"Der Mythos lebt!"

von Anne Peter

Berlin, Juli 2009. "Wir, die Volksbühne", das sagt Stefan Rosinski gern. An Frank Castorfs berühmtem Haus ist er der neue Chefdramaturg und Stellvertretende Intendant. Konzeptionell betreute er vor der Sommerpause bereits das Antiken-Programm in der Freiluft-Ersatzspielstätte "Agora" vorm Säulenportal des Theaters, das gerade renoviert wird. Zu dem Zeitpunkt war Rosinski, Jahrgang 1961, noch Generaldirektor der Opernstiftung, ein Berliner Konstrukt, das die drei Opernhäuser, das Staatsballett und das Projekt einer gemeinsamen Bühnenwerkstatt umfasst. Anfang 2009 wurde bekannt, dass Rosinski, der mit dem Kultursenator und Stiftungsrats-Vorsitzenden Klaus Wowereit immer wieder in Konflikt geraten war, ab September von Peter F. Raddatz, bisher Chef der Bühnen Köln, abgelöst wird.


Herr Rosinski, Sie waren drei Jahre der Generaldirektor der Opernstiftung. Was halten Sie jetzt, nachdem Sie gehen mussten, von dieser Einrichtung?

Ich halte die Opernstiftung inzwischen für sinnlos. Wenn man so ein Fusionsmodell realisieren will, müssen auch die Instrumentarien geschaffen werden, um das entsprechend durchsetzen zu können. Aber die drei Opern zusammenzuzwingen und sie gleichzeitig nicht dazu anzuhalten, zusammen zu arbeiten, ist vollkommen absurd.


Keiner will die Deutsche Oper

Wird es die Opernstiftung in zehn Jahren noch geben?

Nein, ich denke, dass es aus Finanzierungsgründen zu einer Fusion von Deutscher Oper und Staatsoper kommt. So ein Großbetrieb wäre auch auf dem internationalen Intendantenmarkt wettbewerbsfähiger – jetzt will doch keiner die Deutsche Oper übernehmen! Das notorische Bürgertum könnte da hingehen wie ins Museum. Man sieht lauter Dinosaurier und findet das lustig, weiß aber, dass es mit dem eigenen Leben nicht viel zu tun hat. Die Ironie dabei ist, dass die Zeit der Riesenhäuser, ästhetisch gesehen, zu Ende geht: Von den Regisseuren werden heute andere Arbeitsformen bevorzugt. Sie wollen stärker in Ensemblestrukturen arbeiten. Nicht mehr irgendwo hinkommen, wo Sie keinen Menschen kennen.

Es wurde ja gemunkelt, Sie hätten selbst Interesse an der Intendanz der Deutschen Oper gehabt, die Kirsten Harms wohl nur noch bis 2011 innehaben wird ...

Ich habe auch gehört, dass ich mich da habe reindrängen wollen. Im Gegenteil: Ich bin vom Kulturstaatssekretär gefragt worden. Was ich aber vor dem Hintergrund der parallel dazu stattfindenden zwangsweisen Entfernung aus dem Amt des Generaldirektors als ziemlich absurd empfunden habe.

Als neuer Chefdramaturg der Volksbühne haben Sie also den schöneren Job?

Im Augenblick ist es hier großartig, weil der Mythos "Volksbühne" immer noch lebt.

Wir wollen den Abdruck der Straße

Worin besteht denn dieser Mythos?

Dass dies ein Ort ist, der das Theater immer wieder neu erfunden hat. Wenn ich mir vorstelle, wer in diesem Raum schon gesessen hat, sind das genau die Leute, mit denen ich gern an einem Tisch sitzen würde. Nehmen wir Erwin Piscator. Der hatte die Vorstellung, dass man die Straße hereinholen müsse, sie sich gewissermaßen im Theater abdrücken lässt. Übrigens in bewusster Gegenstellung zu Schillers Entwurf der Schaubühne als moralischer Anstalt. Wir sind stempelbereit, wir wollen diesen Abdruck der Straße. Aber wo gibt es einen Druck, der für uns politisch so relevant ist, dass sich daraus zwingend ein ästhetisch innovativer Abdruck erzeugen lässt? Vielleicht in den Slums von São Paulo – von uns global externalisiert, weil wir hier in dieser mittelprächtigen Republik so extrem relaxt sind, alle wohl versorgt und sozialversichert, und keinen wirklichen Anlass sehen wollen, uns zu radikalisieren? Da bleiben wir die Erben Brechts: Das Theater als ein Institut zur Erzeugung öffentlicher Skandale.

Und wie soll solches Theater aussehen?

Wir werden nicht diejenigen sein, die mit Realitätstheater oder sozialem Naturalismus jonglieren. Die Kraft des Künstlichen wird wesentlich in unserer Arbeit sein. Das mag überraschen, weil ja gerade die Volksbühne die klassische ästhetische Form eigentlich zerbrochen hat. Aber gerade deswegen ist dies der legitime Ort, sich mit dem Phänomen der Form wieder auseinanderzusetzen. Wir werden das bloß nicht Form nennen, wir nennen es 'Dogma'. Meinethalben im Sinne Lars von Triers, der sich selbst ein Regelwerk auferlegt, das seine Arbeit bedingt. Dieser produktive Rahmen, mit dem ich klassische Theatermittel freiwillig ausgrenze, zwingt mich, eine die Wirklichkeit distanzierende Form zu finden. Außerdem wird Performance für uns wichtig sein. Die konfrontiert den Zuschauer mit einem Ereignis, dessen Ausgang weder derjenige kalkulieren kann, der sie vollzieht noch derjenige, der zuschaut. Es gibt eine Sehnsucht des heutigen Publikums danach, einem Work-in-progress beizuwohnen, ohne ein fertiges Produkt aufgetischt zu bekommen.

Geist des Widerspruchs

Wie wollen Sie sich dabei gegenüber den anderen Theatern der Stadt positionieren?

Wir beschäftigen uns mit der Erkundung dessen, was man ein "intervenierendes Theater" nennen könnte. Darin sehe ich die Identität der Volksbühne: den gewöhnlich gewordenen Ausnahmezustand des deutschen Normaltheaters permanent zu unterbrechen. Dieses Haus lebt aus dem Geist des Widerspruchs, der Polemik. Wir, die Volksbühne, sind gewöhnlich nicht einverstanden mit dem, wie andere Theater machen. Das sind allzu oft ästhetische Blindflüge, die nicht wirklich überprüfen, was die politisch hochproblematischen Rahmenbedingungen ihres Handelns sind.

Gilt das für Sie tatsächlich so pauschal?

Besteht Polemik nicht genau in solchen Übertreibungen? Wir suchen jedenfalls ein gültiges Modell jenseits des Hebbel am Ufer oder des Deutschen Theaters. Das HAU ist ein Schauort, der verschiedene autonome Gruppen einlädt, dort zu arbeiten, aber keine Möglichkeit hat, über Jahre hinweg bestimmte Thematiken zu verfolgen. Das Deutsche Theater auf der anderen Seite ist so eine Art Bildungsanstalt, die Klassiker zeitgemäß vermitteln will.

Allerdings startet der neue DT-Intendant Ulrich Khuon die Saison nicht mit einem Klassiker, sondern mit zwei Uraufführungen.

Warten wir mal ab, – denn faktisch stehen die so genannten Uraufführungen doch oft bruchlos in der Tradition der klassisch gewordenen, lediglich technisch aufgemotzten Theaterideen des 19. Jahrhunderts.

Vielversprechende Arbeitsteilung

Wie wird die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und dem Künstler-Chef Castorf aussehen? Vor einem Jahr haben Sie noch ein gegensätzliches Intendanten-Modell favorisiert: der Theaterleiter als Manager, der nicht selbst künstlerisch tätig ist.

Wir haben hier eine Kombination von einem großartigen Künstler, Frank Castorf, und jemandem, der neben einer programmatisch-inhaltlichen auch eine starke Management-Seite vertritt. Das scheint mir eine vielversprechende Arbeitsteilung.

Und was ist mit dem "Krisengeflüster" um die Volksbühne? Alles nur Feuilletongeraschel?

Es gibt bestimmte Menschen, die eine starke Sehnsucht nach diesem Ort Volksbühne haben, die sich aber in den vergangenen Jahren aus verschiedenen Gründen nicht eingeladen gefühlt haben, hier anzuklopfen. Das ist etwas, was ich gern ändern würde. Außerdem kann man der Volksbühne natürlich vorwerfen, dass sie in ihrer Spielplanpolitik bestimmte Veränderungen in ihrer Umwelt nicht registriert hat. Wenn es stimmt, dass sich im letzten Jahrzehnt 70% der Bewohner des Prenzlauer Berges ausgetauscht haben, haben wir hier im unmittelbaren Umfeld inzwischen ganz andere Menschen mit anderen Biografien. Aber wir beschäftigen uns im Augenblick nicht so sehr mit einem Zielpublikum.

Sondern?

Damit, herauszufinden, was das für unsere Zeit nötige Denken und Tun wäre. In der hoffnungsvollen Unterstellung, dass das eine Relevanz entwickelt, die viele Leute interessiert. Wohlverstanden: Wir sind nicht für deren Interesse verantwortlich, wir wollen die Leute nicht zu ihrem Glück erziehen. Das sollen sie selber machen dürfen! Für den Deutschen Bühnenverein scheint die PISA-Studie dagegen das höchste Glück zu sein. Da hat das Theater endlich seine prima Legitimation, indem es das ersetzen kann, was in diesem Land politisch offenbar als Totalausfall akzeptiert ist, nämlich die Schule. Das halte ich für grundverkehrt. Die Volksbühne ist eine Forschungsanstalt: Bei uns geht es darum, was heute in Sachen des Theaters gedacht werden kann, um den State of the art.

Ort und Ortlosigkeit

Wird dabei die der Sommerspielstätte zugrunde liegende Idee der "Agora", des zentralen Versammlungsortes, auch weiterhin eine Rolle spielen?

Durch das Internet mit seiner Fülle verschiedener Öffentlichkeiten ist die Epoche der Zentralorgane endgültig vorbei, gleichzeitig haben wir aber einen Platz und ein Haus inmitten der Stadt. Diese Architektur ist ein Bekenntnis zur zentralen Agora. Sie ermöglicht ein Forum, wo sich Mitglieder der Gesellschaft begegnen und darüber verständigen können, wie sie das Gemeinwesen organisieren wollen. Das wirft auch die Frage nach dem auf, was Staats- und Stadttheater sein soll. Wie ist Theater für Berlin möglich? Und was bedeutet das erste Wort in dem Namen "Volksbühne"?

Wird es so etwas wie eine dramaturgische Leitlinie geben, ein Thema oder Motto, dem Sie sich speziell widmen?

Ja, wir werden uns zunächst sehr stark mit dem Theaterraum auseinandersetzen. Mit dem, was es heißt, etwas in Besitz zu nehmen, zu besetzen, sich zu situieren, zu be-sitzen. Dazu werden wir eine ganze Spielzeit arbeiten und die verschiedenen Dimensionen von Ort und Ortlosigkeit ausloten.

Ein Thema, das zur derzeitigen Renovierung des großen Hauses passt. Werden wir im November einen ganz neuen Volksbühnen-Raum betreten?

Jedenfalls soll es eine Überraschung geben, das kann ich Ihnen immerhin versprechen.

(zuerst erschienen in BerlinBlock, Heft 09/2009)

 

Mehr zu Stefan Rosinski, Frank Castorf und der Volksbühne im Glossar von nachtkritik.de. Am 12. November 2009 wurde das sanierte Haus mit Ozean nach Friedrich von Gagern wiedereröffnet, im Vorfeld gab sich Castorf der Presse gegenüber ungewohnt selbstkritisch.

 

 

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