Zum Heulen schön

von Elena Philipp

Berlin, 17. November 2009. Im Halbdämmer lehnen sich Körper aneinander, umschlingen sich, stützen einander. Halt, nein, sie verbiegen einander; überdehnen Beine Richtung Oberkörper, drücken fremde Rücken nach hinten durch, ziehen Köpfe in den Nacken. Keuchen, Stöhnen. Lust oder Schmerz?

Vermutlich beides.

Wie hier in der Eingangsszene, entwickeln Meg Stuart und ihre sechs Performer viele Szeneneinfälle für "Do Animals Cry" aus Doppeldeutigkeiten oder Gegensätzen. Gleichgültigkeit und Fürsorge heißen die Gegensätze in einer anderen Szene, in der Frank Willens auf den Frühstückstisch zukriecht, die Beine offenbar gelähmt, der Stuhl ein unerreichbares Ziel. Lange Sekunden sehen die vier Menschen am Tisch weg oder ungerührt hin, wie Willens kriecht und keucht und kämpft. Dann steht Joris Camelin auf, hebt Willens sanft an der Hüfte an, stützt ihn mit seinem Körper und schiebt ihn auf den Stuhl. Gänsehaut.

Warum? Vielleicht, weil es Meg Stuart gelingt, in derart kurzen Handlungssequenzen zu zeigen, wie schnell Gegensätze ineinander übergehen können, wie brutal und zärtlich zugleich menschliche Beziehungen sein können und wie sie zwischen Nähe und Fremdsein oszillieren, ohne je zu einer festen, verlässlichen Form zu gerinnen.

Die Kuriosität Mensch
Die Ankündigungen zur Deutschlandpremiere von "Do Animals Cry" greifen zu kurz. Es ist nicht nur ein Stück über "die Schicksalsgemeinschaft Familie", sondern ein choreographisches Kuriositätenkabinett mit einem einzigen Sammlungsobjekt, dem Homo Sapiens.

In einer zweistündigen Szenenfolge beobachten wir sechs Exemplare dieser Gattung in allen denkbaren mitmenschlichen Konstellationen. Eine Handlung gibt es nicht in "Do Animals Cry", die Szenen sind vielmehr motivisch strukturiert und durch Hahn Rowes Elektro-Soundtrack klanglich untermalt. Was geschieht am Frühstückstisch? Wie spielt man mit einem toten Hund? (Wahnwitzige Lösung: Man trägt ihn dem Stöckchen hinterher.) Was macht ein braves Mädchen, wenn es wild wird? (Kotomi Nishiwaki knallt den Eltern ihr Bein auf den Tisch und zerreißt ihren Strumpf, dreht dann stöhnend ihre Hüften und wirft den Strumpf wie ein benutztes Kondom in die leere Hundehütte.) Die großen Fragen werden gestellt, naiv und philosophisch: Warum müssen wir sterben? Ich weiß es nicht, tönt der Lautsprecher. Warum müssen wir schlafen? Das erkläre ich dir morgen. Do Animals Cry, können Tiere weinen? Keine Antwort.

Die Reihung von Szeneneinfällen ist mitunter anstrengend, sie ist aber auch immer wieder großartig, etwa wenn der sportlich-verspielte Frank Willens und der biegsam-lässige Adam Linder mit Blumentöpfen auf dem Kopf Ballettposen probieren und – "Whoa! Try this one" – einander die abgefahrensten Körperhaltungen vorführen. Meg Stuart und ihre Performer beherrschen das choreographische DJing: Eine Szene, ein Bewegungstrack wird unauffällig in den nächsten gemischt.

Unscharfe Relationen
Die sozialen Rollen und Beziehungen sowie die mit ihnen verbundenen Empfindungen sind nicht klar abgegrenzt, sondern scheinen verflüssigt, amorph. Ob nun Anja Müller und Frank Willens Inzestgeschwister, ein Paar oder Mutter und Sohn sind, die um Liebe ringen und einander ebenso anziehen wie abstoßen, das ist nicht erkennbar, es ist aber auch nicht wichtig: "Do Animals Cry" zeigt vielmehr, wie ähnlich sich etwa Eifersucht in diesen unterschiedlichen (Wahl)Verwandtschaftsbeziehungen äußert. Willens wirft sich vehement zwischen Müller und Camelin, ihr neues Objekt der Begierde, wird weggestoßen, nimmt einen neuen Anlauf. Enttäuschter Ex-Freund, eifersüchtiger Sohn oder Rivale?

Die menschlichen Ausdrucksmittel sind begrenzter als die ihnen zugeordneten Empfindungen, und weil Meg Stuart keine eindeutigen Rollen oder Figuren festlegt, assoziiert man in jeder Szene unzählige andere Figurenkonstellationen.

Sogar Motive wie sozialen Einschluss versus Ausschluss kann Stuart derart andeuten. Alexander Jenkins etwa stößt spät zur Gruppe. Er steht plötzlich oben auf dem astenen Zaungeflecht, das Doris Dziersk hinter dem Frühstückstisch und der verlassenen Hundehütte auf der Bühne platziert hat – Schutzwall, Fluchttunnel, der Bau eines großen Tieres, die Ur-Höhle. In helles Licht getaucht, hebt er die Hand zum Gruß und gleitet, die Leiter hinunterkletternd, für einen langen Moment in die Pose des gekreuzigten Christus. Anja Müller sinkt auf die Knie, die anderen recken ihm ihre Arme entgegen. Das Bild verändert sich weiter, und der verlorene Sohn oder lange abwesende Freund wird stürmisch begrüßt.

Wenn wir einander Handflächen zeigen
Der Bewegungsbildwitz wird vom Publikum fröhlich aufgenommen. Es bleibt aber nicht bei einem Einfall, sondern das Motiv 'dabei oder draußen' taucht später wieder auf. Jenkins wird, als er mit einem Bund Luftballons auftritt, begeistert der Reunion entgegenhechelnd, von den anderen fünf gnaden- und umstandslos wieder ins Off gedrängt.

Das Tier im Menschen – hier ist es ein Raubtier. "Do Animals Cry" zeigt aber auch das selbstvergessene, glückliche Tier-Sein, das der Mensch geerbt hat. Frank Willens und Adam Linder umrunden die Bühne wie tobende junge Hunde. Nebeneinander herlaufend, blicken sie sich gelegentlich an, drehen ihre Handflächen einander zu, im Einklang. Dann biegt Linder in den Zweiggang ab und taucht nicht wieder aus dem Tunnel auf. Hahn Rowes Sound kippt ins Hysterische: Eben noch war Willens Teil eines Rudels, nun ist er allein. Zum Heulen schön. Womit die Titelfrage beantwortet wäre: Ja, manche Tiere können weinen.

 

Do Animals Cry
von Damaged Goods (Brussels)
Koproduktion Théâtre Garonne (Toulouse), Théâtre de la Ville (Paris), Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Berlin), PACT Zollverein (Essen), Kaaitheater (Brussels).
Choreographie: Meg Stuart, Dramaturgie: Bart Van den Eynde, Musik: Hahn Rowe, Bühnenbild: Doris Dziersk, Bühnenbildmitarbeit: Rita Hausmann, Kostüme: Nina Gundlach.
Von und mit: Joris Camelin, Alexander Jenkins, Adam Linder, Anja Müller, Kotomi Nishiwaki, Frank Willens.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Meg Stuart wirkte im März 2008 an Frank Castorfs Die Maßnahme/ Mauser als Choreographin mit. Die Tanztheaterstücke von Meg Stuart hat nachtkritik.de bisher noch nicht besprochen.

Kritikenrundschau

Meg Stuart variiere den Zerfall der Familie, schreibt Sandra Luzina im Berliner Tagesspiegel (19.11.), "in einer Folge von Szenen, in denen grotesk zugespitzte Komik mit leiser Traurigkeit verbunden wird, aber auch mit lähmendem Stillstand". Sie entwerfe "Bilder einer Nähe, die jedes Mal fast in der Körperverletzung mündet", habe aber auch "prägnanten Witz". Immer wieder "verrutschen die Haltungen" und "verkehren sich die Positionen". Da entgleise die Mutter ins Infantile, falle die Tochter ins Pornographische oder werde Fürsorglichkeit zu Ignoranz. Indes: "Stuart will einen Prozess von Auflösung und Desillusionierung zeigen, doch die Szenen berühren nur selten."

Die Seesäcke aus Castorfs "Ozean"-Inszenierung wären, stellt Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung (19.11.) fest, auch für die Produktion von Meg Stuart die geeigneten Beobachtungsposten. "Es ist ein Fläz-Stück über eine Oblomowsche erstickende Trägheit, Ruhe und Schläfrigkeit, in dem man folgerichtig in seinen Säcken hängt und merkt, wie anstrengend es ist, es sich darin gemütlich zu machen. "Alles sei "Lethargie", alles flösse vorbei, und überhaupt sei das Leben "eine einzige große Familienaufstellung", die hier in eine "surreale Ewigkeit gekippt" werde. Seit fünf Jahren arbeite Meg Stuart schon an der Volksbühne, ohne dass man den Eindruck gewonnen hätte, sie sei hier "richtig angekommen". Doch dies gehöre wohl einfach zu ihrer Kunst: "Dieses Unwirkliche und Langgezogene und dieses nie wirklich haften Bleibende und dabei doch durchaus Essenzielle."
Nur ganz am Ende von "Do Animals Cry?" gebe es einen anders temperierten Moment: "Wie zu einem Familienfoto kommen die Akteure zusammen. Ganz harmlos und gleichzeitig auf eine unheimliche, drohende Weise, die sagt: So wie jetzt, wird es immer sein. Eine irgendwie auch ironische Drohung, gerade hier an der Volksbühne, wo die Dinge schon so ewig wie stillgestellt zu sein scheinen."

 

 

 

Kommentare  
Meg Stuarts Do Animays Cry: andere Sichtweise
Stimme eher mit der tanz-erfahreneren Sicht des Kritikers auf tanznetz.de überein.
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