, bei der man sich gleichzeitig euphorisch und überdrüssig fühlen konnte. Insofern ist "Ozean" ein Neuanfang mit den alten Mitteln."

Von einer "Unglücksproduktion" spricht Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (14.11.2009), für den die Agonie des Hauses in eine neue Phase getreten ist. "Die Volksbühne als Havarie, wie könnte man die knüppeldicke Symbolik übersehen. Und wie, um des hier so viel zitierten Himmels willen, soll man diese lustlose, nicht enden könnende Untergangsfeier mitansehen, ohne am eigenen Theaterverstand zu verzweifeln!" Plötzlich wirke Castorfs Regie ironiefrei. Es werde sadistische viereinhalb Stunden lang, die das Publikum auf unbequemen Sitzkissen (Seesäcken!?) verbringen müsse, schierer Text aufgesagt. "Und dieser 'Ozean' spricht für sich: Auf einem Schiff fliehen Deutsche, gescheiterte Revolutionäre, Glücksritter, Spinner, Spökenkieker nach Amerika. Exilantenelend auf hoher See. Feuer bricht aus, das Schiff geht unter, die Erniedrigten und Beleidigten retten sich auf das Floß der Medusa. Und dann bedroht ein Meteorit die Erde."

"Ein knappes Dreivierteljahr war die Volksbühne zu, und erschrocken fragen wir: Hat sie uns wirklich gefehlt?", fragt Reinhard Wengierek (Die Welt, 14.11.2009). "Umweht uns doch das traurige Gefühl", so Wengierek weiter, "dieses in den Neunzigern Epoche machende Haus sei schon seit Ewigkeiten dicht. Denn der kreative Rausch ist längst verflogen, die kraftstrotzende Anarcho-Zentrale liegt da wie ausgelaugt." Nun aber dennoch Wiedereöffnung, und Castorf setze dabei "extrem risikofreudig (oder bloß hinterhältig) auf Entlegenstes, auf eine Ausgrabung", auf Gagern und damit auf "das dampfende philosophische Sülzgewitter aus Predigten oder bloß Tiraden übers rechte Leben und wahre Menschlichkeit sowie deren Gegenteil", ein "Quasselstück, das Regisseur Castorf ganz und gar unzynisch einfühlsam und vor allem hingebungsvoll ausbreitet". Das "überwiegend lauthals (um nicht zu sagen brüllend) vorgetragene rhetorische Largo" sei dabei "von inhaltlichen Neuigkeiten ziemlich frei". Und auch "im Spielerischen hält sich die Regie ostentativ zurück. Alles bleibt aufsagerisch, abgesehen von einigen anfallartigen Rennereien, Rutschereien, Kloppereien". "Ist das die Wiederbelebung der siechen Volksbühne?", fragt Wengierek. "Ist sie nicht."

"Nur Kritiker und Rückengeschädigte sitzen auf Stühlen im Rang", beobachtet Gunnar Decker im Neuen Deutschland (14.11.2009), der nicht gerade optimistisch aus der frisch renovierten Volksbühne kommt. Wer noch was vorhabe im Leben, könne es sich eigentlich nicht leisten, an dieser Orgie der Maßlosigkeit teilzuhaben. Castorf inszeniere mittlerweile, so scheint scheint es Decker, "wie Thomas Brasch seinen 'Mädchenmörder Brunke' schrieb: "ohne Anfang und Ende, immer vom Himmel durch Welt in die ganz private Hölle hinein." Auch die Schauspieler sitzen aus seiner Sicht im Zwischendeck der Volksbühne fest. "Keiner spielt hier mit dem anderen, jeder bewirtschaftet nur seinen kleinen Monolog, so gut er eben kann – Dialog findet nicht statt. Denn es gibt niemanden, der ihn stiftet. Aber Theater als selbstreferenzielles Unternehmen ähnelt schließlich fatal jenem Floß der Medusa, das Castorf im dem in jeder Hinsicht desaströsen zweiten Teil dieser völlig zerfließenden 'Ozean'-Inszenierung als Sinnbild auf die Bühne hievt."

Die Metaphern, mit denen von Gagern das nachrevolutionäre Deutschland schildert, sind holzschnittartig, die Dialoge moralinsauer, die Figuren krachender Kitsch, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.11.2009). Bei Frank Castorf wird aus dem Stück ihrer Ansicht nach "ein biederes Passionsspiel voll ironisch faulem Pathos und dickem Katzenjammer für praktische und theoretische Barrikadenkämpfer. Die meisten der zwanzig Schauspieler dürften, so Bazinger, den "zähen Abend mit größeren oder kleineren Solonummern auflockern. Der unverwüstliche Volker Spengler als "Ein Unbekannter" legt im Unterhemd eine grotesk ausgebreitete Sterbeszene hin, die verstiegene Anne Ratte-Polle als Strichmädchen eine schwungvolle Artaud-Rezitation, die virtuose Silvia Rieger als Matrosin eine morbid-schöne Revolutionsballade. Max Hopp als subversiver Schriftsteller steht permanent unter Stimmbandstrom, gibt indes mit "La Paloma" eine gelungene Hans-Albers-Parodie, Hermann Beyer als Naturforscher bleibt blass, Frank Büttner als Seemann grölt in schwarz-rot-goldenen Unterhosen die erste Strophe des Deutschlandliedes so laut, dass man es bis Helgoland gehört haben muss." Ansonsten sei Castorfs Inszenierung ausgesprochen einfallslos und trotz des ständigen Ozeangewäschs sehr trocken.

"Heute hat man an eine vierstündige Soap andere Ansprüche an Unterhaltung, Witz und Schärfe, als sie Castorf zumutet, fordert taz-Kulturchef Andreas Fanizadeh in seiner Zeitung (14.11.2009) und befindet: "Sehr schade: So hat der frühere Meister auch nach der monatelangen Umbaupause die Chance vertan, sich und sein Haus von der intellektuellen Stagnation zu befreien. Er sucht lieber Zuflucht im Identitären, stärkt Ostrock statt Pop, obwohl sich noch ein vereinsamter Pam-Grier-Song in dieses Spiel verirrt. Die Inszenierung trägt teilweise folkloristische Züge und ist auch in ihrer Deutsch- und Selbstbezüglichkeit eher etwas für Masochisten."

Von dem durch Frank Castorf ausgegrabenen Friedrich-von-Gagern-Drama "Ozean" könne man auch nach dieser Uraufführung nicht sagen, "dass es uns sehr gefehlt hat", so Peter Hans Göpfert im RBB-Kulturradio (13.11.2009). Von Gagern zeige in seinem einzigen Theaterstück, "wie die Solidarität ehemals gemeinsamer Streiter zerbricht, wie die Ideale buchstäblich über Bord gehen" und sich "existentielle Verzweiflung" Bahn bricht. Castorf und sein "Raumbildner" Bert Neumann praktizierten eine "reichlich abgenutzte Identifizierungs-Methode: das Publikum soll, wo es den Leuten im Stück schlecht geht, bitteschön etwas mitleiden", wozu es sich viereinhalb Stunden "mit seesackartigen Kissen zurechtfinden" müsse. Die Inszenierung selbst stifte "allerdings keine besondere Nähe zum Betrachter und Zuhörer", es werde den ganzen Abend in der Tiefe der Bühne gespielt und dabei große Textteile "verschluckt", "umso misslicher, weil verschiedene Dialekte gesprochen werden und einzelne Darsteller sich lange Strecken obendrein leise nach hinten verlautbaren". Dass Castorf "diesem Marathon einen gedanklichen Dreh zu geben" versuche, könne man nur in sehr wenigen Szenen erkennen. Immerhin: Max Hopp spiele "mit großer Leidenschaft", und Volker Spengler gebe, "mit lebhafter Assistenz der Souffleuse, ein großes furioses tief blasphemisch atheistisches Solo". Einen "tieferen Sinn" ergebe diese "reliefartige, manchmal alberne, manchmal künstlich manierierte Inszenierung" nicht.

"Das Gefühl, in einem Schiffsrumpf/Walfischbauch zusammen zu kommen" sei "so naheliegend und überraschungsarm wie der gesamte Abend", schreibt Hannah Pilarczyk auf Spiegel-online (13.11.2009). Zwar scheine der "obskure von Gagern" zu Castorf zu passen, jedoch sei dessen "große Stärke, brachialer Witz und politische Brisanz" eben gemeinhin gerade "dort zu finden, wo man sie nicht vermutet – und wo sie den Stoffen zuwiderlaufen". Jedenfalls liefere "Ozean" "dem ermatteten Intendanten (...) reihenweise Vorlagen, die dieser uninspiriert verwandelt". Vor allem das "Ausnahme-Ensemble" vergangener Volksbühnen-Zeiten vermisst die Kritikerin: "Rampensäue" wie Wuttke oder Hübchen hätten "Großkotz-Ansätzen der Regisseure immer widerstanden und eigene Textinterpretationen innerhalb der Inszenierungen angeboten". Allein Anne Ratte-Polle steche "mit ihrem kontraintuitiven Vortrag heraus". Der Rest sei "Ensemble-Fleißarbeit über die Langstrecke, unterbrochen von ein paar Brust trommelnden Auftritten der männlichen Darsteller". Zugute halten müsse man der Inszenierung allerdings, "dass sie mit ihrer anarchischen Sprache und ihrem inhaltlichen Draufgängertum so nur in der Volksbühne möglich ist", was den Abend "auf seine Art einzigartig" mache – "ob er aber auch nötig ist, ist eine andere Frage".

Für Christine Wahl in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (15.11.2009) kommt die Inszenierung "wie ein melancholisches Alterswerk daher", was ihr zwar "irgendwie ehrlich und nicht unsympathisch", aber auch "müde, ratlos und bar jeglicher Ironie" erscheint. Gelegentlich beschleicht sie während der ersten Hälfte der Verdacht, "nicht in der Volksbühne, sondern ein paar hundert Meter weiter in Claus Peymanns Theatermuseum namens Berliner Ensemble gelandet zu sein." Und auch im zweiten Teil wirkt die Inszenierung auf sie "eher wie ein Abgesang denn ein Neustart, wenn Castorf etwa am laufenden Band eine seiner besten Inszenierungen, Gerhart Hauptmanns 'Weber', zitiert." Wenigstens sehe es aber "wieder ein bisschen mehr nach Volksbühne aus, wenn sich Volker Spengler einen großartigen, diabolischen Sterbemonolog vom Leib schreit oder Frank Büttner mit grandiosem Körpereinsatz in Schwarz-Rot-Gold-Unterhose das Deutschlandlied in postsozialistischer Komplettverwirrung mit einem Arbeiterkampflied durcheinanderbringt."

Unter der Überschrift "Der ozeanische Patient" schreibt am Montag (16.11.2009) Wolfgang Höbel im Spiegel: "Tatsächlich vermitteln die vor Eifer glühenden Darsteller, zumal Anne-Ratte Polle, Max Hopp und Maria Kwiatkowsky, eine schöne Idee davon, wohin Castorfs Theater in Zukunft segeln könnte." Endlich sehe man in der Volksbühne mal wieder "tolle, bis zur Erschöpfung kämpfende Schauspieler, die den Kraftakt des kollektiven Aufbruchs nicht nur beschwören, sondern auch beherzt auf die Bretter donnern. Staunend wird man Zeuge einer strapaziösen aber beglückenden Höllenfahrt".

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