Solo eines Selbstmitleids

von André Mumot

Hamburg, 15. November 2009. "Erzählen wir uns von Königen und wie sie traurig starben." Das schlägt Richard II. sich selbst vor. Wem auch sonst? Schließlich ist er, der ehemals so prunkvolle Regent, gerade entmachtet worden, sitzt im Kerker und hat nur noch die eigene Stimme, der er lauschen kann. Das tut er dann allerdings sehr ausgiebig und verzückt. Vor allem, weil ihm so klangvolle Verse einfallen, um seinen Kummer in Worte zu kleiden. "Auf nackte Erde schreibt weinend mit den Tränen das Wort Trauer", haucht er und stellt kurz darauf fest: "Ach, wär ich selbst nur so groß wie mein Gram."

Ja, das Selbstgespräch ist seine starke Seite – schon Shakespeare hatte sich das so gedacht, als er den schwachen König mit rhetorisch ausgefeilten Untergangsahnungen versorgte. An diesem Abend im Thalia Theater aber hat Richard den Schierlingsbecher bereits vor Beginn getrunken und kollert im weißen Wams die leicht angeschrägte, leere Bühne hinunter bis zur Rampe, wo ihm das Blut in dezenten Tropfen aus dem Mundwinkel rinnt. Es ist eine Leiche, die hier von ihrem Sturz berichtet.

Schizophrene Erinnerungsfetzen
Es scheint nur ein einzelner Vers gewesen zu sein, der bei Regisseurin Cornelia Rainer den Ausschlag für ihr Konzentrationskonzept gegeben hat: "So spiel ich viele Personen ganz allein", sagt Richard einmal in seiner Zelle, und dementsprechend wird aus einem üppig mit Personal bestückten Historiendrama das "Solo eines Königs". Sven-Eric Bechtolf gibt anderthalb sportive Stunden lang den längst Entmachteten, der noch immer von den Stimmen seiner Getreuen und seiner Feinde verfolgt wird.

Sie alle versorgt er ausdrucksstark mit einem eigenen Ton: den alten Gaunt, der Richard auf dem Sterbebett verflucht, den Putschisten Bolingbroke, den Stallknecht, der dem ehemaligen König vom Triumph des Nachfolgers berichtet. Als schizophrene Erinnerungsfetzen brechen die Stimmen in die Monologe ein, drehen die Uhr zurück. Für kurze Zeit entreißt Richard der schiefen Ebene, auf der er klagend seine Wunden leckt, einen überdimensionierten Königsmantel. Für flüchtige Momente wächst er so zu alter Größe an, bis das goldbestickte Statussymbol zurück in den Bühnenuntergrund gesaugt wird – unhaltbar für Richard.

Verdunkelnde Einfühlungskunst
Bechtolf, der alte Hase an der Wiener Burg, der im Thalia Theater einst zum Direktorium gehörte und ab 2011 die Sparte Schauspiel bei den Salzburger Festspielen übernehmen wird, vollführt eine beeindruckende One-Man-Show: Er höhnt und belfert, tänzelt entrückt zu barocken Klangkonserven, fängt imaginäre Vögel ein und rudert in imaginären Booten, er lacht in kindlicher Einfalt, macht jede Menge wegwerfende, majestätische Handbewegungen und deklamiert in flammendem Verzweiflungspathos. Das alles ist groß und schwer und auf sehr klassische Weise ausgekostet – und wird mehr und mehr zum Problem.

Wer dieser machtlose Machtmensch eigentlich ist und wie es so weit mit ihm kommen konnte, bleibt in all der bravourösen psychologischen Einfühlungskunst nämlich ziemlich dunkel. Shakespeare hat sein Stück als Konfrontation zweier Ebenen geschrieben: Hier die intrigante Realpolitik, dort die maßlose Willkürherrschaft. Hier der Aufrührer Bolingbroke, der das Volk auf seiner Seite hat und England aus der Krise führen will, und dort Richard, der Staatsbankrotteur und Schuldenmacher, der sensibel lamentiert, aber nicht zu handeln weiß. Fünf dialektische Akte lang ist es Sache der Zuschauer zu entscheiden, ob der gewaltsame Staatsstreich gegen Richard berechtigt ist oder nicht. Fünf Akte lang ist die Welt der Macht und der Politik ganz ungemütlich kompliziert.

Im Rausch des tiefen Grams
Oder wäre es, wenn man es zuließe. Bei Cornelia Rainer aber gibt es nur Richard, und die Stimmen der Realpolitik verkümmern zu belanglosen Erinnerungsresten in seinem Kopf. Nicht nur verfällt die Inszenierung gänzlich der charismatischen Hauptfigur, sondern auch ihrem Selbstmitleid, lässt es überlebensgroß funkeln, ist selbst hingerissen von jedem großen Wort.

Auf der kargen Bühne des Thalia Theaters kann man also anderthalb Stunden lang dabei zusehen, wie eine waidwunde Gestalt sich am eigenen Gram und der Schönheit der Sprache berauscht, ohne dass ihr je eindringlich widersprochen würde. Das Ergebnis klingt sehr schön, aber falsch, denn das, was eigentlich herausfordern könnte an Stück und Figur, soll hier auf keinen Fall zum Haar in der Suppe werden. Oder wie es in Shakespeares Original einmal klar und deutlich heißt: "There were some love, but little policy."

 

Richard II. – Solo eines Königs
von William Shakespeare
In einer Fassung von Cornelia Rainer und Susanne Meister nach der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel
Inszenierung: Cornelia Rainer, Ausstattung: Aurel Lenfert, Musik: Wolfgang Mitterer
Mit: Sven-Eric Bechtolf

www.thalia-theater.de


Zuletzt spielte Sven-Eric Bechtolf in Andrea Breths Inszenierung Der zerbrochne Krug bei der Ruhrtriennale. Cornelia Rainer hingegen inszenierte Anfang 2009 im Vestibül des Wiener Burgtheaters die Uraufführung von Andreas Liebmanns explodiert.

 

Kritikenrundschau

Im Hamburger Thalia Theater hat Shakespeares Stück nichts mit uns zu tun, sondern alles mit ihm, Sven-Eric Bechtolf, der hier diesen gewaltigen Schauspielschinken ganz allein verzehrt, schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (17.11.). "Bechtolfs Solo ist eine Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn, Palast und Pathologie." Kraft seiner Imagination sprenge dieser Richard die Kerkermauern und kehrt noch einmal zurück auf die Bühne der Weltpolitik. Bechtolf spiele sie alle selbst: "die Hofschranzen, die ihm die Hände küssen, die Widersacher, die das Messer wetzen - ein Komödiant im Spiegelkabinett der Wahnbilder." Er habe die nötige Kondition für diesen Parforce-Ritt, bei dem er alle Register ziehe. "Aber er gefällt sich auch darin, den dämonischen Dandy zu geben und sein Publikum zu behexen, wenn er so ganz allein auf leerer Bühne Figuren und Situationen aus der Luft greift, alles nur aus sich selbst heraus gestaltend." Fazit: "Zu oft ist Bechtolfs Virtuosenstück hohes, aber auch etwas hohles Kunstgewerbe. Erschwerend hinzu kommt, dass er sich natürlich nur die schönsten Stellen aus dem Stück auf der verwöhnten Zunge zergehen lässt, ein Menü aus lauter Delikatessen."

"Der König hat hier nur sich. Sein Drama ist er selber. Und wenn er am Ende nicht stirbt, denn es ist ja keiner da, der ihn ermorden könnte, so vergeht er doch: in ein Nichts (...) Mehr ein existentialistischer, weniger ein historischer König. Also doch sehr nahe einem Stück für uns heute", befindet Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.11.) und holt insgesamt dazu aus, dass ein grandioser Bechtolf "mit jenem sonorvirtuosen Aristokratenton, der kein Pardon gegen sich selbst kennt, die Nuancen abschmeckt, die alles Leiden in Genuss verwandeln." Bechtolfs grandioser Solist Richard beantworte die "Wer bin ich?"-Frage dadurch, dass er sie kollektiv angehe. "Er zeigt nicht auf den Richard drinnen, sondern spielt all das in irrer, peinigender Lust und Laune, was außerhalb von Richard liegt. Er sieht sozusagen die Geister, die er nicht rief. Und er tanzt und spielt mit ihnen. Und genießt sich tänzerisch, wenn er mit ihnen spielt." Und abgesehen davon, dass Bechtolf "glänzend spricht, wunderbar gliedert, Wort für Wort, Pointe für Pointe, Schmerzensarie für Schmerzensarie auswortmusiziert, macht er zu jedem Moment vergessen, dass man eigentlich an die dreißig Leute auf der Bühne vermissen müsste. Dieser eine Mann ist hier ein ganzes, großes Theater."

"Wie dieser Bechtolf spricht, ist einfach wunderschön, seine Diktion klar. Vor uns erstehen verständliche Bilder, wenn er sie vor seinem geistigen Auge entwirft", schreibt Stefan Grund in der Welt (17.11.). Bechtolf fessele die Aufmerksamkeit "auch mit seinen Bewegungen, wenn er zum Beispiel für Sekunden in der durch Ölporträts wohlvertrauten Pose der Könige tänzelt, bevor er leichten Schrittes einen Hofstaat durchschreitet, wenn er sich verzweifelt über den Boden wälzt, phasenweise kaum noch willens oder in der Lage, sich zu erheben." Gesten setze Bechtolf sparsam ein, so dass er über anderthalb konzentrierte Stunden lang die Spannung halten und steigern kann.

"Eine Ein-Mann-Show, mit großem psychologischem Einfühlungsvermögen. Und als virtuose Schauspielerleistung", sah auch Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (17.11.). Bechtolf spiele den eingesperrten König, der räsonierend, zweifelnd, eitel, höhnisch, maßlos Momente seines Lebens herbeiruft, mit großem psychologischem Einfühlungsvermögen. "Er lässt die ganze Spielbreite unmenschlicher Größe und menschlicher Mickrigkeit aufblitzen. Er gibt den Stimmen seiner Getreuen ebenso Ausdruck wie denen seiner Widersacher." Er greint, fleht, tänzelt, träumt, wütet, lacht 'och, armer Richard'. "Hier kann man - und das geschieht auf den Bühnen ja nur noch selten - einen großen Schauspieler und sein virtuos eingesetztes Können bewundern. Ausgeruht allerdings sollte man dazu sein."

 

 

Kommentare  
Bechtolfs Richard II: Wer ist hier der König?
Solo eines Königs. Wer ist der König ? Wer ist hier eigentlich gemeint? Richard oder doch vielleicht Bechtolf?
Bechtolfs Richard II: angestrengte Schauspielerei
es war eine wirklich beachtliche schauspielerische leistung, insofern stimmt "sportiv". nun kann man am theater jedoch mehr schätzen als das durchhalten. der monolog des richard und seiner vielen inneren stimmen flossen gerade zu anfang so sehr ineinander, dass es beinahe unmöglich war, dem shakespearetext mit freude zu folgen. mit angestrengem pathos und und viel kraft im schauspielerischen ausdruck stemmte bechtholf den shakespeare und ließ einen niemals vergessen, wen man vor sich hatte: einen schauspieler der angestrengt schauspielerte. die facetten möglichen ausdrucks blieben dabei auf der strecke. und das, was kam, hätte wesentlich deutlicher voneinander unterscheidbar sein müssen. außerdem erstickte man unter der last der immer mit leid geschwängerten stimme, unter richards lebens-"gram". ach, hätte die blutjunge regisseurin cornelia rainer sich doch nicht auf den berühmten thalia-rückkehrer und burg-mimen bechtholf verlassen und ihn ungebremst agieren lassen... wäre sie doch mal beherzt dazwischen gegangen - mit frischen ideen, mit allem was theater außer sprache, grauweißen farbtönen und düsteren geräuschen so zu bieten hat: mit bildern, farben oder musik... der richard auf der suche nach sich, ist natürlich ein ganz heutiger mensch, dem die last des lebens den atem nimmt, der in seiner rastlosigkeit keine erfüllung gefunden hat, diese deutung hätte auch - zumindest stellenweise - mit fantasievoller leichtigkeit gezeigt werden können und dadurch an kraft gewonnen. die reduktion war jammerschade und so mancher zuschauer sah dem monolog-ende mit blick auf die uhr entgegen. andere verschliefen glatt den letzten satz.
Bechtolfs Richard II: großer Stoff, dünn abgekocht
ein quälend langer abend der letztendlich nur von der kraft und spielkunst von bechtolf lebt. auch wenn diese an vielen stellen etwas altbacken wirkt (ich habe oft an den alten quadflieg denken müssen).für einen theaterabend auf der großen bühne aber etwas wenig. ich hätte mir diesen abend eher in der gaußstrasse vorstellen können. ein großer stoff - leider etwas dünn abgekocht. inzwischen schon fast alltag im thalia - schade!
Bechtolfs Richard II: Kultur bei sich selbst
Mein Gott, war das schön, hinreißend, deswegen besuche ich das Theater, solche Ausnahmeleistugen möchte ich sehen, Schauspieler, die ganz Ausdruck sein wollen, die die Sprache in ihrem Wohlklang ausgießen, um uns zu umschmeicheln, das Herz aufzurühren und uns bewundern lassen, qualhell, gebücktstrahlend, munterdunkel. Einsatz und Opfer müssen sich wieder lohnen und hier lohnen sie sich, hier kommt die Kultur wieder zu sich selbst.
Bechtolfs Richard: Egozentrum der ultimativen Rampensau
Bechtholfs mit jahrelang angestauter Burg-Arroganz gebotener "Richard" ist vor allem anderen zweierlei: zum einen das Egozentrum der ultimativen Rampensau, in dem sich nichts mehr tut, so wie im Auge des Sturms; zum zweiten einer der hoffentlich letzten feuchten Träume des Herrn Stadelmaier, der jede integre Theaterkritik der persönlichen Vorliebe opfert. Hätte ich zwischen Richard, Bechtholf und Stadelmaier zu wählen, ich würde nicht erst nach diesem Abend Richard wählen, weil von allen Dreien der mit Abstand fitteste Geist ist!
Bechtolfs Richard: sehr persönliche Hommage
@Milewski
Oh ,wie recht Sie haben! Soll Herr Bechtholf sich selbst feiern und den armen Richard als seine (sehr) persönliche Hommage für das alt-Herren-Theater missbrauchen - etwas unangenehm aufstoßen läßt einen zwar das er sich eine blutjunge Alibi-Regisseurin mit ins Programm drucken läßt - aber soll er - das Mädel ist ja dennoch alt genug - Wirklich entsetzlich ist ;und zwar immer und immer wieder, eben dieser Stadelmeier... Ich weiß es ist vollkommen sinnlos sich über das Stadelmeier'sche Geschreibe zu ärgern - Aber warum darf der alte Mann mit dem schlechten Geschmack das? Warum verhindert das niemand ? Dieser gräßliche schwülstige dumm-romantische Blödsinn, läßt sich eigentlich nur ertragen wenn man ihn als Gag genießt, so wie Franz-Josef Wagner von der Bild Zeitung - und die ist ja im Grunde auch verboten!
Bechtolfs Richard II: unser Wagner
aber das tun wir, lisa! stadelmeier ist unser franz-josef wagner.
Bechtolfs Richard II: das gedruckte Wort ist mächtig
WENN das so ist, wenn Sie mir das garantieren könnten, wenn das ganz sicher so wäre, wenn das wirklich alle die das Theater lieben so sähen, wenn ich mir sicher sein könnte das alle die die FAZ aufschlagen, bei Lektüre SEINER Kritik laut schallend lachend über ihrem Frühstück zusammenbrechen würden - Dann wäre alles gut, dann könnte ich ruhig schlafen - Aber ich traue den Menschen nicht, besonders nicht denen die vorgeben das Theater zu lieben - und das gedruckte Wort ist so mächtig und schleicht sich dann doch in den ein oder anderen Schädel und macht die Menschen glauben Was Stadelmeier (v)erbricht -
Bechtolfs Richard II: Frage nach dem Bild-Mann
wer ist Franz-Josef Wagner ?
Bechtolfs Richard II: Geschwurbel und Intellektualität
@ michael: das fragen Sie nur um lisa m. zu irritieren. das wissen Sie ganz genau!

@ lisa: ich kann es Ihnen garantieren. michael ist lediglich ein scherzvogel. sollte jemand nicht in schallendes gelächter ausbrechen, über das geschwurbel (wie er es sogar selbst nennt) von herrn stadelmeier, wäre das der beweis fehlender intellektualität. selbst humorlose können sich ausschütten vor lachen, sie müssen eben nur denken können.
Bechtolfs Richard II.: man muss hohe Kunst anerkennen können
Eine Entscheidung! Ja, aber eine gute, für einen Kritiker, der vielleicht nicht den intellektuellen Anforderungen der hier schreibenden entspricht, aber der schreibt sie so leidenschaftlich und begabt wie er eben kann, und das zählt in der Kunst unendlich mehr als Besserwissen. Ich lass mir diesen wunderschönen Abend, und auch nicht die herausragende Kritik eines leidenschaftlichen Theatergängers und Kritikers, zertrampeln. Man muss hohe Kunst eben auch anerkennen können!
Bechtolfs Richard II.: die Unbegabten und Beleidigten
Werte Anastasia, sie treffen den Nagel auf den Kopf! Hier versammeln sich die Unbegabten und Beleidigten, die Intellektualismus mit Kunst verwechseln. Wenn die trübsinnige Diskursgemeinde dieses "Forums" das Sagen in den Theatern hätte, wären diese längst ausgestorben. Ein Hoch auf die Künstler! ein Hoch auf die Kunst! Nunc est bibendum!
Bechtolfs Richard II: Freut euch über Stadelmaier
Da wurde doch letztens hier Gerhard Stadelmaier so für seinen Geschmack abgewatscht. Heute sagt er in der FAZ aber mal Fälliges: wie unsäglich dämlich diese Sendung Foyer bei 3sat ist, wie dumm und arrogant und kulturfeindlich. Freuen wir uns, dass wir den haben.
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