Sprachfestspiel im Seelengefängnis

von Ralph Gambihler

Chemnitz, 14. November 2009. Wer Elektra auf die Bühne holt, die ewig Hassende, im Hass Gefangene, muss gute Gründe haben. Durch den Mythos der Atriden weht ein Geist, der uns Abendland-Menschen entrückt, teilweise auch recht deutlich entwischt ist. Sippenhaft und Blutrache zum Beispiel sind keine lauteren Motive mehr, sondern Fälle für die Justiz. Und die Götter der Antike fallen als kultureller Bezugsrahmen und höhere Instanz so gründlich aus, dass sie nicht einmal mehr zur Metapher taugen.

Hugo von Hofmannsthals freudianisch inspirierte "Elektra"-Version von 1903 ist im Wesentlichen der Versuch, die Titelfigur in die Moderne zu retten. Die Hassende wird den Göttern entrissen und vom Kopf auf die Füße eines Individuums gestellt in der Hoffnung, dass der Archetypus lebendig bleibt. Etwas Vorgestriges, Überkommenes ist aber geblieben. Figurenmarmor, den man nicht so leicht aus dem Museum herausbekommt. Was schon dem Autor klar gewesen sein muss, als er seine Interpreten beschwor, auf "antikisierende Banalitäten" zu verzichten.

Hamlets rasende Schwester

Am Schauspiel Chemnitz hat nun Thomas Bischoff einen achtbaren, womöglich aber zu andeutungsvollen und formstarren Versuch unternommen. Er hat den Stoff zunächst dem üblichen Verknappungsprozedere unterzogen und dann neu gesichtet. Das vordergründig Offensichtlichste: Elektra, Chrysothemis, Orest und Klytämnestra wüten ohne Gefolge. Keine Schleppenträgerin und keine Magd stehen im Weg, wo der familiäre Konflikt lodert. Wo Elektra, Hamlets rasende Repertoireschwester im Geiste, noch immer Rache will für den Mord, den ihre Mutter Klytämnestra an ihrem Vater Agamemnon beging. Wo sie tatgehemmt auf die Rückkehr ihres verschollenen Bruders Orest hofft. Man ist unter sich.

Die Bühne von Isabelle Krötsch betont das entrückt Kammerspielartige des Regiekonzepts, das in seinen besten Momenten an Derek-Jarman-Filme erinnert. Der Raum ist ein abstrahiertes Seelengefängnis, offen begehbar zwar, aber komplett schwarz und martialisch zerteilt von Gitterstäben, die in Reih und Glied den Raum beherrschen.

Kalt und trostlos ist es in diesem Ich-Verlies, das, gespiegelt durch den glänzend schwarzen Bühnenboden, gleich doppelt zu sehen ist. Rein optisch können die Figuren nicht entkommen, vor allem und gerade sich selber nicht. Thomas Bischoff will, das wird gleich klar, das Sprachfestspiel. Er lässt den Text glänzen, schwingt sich zu Hofmannsthals verbalem Klassizismus auf, wagt den hohen Ton und das düstere Pathos. So viel antiquarische, bildarme Formstrenge ist selbst in Chemnitz, wo der neue Schauspieldirektor Enrico Lübbe das Regietheater auf Abstand hält, die Ausnahme.

Ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal!

Die Anstrengung nimmt man gerne in Kauf, zumal die Angelegenheit in 80 Minuten zu Ende verhandelt wird. Ganz ohne Gestenkitsch und Zähigkeiten kommen sie aber nicht aus. Wunderbar gleichwohl die Szenen, in denen Bischoff die verhängnisvolle Starre choreographiert, die entsetzliche Nähe in der Feindschaft, das Auseinanderdriften von Körpersprache und gesprochenem Wort.

Die Psychologie des Stücks wird in der Tendenz umgewichtet und, wenn man so will, aktualisiert. Chrysothemis' berühmter Satz "Ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal" ist quasi der Slogan des Abends. Der Lebenshunger und das Schlussstrich-Bedürfnis der Schwester stehen sehr selbstbewusst neben dem tragischen Fanatismus der Titelheldin. Elektra gerät merklich in die Defensive: eine Furie vor ihrer Abdankung. Und sie merkt es auch selbst.

Wenn Bettina Schmidt, die nicht in jedem Moment das Format ihrer halben Aschenputtel-Elektra hat, immer öfter auf die Armbanduhr schaut, irgendwann das Bluthemd abstreift und die Bühne verlässt, ist die Zeit des unbändigen Hasses offenbar abgelaufen.

Nachbetrachtung über den Hass

Im Off hat Elektra sowieso schon verloren. Da ist nicht etwa Richard Strauss zu hören, der den Hofmannsthal-Text für die Oper vertonte. Statt seiner lockt der süße, heitere Schmelz von Mozarts "Hochzeit des Figaro" hinaus ins Leben. Lieber Lust statt Frust. Ulrike Euen hat dergleichen im Sinn, wenn sie ihre Chrysothemis als junge, sehr forsche Dame anlegt.

Ein Abschied vom Mythos also? Eine Nachbetrachtung über den Hass? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Der Abend entscheidet und verrätselt sich, beides. Auch der kühle, wortkarge Orest von Tilo Krügel hat als Racheengel irgendwie ausgedient. Er geistert schon lange vor seinem eigentlichen Auftritt auf der Bühne herum: als Schatten, als Diener, als Narr mit roter Clownsnase. Zum Muttermord ist der nicht mehr fähig. Einerseits.

Andererseits kommt er selber ums Leben. In einer halb ins Alptraumhafte gerückten Szene mit Presswehengeschrei sehen wir ihn unter Klytämnestras Rock hervorkriechen. Sekunden später dreht ihm die Gebärende (mehr stolze Mutterdiva als Megäre: Susanne Stein) gleich wieder den Hals um.

Das ist eigentlich Stoff für eine andere Geschichte - die aber hier nur angerissen wird. Freundlicher Beifall für alle.


Elektra
von Hugo von Hofmannsthal
Regie: Thomas Bischoff, Bühne und Kostüme: Isabelle Krötsch.
Mit: Bettina Schmidt, Ulrike Euen, Susanne Stein und Tilo Krügel.

www.theater-chemnitz.de

 

Mehr zu Thomas Bischoff im nachtkritik-Archiv: Im April 2009 inszenierte Bischoff am Deutschen Theater Göttingen Die Familie Schroffenstein von Heinrich von Kleist. Mai 2008 brachte er Zaimoglu/Senkels Stück Schattenstimmen auf die Bühne des Theaters Kassel. Am Theater Chemnitz inszenierte Bischoff im Oktober 2007 Lessings Emilia Galotti als deutsches Trauerspiel über den heraufziehenden Faschismus.

 

Kritikenrundschau

Regisseur Thomas Bischoff habe Hofmannsthals ohnehin schon vom "mythologischen Ballast" befreite "Elektra"-Variante, so schreibt Reinhard Oldeweme in der Freien Presse (16.11.), "noch weiter ausgeweidet und das psychodramatische Herz dieses Trauerspiels frei gelegt", wobei es "ans Eingemachte" gehe und nurmehr Gefühle erlaubt seien, "die unter die Haut gehen". "Wem diese emotionale Selbstkasteiung zu viel war", dem sei der Beifall schwer gefallen. "Bischoff lässt nichts zu, was von dem ablenkt, das die Menschen antreibt, sich den inneren Konflikten zu ergeben und den psychotischen Ausbruch als Erlösung zu betrachten". Ganz offensichtlich wolle der Regisseur "eine betont plakative, zeitlose Zurschaustellung menschlicher Befindlichkeiten", kein "absurdes, kein introvertiertes Regietheater, das provoziert". Er mache "Elektra" zum Psychogramm, indem vieles "nicht wirklich nachvollziehbar" sei. Von den Schauspielern verlange er alles, "was Körper und Stimme an dramatischem Vokabular zu bieten haben". Und ihnen dabei zuzusehen, "wie sie das Innere der Rollen mit aller Gewalt und ohne Vorbehalte gegenüber der Frage nach dem Sinn nach außen kehren", gebe der Inszenierung nicht wenig Unterhaltungswert.

 

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