Der Kirschgarten - Sebastian Hartmann treibt Tschechows Langeweile ins Absurde
Nahkampf mit der Leere
von Johanna Lemke
Leipzig, 12. November 2009. Irgendwann, gegen Ende, bewegt sich der splitterfasernackte Narr in zuckenden, fast grotesken Bewegungen über die Bühne. Angestarrt von den anderen, in deren Perpetuum der Verdrängung er sich in den letzten dreieinhalb Stunden als der einzig Erkennende gebärdet hat, ist sein Körper nun das Produkt des Verfalls, der schon seit Jahren unbemerkt gebrodelt hat.
Sebastian Hartmann macht mit Tschechows "Kirschgarten" das, was man inzwischen schon als eine Leipziger Handschrift Hartmanns bezeichnen kann: Er schält die Kernaussagen heraus, überspitzt diese bis an die Grenzen der nervlichen Erträglichkeit und fördert damit etwas zutage, das manchmal überwältigend klar ist. Hartmann und seine akribische Dramaturgie zerren Hintergründe des Stoffs hervor, die im Text oft gar nicht genannt werden. Und er lässt dies alles von Anfang an mitspielen: Den Anfang, die Mitte, das Ende. Und manchmal auch das Danach.
Ungeheuer komisch, krankhaft smalltalkend
In diesem Fall ist es die Erkenntnis, die in dem Stück nach dem Verkauf des Kirschgartens kommt: Das Eingeständnis der Gutsbesitzerin Ranjewskaja, dass die Zeit des sorgenfreien Lebens vorbei ist und eine neue Ära anbrechen wird. Tschechows letztes Stück, in großer Krankheit und am Vorabend der ersten Russischen Revolution geschrieben, zeigt noch mehr als seine vorherigen Stücke die Lethargie des alten russischen Adels. Tschechow meinte den "Kirschgarten" ungeheuer komisch, er beklagte noch zu Lebzeiten die "weinerliche" Interpretation Stanislawskijs am Moskauer Künstlertheater. Seine Tragik entfaltet das Stück in seinem Wissen um die Zerrüttung, Dialoge und Figurenzeichnungen sind hingegen vor allem eins: komisch überdreht und krankhaft smalltalkend, gerade um zu übertünchen, dass sie merken, wie sinnlos alles war und ist. Sebastian Hartmann hat sich denn auch deutlich von der musealisierenden Inszenierungsweise, wie sie Peter Stein und nach ihm zahlreiche "Kirschgarten"-Versionen pflegten, distanziert – und absurdes Theater gemacht.
Dafür wendet er seine schon in O'Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht versuchte Improvisationstechnik an: Es gibt festgelegte Elemente und lose Versatzstücke, die den Schauspielern wie ein Repertoire zur Verfügung stehen und die – theoretisch jedes Mal anders – kombiniert werden. Das birgt im Spiel das Potential tiefer Wahrhaftigkeit, aber auch Gefahren, zumal die Schauspieler bei der Premiere noch nicht perfekt miteinander harmonieren und sich ein bisschen zu oft aus Versehen gegenseitig unterbrechen. Vor allem aber gelingt es Hartmann so, die Grundstimmung an den Zuschauer weiterzugeben, ohne sie theatral zu übersetzen. Wenn die Figuren gefühlte Stunden am Tisch sitzen, rauchen und ein Nicht-Satz den nächsten jagt, springt die Lethargie ganz schnell auf den Zuschauer über. Zum ersten Mal passt das Hartmann'sche Aushalten von Situationen wirklich zum Inhalt des Stücks: Die Größe dieses "Kirschgartens" liegt darin, dass die Langeweile schlicht absurd wird.
Warum immer so viel in sich hinein schlingen?
Alles weist auf etwas Größeres hin: Ein bisschen verarmter russischer Adel, so will man uns wohl sagen, steckt in uns allen. Das Bewusstsein, dass die Zeit abgelaufen scheint, steckt im amerikanischen Kleinstadtmief, dem die Bühne mit ihren Pastellfarben und dem ordentlich gemähten Rasen nachempfunden ist. Sie steckt auch in unserem System, in überholten Werten, von denen wir uns nicht trennen mögen. Irgendwann fasst der Narr die Sinnlosigkeit des Ganzen zusammen: "Warum muss man immer so viel in sich hinein schlingen. Und warum trinken? Und warum muss man immer so viel reden?" Die Wirklichkeit ist eben unfasslich – und selten scheint das so klar auf wie in den beiden Monologen von Maximilian Brauer und Manuel Harder.
Nach und nach wird die Inszenierung hysterischer, wird jeder Zustand im nächsten Moment wieder zertrümmert. Immer wieder wagen die Figuren die Flucht aus ihrer Realität, stehlen sich davon, lavieren sich heraus oder verlieren sich in sinnlosem Geschwätz. Alle kämpfen mit der gleichen Leere – buchstäblich, wenn der Nahkampf zum Schreckschusspistolenstunt mutiert. "Es ist die falsche Zeit für ein Fest", sagt die Gutsbesitzerin Ranjewskaja schließlich, denn im Grunde trauern sie alle noch um den verstorbenen Sohn, sie beweinen den Verlust der guten, alten Zeiten. In dieser Inszenierung ist immer alles da, alle Trauer, alle Angst und jeder Nervenzusammenbruch überpudern das Geschehen mit einer Schicht von Universellem. Das ist eine mutige Herangehensweise an einen Stoff. In Leipzig ist sie gelungen.
Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Deutsch von Werner Buhss
Regie: Sebastian Hartmann, Bühne: Susanne Münzner, Kostüme: Adriana Braga, Musik: Steve Binetti, Dramaturgie: Uwe Bautz.
Mit: Rosalind Baffoe, Maximilian Brauer, Artemis Chalkidou, Manuel Harder, Thomas Lawinky, Paul Matzke, Ingolf Müller-Beck, Hagen Oechel, Peter René Lüdicke, Lore Richter, Holger Stockhaus, Birgit Unterweger, Jana Zöll.
www.schauspiel-leipzig.de
Mehr zu Sebastian Hartmann im nachkritik-Archiv. Zuletzt inszenierte er im April 2009 Arsen und Spitzenhäubchen, im Februar 2009 O'Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht.
Kritikenrundschau
Für Christopher Schmidt (Süddeutsche Zeitung, 20.11.) ist diese Inszenierung "ein Fanal, eine Anklage mit heißem Herzen". Und obwohl der Abend "einigen inhaltlichen Diskussionsstoff bietet, wird in Leipzig weniger über den Weltenbrand gesprochen, als vielmehr darüber, ob hier unter der Intendanz von Sebastian Hartmann gerade die Hütte brennt oder ob die Stadt vielmehr allmählich Feuer fängt für Hartmanns Vision eines Stadttheaters für das 21. Jahrhundert". Mit diesem "Kirschgarten" habe sich nämlich, weiß Schmidt, "eine Debatte entzündet, ob der Intendant den Mund zu voll genommen hat". Denn "während die einen ihn höhnisch als verspäteten Ankömmling in der postdramatischen Normalität begrüßen, schwärmen die anderen bereits für Hartmanns hohes C und beweisen im Internet (hier auf nachtkritik.de; die Red.) ihre Solidarität, indem sie die Schauspieler konsequent als 'Acteure' beschreiben". Ist Hartmanns Tschechow-Inszenierung "nun also ein "Kirschgarten", also nur heutiger Standard, oder eben doch ein "Cirschgarten", der eine blühende Zukunft verheißt? Die zugegeben langweilige Antwort lautet: beides." Man könne "vieles an diesem "Kirschgarten" bemängeln, aber die Kraft und Lebendigkeit, die Glaubwürdigkeit und die Dringlichkeit sowie die Unmittelbarkeit, die der Abend besitzt, wiegt schwerer als alle sauren Kirschen". Und "wenn das Theater so für seine Sache glüht wie in Leipzig, muss man sich um die Betriebstemperatur keine Gedanken machen".
Einen "über weite Strecken schwungvollen Abend" hat Torben Ibs (taz, 18.11.) gesehen. Im Vordergrund stünden, "wie oft bei Hartmann", vom Stück "losgelöste Spieleinlagen zwischen Action und Slapstick, die zum einen einen kryptischen Kommentar zum Stück darstellen, zum anderen sehr unterhaltsam sind". Diese Spielszenen können aber nicht den Abend tragen: "Hartmann schafft es besonders im zweiten Teil nicht, die Spannung konstant zu halten. Stockschlagduelle und Al-Capone-Schießereien vermögen auf Dauer nicht zu fesseln und es fehlen hier und da Ideen, die über den Krawall hinausgehen." Erst am Ende zaubere er "ein minimalistisch-dramaturgisches Ass aus dem Ärmel, wenn Holger Stockhaus beginnt, aus Tschechows "Erzählung eines Künstlers" zu rezitieren". Darin solle das Volk seine Ketten zerschlagen soll, statt sie weiter zu schmieden. Bei Hartmann fällt der gesellschaftliche Umsturz oder die Revolution dagegen einfach aus. "Ein Schelm, wer bei dieser Fabel auch an 1989 und seine Folgen denkt."
Als "Attacke, die aufs Unbehagen an der Gegenwart zielt und oft auch schwer fasslich trifft", empfand Ralph Gambihler in der Chemnitzer Freien Presse (14.11.) diese Inszenierung, der auch von einem "paradoxen Werk der Leipziger Postdramatik" spricht. Museale Tschechow-Staubigkeiten kämen in dieser "gründlich entpsychologisierten Unkomödie" bestimmt nicht auf, versichert er, berichtet aber auch, dass im Verlauf des Premierenabends so mancher Zuschauer die Flucht angetreten hat. Sebastian Hartmann hat aus Gambihlers Sicht ein "heutiges Endspiel von kulturellen Formen" inszeniert, die keinen Halt mehr geben, weil sie den wirklichen Verhältnissen nicht mehr entsprechen würden. "Streitbares Themen- und Thesentheater also. Schreckliche Entblößungen. Humanistisch motivierte Randale." Ärgerlich sei, dass "das Hartmannsche Theater der Eskalationen und die darin steckenden Diagnosen auch bei Tschechow etwas Abstraktes haben, weil sich die Regie der Geschichte von einzelnen Menschen nicht mehr zuwendet." Am Ende gehe wieder mal mindestens ein Riss durch den Saal: "Man applaudiert beglückt, sitzt versteinert oder klatscht aus freundlich-gelangweilter Distanz."
Bemerkenswert findet Andreas Hillger in der Mitteldeutschen Zeitung aus Halle (14.11.) diesen Abend, der außerdem staunend entdeckt hat, wie kurzweilig Langeweile sein kann. Denn in Sebastian Hartmanns "großflächiger Komposition, die den weit ausgreifenden Monolog ebenso selbstverständlich einbindet wie den knappen, bösen Witz", teile man diese Haltung als physische Erfahrung mit dem Ensemble. "Und erst wenn man durch die provozierten Phasen der Ablehnung und der Langeweile, des Zorns und der Belustigung hindurchgegangen ist, begreift man dies als unmittelbare Wirkung dieses Theaters. Es sucht sich seine 'Objektivität', seine 'Wahrhaftigkeit' jenseits der Buchstaben im Geist des Textes. Tschechows Drama diene ihm dabei nur als Vorlage: "Die Figuren wandern durch die Darsteller, jeder Einzelne kann vervielfacht werden und jede Gruppe in einer Person zusammenfallen." Das Leben als Leseprobe, "zwölf Schauspieler in Erwartung ihres Regisseurs. Weil der aber nicht kommen will, müssen sie improvisieren. Und das können sie!"
"Das hat man irgendwie alles schon mal gesehen auf der Bühne des Centraltheaters", beklagt sich Nina May in der Leipziger Volkszeitung (14.11.), "den improvisierten Wahnsinn in der 'Publikumsbeschimpfung', das Apokalyptische in der 'Matthäuspassion', den Slapstick in 'Arsen und Spitzenhäubchen'." Zar gelingt es Hartmann ihrer Ansicht nach, das "Aneinander-Vorbeireden einer zum Untergang verurteilten Elite, die sich selbst einredet, dass es so schlimm schon nicht kommen " auf den Punkt zu bringen. Doch hat sie das Grundprinzip der Inszenierung "nach einer Stunde begriffen", wie sie schreibt. Danach stellt sich ihr die Frage, "ob Theater Grausamkeit stets so aufgreifen muss, dass es die Zuschauer grausam behandelt." Denn was ihrer Ansicht nach in diesen knapp vier Stunden geboten wird, sind "einzelne Zirkusnummern, die kaum Orientierung bieten."
Hartmann benutze den 'Kirschgarten'-Text als Material, ergänze ihn, mische ihn mit Musik, und löse damit nicht nur den Text, sondern auch die Figuren auf, beschreibt Stefan Petraschewski in der MDR-Sendung Figaro (13.11.) die Inszenierung. "Jeder darf mal jeden spielen. Der ganze erste Teil bis zur Pause beruht textmäßig auf Improvisation nach dem Motto: Die Situation des 'Kirschgartens' ist klar, die Textbausteine liegen auf dem Tisch, jetzt macht mal was draus!" Und das gelingt Petraschewskys Ansicht zufolge auch ganz gut, für den diese Arbeit auf für Sebastian Hartmanns Suche nach einer neuen Struktur und Ästhetik für das Stadttheater im 21. Jahrhundert steht. Unterm Strich ist der 'Kirschgarten' eine daher gelungene Inszenierung für ihn. "Obwohl: Inszenierung? Da könnte schon der Fehler liegen. Ist es das eigentlich? Inszenierung. Will es das sein?" Denn trotzdem sei der Abend "auch eine Zumutung." Eine Zumutung im negativen wie positiven Sinn allerdings.
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Folglich benutzt Sebastian Hartmann Text einmal mehr als Material, ergänzt ihn, mischt Musik dazu, löst damit nicht nur den Text sondern auch noch die Figuren auf. Jeder darf mal jeden spielen. Der ganze erste Teil bis zur Pause beruht textmäßig auf Improvisation nach dem Motto: Die Situation des „Kirschgartens“ ist klar, die Textbausteine liegen auf dem Tisch, jetzt, liebe Akteure, macht mal was draus! Und das gelingt auch ganz gut. Wie gesagt: für Hartmann ist das ganze ja die Suche nach einer neuen Struktur und Ästhetik. Und dann sieht man zum Beispiel, wie einer (Holger Stockhaus) über die Holzwürmer philosophiert, die es sich im altehrwürdigen Gartentisch seit Jahren eingerichtet haben. Ein anderer (Maximilian Brauer) spielt den Tollpatsch. Ein dritter (Thomas Lawinky) fackelt Blumenstrauß und Hut ab. Das alles sind Kabinettstückchen, die sehr komisch rüberkommen und die „Komödie“ ernst nehmen, als die Tschechow seinen „Kirschgarten“ ja bezeichnet hat. Diese Dramaturgie der Kabinettstückchen zieht sich dann durch den ganzen Abend, wobei die Kabinettstückchen auch zunehmend Körpereinsatz erfordern. Es ist fast wie beim Staffellauf, wie hier Kabinett auf Stückchen folgt. Ein paar Schauspieler haben blaue Flecken, Bandagen und wohl auch Gips von der Probenarbeit. Die Akteure wollen offenbar Grenzen überschreiten: sich aus der Schauspiel-KUNST in eine Schauspiel-REALITÄT hinüberkämpfen - oder hinüberretten?
Jedenfalls war das sehr berührend zu sehen, wie etwa Birgit Unterweger den sterbenden Schwan tanzt (siehe Foto unter downloads auf homepage Schauspiel Leipzig), sich eine gefühlte Ewigkeit auf der Bühne hin- und herschmeißt, sich dabei verkrampft und verkrüppelt, um mit dieser neuen Schauspiel-REALITÄT den ganzen Kirschgarten-Frust, diese absurde Wartesituation hinter sich zu lassen. Hilflos und berührend wirkt das zugleich! Nur ab und an wird die Dramaturgie dieser Kabinettstückchen gebrochen. Dann sprechen die Schauspieler Sätze wie diesen im Chor: „Wir schwafeln nur, klagen über die langen Nächte, schütten Wodka in uns rein - das müssen wir begreifen!“ Man kann hinzufügen: Und unser Leben ändern!
Also ein sehr moralisches Theater, das sich immer noch der Aufklärung verpflichtet fühlt. Und eben deshalb den Theatertexten nicht mehr vertrauen kann, weil diese Texte versagt haben - denn: Wir Leben nach der Katastrophe. So heißt es im Stück. Theater als moralische Anstalt konnte die Katastrophe nicht verhindern! Unterm Strich ist der Hartmann’sche „Kirschgarten“ vielleicht weniger eine Inszenierung als die Vorstellung eines vorläufigen Arbeits-Ergebnisses auf der Suche nach neuer Struktur und Ästhetik? Diese Erforschungsarbeit, die das Leipziger Stadttheater zur Experimentierbühne macht, muß getan werden! Andererseits ist das ganze auch eine Zumutung. Im negativen wie positiven Sinn. Nämlich für diejenigen, die an so einem Abend eine gelungene, aktuelle Interpretation eines dramatischen Textes mit Botschaft erwarten - wie das bei geschätzten 12 „Kirschgarten“-Inszenierungen an deutschsprachigen Stadttheatern in den letzten 60 Jahren - nunmehr also etwa 720mal geschah.
aber es gerinnen in nullkommanichts alle realen momente zu mitteln, die zu nichts anderem führen, als akribisch zu unterstreichen, wer hier der alleinige künstler ist: der in der reihe neun mitte. second-hand? egal. tja, das ist so eine sache mit dem performen. müsste sich dabei nicht zunächst mal die regieposition zur disposition stellen? wer danach fragt, wie ein strukturelles/ästhetisches dogma für das theater des 21. jahrhundert aussehen könnte, tut das vor allem, um alles beim alten zu lassen: hier der schauspieler, der bleibt bitte schön körper, dort der regisseur, der schreibt selbstverständlich weiter vor. am liebsten, dass er nicht vorschreibt. na gut, herr hartmann entwickelt sich weiter. zum glück. und vielleicht, sagen wir in zehn jahren, braucht er nicht mehr von den ästhetischen dogmen zu reden, weil er dann so arbeitet. um das ganze zu beschleunigen, kann er ja mal bei theaterschaffenden nachfragen, die das längst tun.
kann mal jemand was ueber den abend schreiben? mich interessieren post von beleidigten schauspielern und jungregie gar nicht....
ich habe mich darüber geärgert, dass sich immer wieder regisseure postitionen zu eigen machen, die nicht die ihren sind, nur um ihre position zu festigen. in diesem fall auch noch eine, die sie selbst in frage stellen müsste. was herr hartmann nicht tut, jedenfalls nicht im kirschgarten, was zugegeben der erste ct-produktion ist, die ich gesehen habe. nichtsdestotrotz fand ich die inszenierung wirklich nett. wenn nur nicht immer diese ideengetue drumherum dabei wäre. performanz ist nun wirklich ein alter schuh und davon reden immer erstmal diejenigen, die so NICHT arbeiten, woytek. gruppen, die performativ arbeiten, brauchen das schleißlich nicht zu postulieren. eins noch auweia, sie meinten wohl, ich wäre aus hamburg angereist und, da kann ich sie beruhigen, auch da liegen sie falsch. abermals drängt sich der verdacht auf, sie waschen schmutzige wäsche. womöglich sind sie im näheren umfeld der inszenierung zu finden, vielleicht bin ich ihnen auf den schlips getreten, das tut mir ausgesprochen leid. aber versuchen sie es doch mal mit der hamburgischen dramaturgie, keine schlechte adresse und die könnte such der krischgarten vertragen.
mit den freundlichsten grüssen.
kann. Abgesehen von den Besuchern, die in den herbeigeführten Momenten der Stille, des Innehaltens, niesen, husten oder gehen, weil sie wahrscheinlich einfach nichts mehr merken oder fühlen,alle können wirklich dankbar sein, dass Hartmann hier in Leipzig den Geist anzuregen versucht. Und die LVZ-Kritiker noch dazu, die sich in der nachtkritik ( ausgewählte ) Aussagen für ihre fast B....zeitungsartikel suchen.
Theatergänger wissen inzwischen, dass, obwohl Tschechow drauf steht, nicht Tschechow drin sein muss. Auf der Bühne ein Vorortalptraum von Eigenheim, in dem die Garage mehr Raum einnimmt als das Wohnzimmer; davor Beton auf Rasen, ein Tisch, 13 Stühle (Kirschbaumholz?). Die Eigentümer haben ihr Kommen angekündigt, aus Paris reisen sie an, das Grundstück mit Kirschgarten steht zum Versteigerung und eine Lebensart zur Disposition.
Doch darum geht es hier nicht. Hier nehmen 12 Apostel des Weltuntergangs Platz (und ein Gitarrist), sie teilen sich in die Charaktere, Rollen, Textfragmente. "Da wohnt man nun schon in einer Gegend, wo es jeden Moment anfangen kann zu schneien, und dann diese Gespräche!" Ja, so kann man das Aneinandervorbeireden ins Heute holen.
Die Stimmung kippt nach allen Seiten, ferner spielen mit: ein Lada, ein Rollkoffer, ein brennender Rosenstrauß; Text ist zu erkennen, aber egal. Individuen spielen keine Rolle. Einzelkämpfer teilen sich in alles, auf die Spitze getrieben im uniformierten Sprechchor.
Es könnte um den scharfen Grat an der Schnittstelle von Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart gehen. Um die Frage: Was treibt mich um, was voran, und wohin? Es könnte um vermeintliche und um echte Freiheit gehen, um den Anspruch an Gemeinschaftlichkeit und die Feigheit, sich Abhängigkeiten zu entziehen.
Zu sehen aber sind Posen. Maximilian Brauer spielt einen Hofnarren, der - ganz gleich, ob auf Drogen oder in unverhohlener Verzweiflung, - sich die Seele aus dem Leib jagt. Auch Manuel Harder (mit gebrochenem Fuß), Peter-René Lüdicke, Holger Stockhaus beherrschen die Improvisation der Sinnsuche. Sie haben die Mittel, aber kein Ziel.
Das bleibt bis zum ersehnten Schluss vage, weshalb dem einen Schluss noch einer folgt und dann noch einer und ... Am Ende Jahrmarkt mit Klau aus der Kiste.
Mit Frauen weiß Hartmann wenig anzufangen. Die verbleibenden vier, nachdem Theaterpreisträgerin Anita Vulesica vor etwa zwei Wochen ihre Kündigung quittiert wurde, müssen als nacktbeinige, derbe Hysterikerinnen dem Stück die Seele austreiben. Wobei Rosalind Baffoes Besetzung als schwarzhäutige Femme fatale billigste Effekthascherei ist. Den Heile-Welt-Small-Talk-Ball deutet er als Wild-Ost-Gemetzel, in dem alle mehrfach klischeehaft sterben, bis eine Art Katerstimmung die mit sich und allem Kämpfenden ermüdet.
Neben Gewalt als Zeichen der Zuwendung arbeitet er eine allgegenwärtige Angst heraus, Angst vor der eigenen Courage, vor dem freiwilligen Glück in heiler Familie, Angst vor Heimatverlust und Zukunft. Es graut vor der Wirklichkeit mehr als vor den Geistern aus dem Jenseits. Die reale Liebe ist unbegreiflich, nicht die Phantasie. Da sprechen alle mit einer Stimme, was einerseits konsequent ist, andererseits langweilig. Hartmann ironisiert seine eigenen Ängste bis zum Zynismus. Das minimiert die Idee, die er da treffend illustriert. Agit-Prop weicht Weinerlichkeit.
Tschechows herausgestellte "Erzählung eines Künstler" wäre ein Gedankengewinn versprechender Ausgangspunkt. Als Ergebnis präsentiert, steht sie im Schatten naiver Bedeutungshuberei. So gern der Regisseur hier einen Spiegel halten will, es wirkt doch oft wie's Staunen des Narziß. Was ist nun der Skandal? Publikum und Schauspieler so arg zu unterschätzen.
(Dieser Kommentar wurde ohne Wissen der Autorin unter ihrem Namen eingestellt; lesen Sie dazu den Kommentar Nr. 17.
die Red.)
Mal abgesehen davon, dass es hier eigentlich um den “Kirschgarten” gehen sollte (ausser “einfach nur sensationell” finde ich in Ihrem Beitrag leider nichts dazu, auf das man eingehen könnte): Was haben Sie denn früher in Leipzig alles so gesehen, was “kein richtiges Theater” war?
Auch hat mein Beitrag nichts mit der von Ihnen beschriebenen "Stimmungsmache" zu tun, diente es doch lediglich dazu, hier diskutierte Falschmeldungen zu berichtigen, so dass, wenn derlei schon besprochen werden muss, wenigstens die Fakten stimmen mögen. Sie scheinen immerhin auch recht intimen Einblick in die Abgänge zu haben, da Sie sich zu der (allerdings exklusiven) Ansicht versteigen dass da nur mitlaufende Nebendarsteller das Haus verlassen. Die Betroffenen werden diese Wertung ihres Schaffens mit Interesse lesen, so sie sie denn lesen. Oder wissen Sie schlicht nicht, wer das Haus verlässt, dann lassen Sie bitte auch das einschätzen beiseite.
ich bin weder vom Theater noch weiss ich, um welche Zugänge und Abgänge es geht. Ich will mich auch gar nicht streiten oder über Namen spekulieren. Das habe ich auch in meinem ersten Eintrag nicht getan. Können Sie lesen? Was ich mit Hauptdarsteller und Nebendarsteller im übertragenen Sinn meinte war, dass es immer und an allen Theatern, die ich kenne, natürlich war, dass eine wechselnde Anzahl an Schauspielern das Ensemble zum Ende einer Spielzeit verlässt. Es gibt Schauspieler, die ein Theater prägen, die auch die Zuschauer lieber sehen und die deshalb mehr zum Zug kommen als andere, die dann wiederum nicht zufrieden sind und sich zu neuen Ufern aufmachen. Was das dann aber, wie Sie unterstellen, mit der Qualität eines Theaters zu tun haben soll, verstehe ich nicht. Dahinter vermute ich dann auch, wie "Karsten D. aus DD", eher andere Motive als die bloße Neugier darauf, wer denn nun geht und wer denn nun kommt, auch wenn ich es vielleicht nicht ganz so barsch formuliert hätte. Um aber auf den Kirschgarten in Leipzig zu kommen, es wäre jammerschade um jeden einzelnen der Mitwirkenden, denn sie spielen nicht nur, sondern sie entwickeln den Abend! Das ist eine große Leistung und eine tolle, wenn auch keine leicht verdauliche Inszenierung. Sie hat Längen, das ist unbestritten, die Momente, die nachwirken, überwiegen aber in jedem Fall. Bei der Schnelligkeit mancher Wechsel wirken mitunter sogar schon die Monologe störend, was so manchen Freund der Werktreue sicher mal wieder auf die Palme bringen wird. Dann soll es so sein. Theater muss nicht jedem gefallen und es werden auch wieder Stücke kommen, die mir weniger oder auch gar nicht liegen. Aber genau so will ich es. All diejenigen, die dann auf Nebenschauplätzen ihre Lunten zünden, sollten sich vielleicht mal überlegen, ob sie einem Haus damit nicht genau die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die sie ihm eigentlich verweigern wollten. Dieser Gedanke gefällt mir so gut, dass ich es dabei dann auch belassen möchte.
Ein ewig langer Unfall, wie bei Godard "Weekend", welche sich hier aber über 3h erstreckt. Tatsächlich fühlte mich sofort an Hollywood (ja, das ist abwertend gemeint) erinnert. Überspitzt formuliert Quentin Tarantinos Schießereien gepaart mit "Zeiten des Aufruhrs" (und das ist zu nett formuliert). Dabei durfte ich hier jedoch die Hitze des "ich brenne" spüren und nach der Schießerei noch über eine Stunde Rauch und Abgase einatmen - wow. Doch ist das nicht irgendwie armselig? Beinahe konsequent wird mit einem Zitat von Woody Allen geschlossen. Auf zum Rummel - ich finde Tschechow besser.
Warum aber habe ich das Gefühl, dass hier kein bedeutendes Theater gemacht wird, obwohl doch scheinbar alles dafür spricht: weil ich fast immer die gleiche Inszenierung von Herrn Hartmann sehe - nur mit wechselnden Titeln. Die inszenatorischen Mittel aus Kirschgarten kennen wir bereits: Auflösung der Figuren, Fragmentarisierung (um nicht von einer Zertrümmerung des Textes zu reden), Slapstick-Einlagen, Anleihen aus dem Absurden Theater, Effekthascherei. All dies sind ja durchaus legitime Mittel. Aber ich habe den starken Eindruck, dass hier jemand eine feste Vorstellung von einer Theaterästhetik hat und versucht diese seinen Stücken überzustülpen anstatt für eine Idee/ein Stück eine Ästhetik zu suchen. Eine überflutete Bühne an der richtigen Stelle hat sicher ihren Reiz. Ein brennender Schauspieler auch oder ein Auto, das gegen die Wand fährt. Aber in dieser Häufung erscheint es mir sehr gewollt und macht den Eindruck als ließe er keine noch so kleine Chance aus, den nächsten Knalleffekt unterzubringen. Mit Tschechow hat das wenig zu tun.
Eine Ausnahme gibt es allerdings: "Eines langen Tages Reise in die Nacht" Hier lässt sich Hartmann auf den Text ein, statt ihn zu zerschlagen. Ohne gleich von Wertreue zu sprechen ist das Resultat ein stilles, psychologisches Drama, das aber durchaus die Handschrift des Regisseurs trägt und dadurch eine gewisse moderne Lesart nahelegt. Ich habe das Gefühl, wenn Herr Hartmann nicht Herrn Castorf spielen will, ist er wirklich stark. Irgendwann wird es Zeit, seinen Meister hinter sich zu lassen und seine eigene Sprache zu finden. Dass er das Zeug und den Mut dazu hat, hat er bewiesen.
noch eins herr kreuner, ich ertrage die ewigen standbein spielbein theater in deutschland nicht mehr, das ewig und immer gleiche in szene setzen von stücken mit ihrer empirisch bewiesenen "autoren-sicht-geruch-geschmack" und was es da noch alles gibt, der heilige autor, das heilige theater, die heilige wertegesellschaft..... irgendwie war mir da der hartmann immer lieber und jetzt hat er ein theater und die leute streiten sich um ihn, was gibt es besseres.
Die "heilige Wertegesellschaft" müssen Sie natürlich ebenso ablehnen, weil Sie ja unbedingt und zwanghaft die Grenze zum Tabu überschreiten müssen, stimmts? Na, dann leben Sie doch mal dauerhaft in der anarchischen Zerstörung bzw. im Chaos. Zum Beispiel in den Slums der Metropolen der sogenannten "Schwellenländer". Fragen Sie doch mal die Leute dort, was die eigentlich lieber wollen, Chaos oder ein politisches System, welches nicht korrupt ist und auch die Interessen der "kleinen Leute" vertritt. Da gehts um ganz banale Dinge wie einen Job mit einem den Lebensunterhalt sichernden Lohn, ein Dach über dem Kopf, medizinische Versorgung, Bildung, Rente. Für bestimmte Werte einzutreten, das ist die Ent-Scheidung vom Chaos des bloßen Seins bzw. des nackten Überlebens. Und Sie wollen das alles abschaffen? Entschuldigen Sie meine Polemik, aber gehts Ihnen vielleicht immer noch zu gut?
Was ich mich aber schon frage, und vielleicht können Sie mir diese Frage ja beantworten, da Sie die Inszenierung bereits gesehen haben: Wie kommt Hartmann eigentlich von der ländlichen Gutsgemeinschaft des "Kirschgartens" (sic!) auf die globalisierte Wettbewerbsgesellschaft samt geplatzter Immobilienkredite sowie Krise der Autoindustrie? So dringlich diese Themen im aktuellen Kontext natürlich sind, fehlt mir hier dennoch der inhaltliche Bezug zum Stück. Geht es da nicht um den Widerspruch zwischen dem abhängigen Leben auf dem Lande und dem freien Leben in den Städten, welches neue, vor allem vom Geld diktierte, Abhängigkeiten schafft? Vielleicht war diese Form des Lebens auf dem Landkollektiv ja nicht NUR schlecht? Vielleicht ist Reichtum nicht per se schlecht, sondern nur dessen nicht profanierter Besitz bzw. dessen Anhäufung aus einer individuellen Profitgier heraus? Bei Hartmann sind alle von Beginn an (auch profitgierige) Proletarier. Warum diese Setzung? Mir fehlt hier, wie gesagt, die Differenz zwischen "Vergangenem" und "Gegenwärtigen". Aber nichts für ungut und danke der Nachfrage, mir gehts gut.
Schade, dass Sie auf meine Fragen nicht eingehen wollen. Ich habe die Kritik aus der "Süddeutschen" natürlich auch gelesen, werde daraus aber nicht ganz schlau. Schmidt schreibt da zum Beispiel Sätze wie die Folgenden: "Wie abhängig wir alle von dieser Industrie (Autoindustrie) sind" oder "wie unscharf die Feindbilder geworden sind in einer Zeit, da jeder den Kapitalismus in Frage stellt und trotzdem auf seinen Wohlstand nicht verzichten möchte". Stimmt das denn? Dass "wir alle" von der Autoindustrie abhängig sind und auf "unseren Wohlstand" nicht verzichten möchten? Geht es nicht zunächst und vor allem um das Zwischen-den-Menschen einer politischen Gemeinschaft? Um die wechselseitige Abhängigkeit einer (ländlichen) Produktionsgemeinschaft? Funktioniert Veränderung nicht nur auf der Basis von Solidarität zwischen Menschen und nicht zwischen Menschen und der Autoindustrie? Oder meint Hartmanns Inszenierung am Ende genau das?
Übrigens, ich bin weder eine Verfechterin der Werktreue noch des sogenannten Regietheaters. Diese dualistischen Kategorisierungen sind längst überholt. Und damit auch die Propagierung eines "Dogmas" gegen den Schauspieler als vermeintlichen "Secondhand-Künstler". Dass ein Schauspieler weder ein leeres Gefäß für den Text noch ein Sklave des Regisseurs ist, genau das meint doch die Rede von der "Postdramatik" bzw. "Performanz", wonach eine Aufführung erst im Prozess des Spiels hervorgebracht wird. Aber das ist doch nichts Neues.
Schließlich, könnten Sie vielleicht noch ein wenig genauer beschreiben, was sie mit "Querverstrebung" meinen?
Aber da wir nun schon beim Thema sind: alle Welt und auch Sie beschweren sich über scheinbar altbackene Inszenierungen weit und breit, die nur den Text heiligen und in denen die Schauspieler den immer gleichen Rollen nur Körper und Stimme leihen. Diese Kritik übt auch Hartmann. Das letzte Bild in Publikumsbeschimpfung, in der ein junges Mädchen zu einem Text vom Band gar zu offensichtlich nur den Mund auf und zu macht, so dass auch der letzte versteht, dass hier keine Illusion entstehen soll, reflektiert durchaus gelungen das alte Prinzip des Theaters als Spiel zwischen Schein und Sein - so wie die gesamte Inszenierung. Und es ist ein heftiger Seitenhieb auf das Illusionstheater. Mag das Bild auch gelungen sein - auch wenn er die alte Theaterregel von Brecht nicht beherzigt, der sagte "Jeden Witz und jeden Effekt nur einmal.", denn kurz zuvor kam in anderer Besetzung dieses Bild schon einmal vor, so muss man doch sagen, dass es überhaupt kein Illusionstheater mehr gibt. Vielmehr ist das Regietheater mit der Zertrümmerung von Text, Illusion und Autor zum scheinbar (post)modernen Dogma geworden. Der Autor als Instanz wird dabei aber nicht abgeschafft; sie hat sich nur verlagert, vom Schriftsteller zum Regisseur. Ein wirkliche Abschaffung der Instanz des Autors kenne ich nur aus den Texten - jawohl aus den Texten - Heiner Müllers. Im Übrigen gibt es doch keinen einzigen Regisseur mehr in Deutschland - außer Peter Stein - der tatsächlich noch ungekürzte originale Texte inszeniert. Wie sagte Stein einmal, angesprochen auf die Frage, ob seine werkgetreue Inszenierungsweise nicht längst überholt und konventionell ist: "Wenn alle anderen außer mir Regietheater machen und ich der einzige bin, der versucht, den Text möglichst ernst zu nehmen, dann ist die Frage beantwortet, wer hier konventionell inszeniert und wer nicht."
Plump würde ich einfach mal einen Fragebogen zur Pause empfehlen ... oder zumindest bevor die Leute den Saal verlassen. Auf dem würde bei mir beim Thema "Verfassen sie einen kleinen Aufsatz" (die Pausen sind lang genug) sowas stehen wie: Ich möchte kein neuerfundenes Theater sehen, sondern Theater,Gewandhaus welches mit empfindsamer Hand komponiert und wohltemperiert wurde. Dass das möglicherweise schwieriger ist als einen Blockbuster zu kreieren ... aber ich wieder hole mich.
Auch wenn ich das Leipziger Gewandhaus als unglaublich konservativ ansehe (und selbst darunter leide) - es funktioniert, weil es auf einem festen Standbein fusst.
@58. Wenn hier mal über "Kirschgarten" diskutiert würde. Mir scheinen eher Tiraden und Identitätsfragen der unrepräsentativen Sorte ausgetauscht zu werden.
ich schließe mich ihrer Meinung an. Hier hat auch auch sehr fruchtbare Diskussion um "Der Kirschgarten" stattgefunden. Doch dann kamen leider wieder die üblichen und bedauernswerten Claqueure aus ihren Löchern, wie es sie offenbar an jedem Theater geben muß. Ich würde gerne fragen, ob jemand von den ernsthaften Diskussionsteilnehmern den Beitrag zum Centraltheater auf 3sat gesehen hat? Fand ich sehr spannend! Der Beitrag, in dem auch "Der Kirschgarten" zur verdienten Geltung kam, hat die intensive Stimmung sehr gut wiedergegeben, die um das Theater in Leipzig jetzt herrscht. Der ältere Mann, der sich als Gegner des Hauses präsentierte, hat so rückwärtsgewandt geredet, daß es mich richtig schockiert hat. Welchen Teil deutscher Geschichte wünschen sich solche Menschen zurück? Ich dachte zuerst, muß man ihm eine Plattform geben in diesem Beitrag? Und dann dachte ich, er ist selbst sein allerbestes Gegenargument. Ich mag es, in das Theater zu gehen und mich auch drüber zu streiten. Es ist wieder was los. Claire
Um es nur sogleich vorweg zu sagen: Ich habe den "Kirschgarten" in der aktuellen Leipziger Fassung auch noch (!) nicht gesehen, habe mir in diesem Jahr aber sehr wohl einen "Kirschgartenschwerpunkt" verordnet, da z.B. Braunschweig, Göttingen, Kiel und/oder Lübeck, um nur vier Beispiele zu nennen, auch "Kirschgärten" zeigen und für mich weder Theaterausfahrten noch Stückekomparatistik out sind.
Den spannungsbogenfreien Kirschgartenabend in Kiel werde ich demnächst -für den Zirkus Schell- besprechen in einer Erlebnisnotiz (dann im Forum).
Mir wäre es mitunter auch lieber, dieser "Fußballkrawall" von allerlei Theater-Fangruppen würde an dieser Stelle nicht immer wieder auftönen ! Wäre mir aber auch lieber, es gäbe wirklich eine "Type"-"Token"-Linie bei nachtkritik de., d.h. eine der Komparatistik näherliegende. Ich würde dann schlichtweg "Der Kirschgarten" von Anton Tschechow unter "Type" anwählen, um dann unter "Token" die Versionen aus den einzelnen Theatern auffinden zu können.
Kann ja dann extra Seiten zu Leipzig oder Bochum oder zu Regisseuren geben, meinethalben; aber möglicherweise wird dann auf Kirschgartenseiten dann wirklich über Kirschgärten geschrieben !
Im übrigen stimme ich Jean D. zu; ich kann mir anhand der hier versammelten Beiträgen, der Centraltheaterseite zum Stück etc. schon recht gut einen gewissen Eindruck von dem Abend verschaffen, ihn mir so in etwa vorstellen -ich unterscheide da die Phasen "Raupe" - "Puppe" - "Schmetterling" im Sinne des Vor - Während-oder-Geradedanach- Danach- .
Ich habe ihn auf meine Reiseroute gesetzt.
Vermutlich werde ich in einer Besprechung dann auf das Konzept zu sprechen kommen, den ganzen Tschechow als ein Stück zu betrachten und dann eben konsequent das durchzufahren mit unfesten Rollen, Spontanspiel etc., um dann weiter darauf einzugehen, daß diese Vorgehensweise durch Tschechow selbst zwar nahegelegt ist, aber andererseits nicht alternativlos dasteht, auch nicht was aktuelle und moderne Verhandlungsweisen angeht (siehe Finzis Hinweis vom "reduzierten Tschechowspiel" ... ) .
Ein Freud, ein Leid.
vielleicht sehen Sie es mal von der Warte aus: Im zeitgenössischen Theater geht es nicht mehr um den Zuschauer, der stock und steif in seinem Sitz hockt und den Abend an sich vorbeiziehen lässt. Es geht auch nicht mehr um das x-te Herunterrasseln eines x-ten Klassikers. Es geht darum, die Klassiker auf den Kopf zu stellen, um das Zeitgemäße (oder Zeitlose) aus ihnen herauszuschütteln. Und es geht um ein wesentlich autonomeres Verständnis vom Zuschauer, den man insofern zum Mitstreiter macht, als man ihm nicht eine Geschichte erzählt, sondern ihm Fragmente und Sequenzen anbietet, auf deren Basis er sich zum Autor des eigenen Stückes machen kann. THEATER MACHT SPASS!
Einen schönen Gruß
Ihr Malenkowitsch
im sall selbst stellt sich seine selbstattestierte einfallslosigkeit dann aber doch als relativ gehaltvoll heraus, anscheinend hat hartmann für das stück eine herangehensweise gefunden oder entwickelt, die zwar nicht unbedingt in jedem detail, aber im großen und ganzen doch sehr überzeugt.
was dem abend allerdings dennoch das genick bricht, ist das ausführende personal, das sich dort vorn auf der bühne abarbeitet (ich weigere mich, diesen haufen zusammengwürfelter als schauspieler zu bezeichnen). bösestes und bemühtestes zeigetheater bei den jungen, die frauen allesamt eine absolute zumutung. hier setzt jemand rampensaugehabe und selbstprofilierung mit talent gleich und irrt sich gewaltig.
schade um die energie, die der abend durchaus hat. die verpufft im getümmel der begabungsfreien belanglosigkeit, die mir dort vorn als schauspiel verkauft werden soll.
Dann der "Kirschgarten". Wieder einmal eine tolle Hartmann-Inszenierung, die ich jedem ans Herz legen möchte. Meine Begleiterinnen fanden sie entsetzlich, unverständlich und möchten nie wieder etwas von Hartmann sehen. Ich dagegen hätte im Anschluss an das Stück den "Kirschgarten" gleich nochmal schauen können. Mein Prädikat: äußerst empfehlenswert. Geht hin und nehmt eure Muttis mit!
P.S. Für die nächste Vorstellung wünsche ich mir eine NACHbesprechung mit Uwe Bautz und Sebastian Hartmann. Und Kirschkuchen für alle.