Es soll ja noch schlechter kommen

Von Dirk Pilz

Hamburg, 22. November 2009. Das war deutlich. Jana Schulz kommt vom Bühnenpodest herunter, rammt ihren Blick ins Publikum und sucht die Reihen ab: "Ich möchte hier jemand Zuständigen sprechen." Beklemmende Stille, ratloses Schweigen. "Ist hier denn niemand zuständig für mich?" Wut ist in ihren Augen. Verzweiflung. Angst, auch Tränen. "Ich lasse den Kopf nicht ...", sagt sie, bevor sie in eine ungeahnte Tiefe springt – und aus ist dieses knapp zweistündige Spiel vom "gigantischen Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft", als das Ödön von Horváth sein 1936 uraufgeführtes Stück "Glaube Liebe Hoffnung" verstanden wissen wollte.

Am Anfang steht Jana Schulz auf einem schmalen, ins Parkett ragenden Steg. Barfuß, in einem hellroten Schleifchenkleid. Sie friert, atmet schwer und mustert die Zuschauer. Tränen sind in ihren Augen. Tränen, Wut, Verzweiflung und Angst. Dann springt sie – und wird von hinten durch ein kleines Fenster wieder auf die Bühne gehievt.

Bitterkeit und Zorn

Karin Henkel hat am Hamburger Schauspielhaus "Glaube Liebe Hoffnung" inszeniert. Sie hat die "Volksstück"- und "Totentanz"-Fassung zusammengeworfen und alles auf Elisabeth zugeschnitten. Die Bühne ist ein hoher Kasten, die Wände sind mit lauter schwarz-weißen Passfotos von Jana Schulz beklebt, nur eines ist in Farbe. In einer flachen Grube sitzen zwei Musiker. Nach dem ersten Selbstmordversuch von Elisabeth singen sie "People, they ain't no good" von Nick Cave, was sie am Ende wiederholen werden, weil am Ende der gesamte Anfang wiederholt und variiert wird. Alles wiederholt und variiert sich hier.

Wenn Elisabeths letzte Hoffnung auf einen Ausweg aus ihrem Kreislauf aus Armut und Lüge, ihr Geliebter Alfons Klostermeyer, entdeckt, dass sie zu 14 Tag' Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt war, was sie ihm nicht verraten hat, aus Sorge, er könne sie aus Angst um seine Polizeikarriere deshalb verlassen, wird die Szene fünf Mal gegeben. Jedes Mal von einem anderen Gegenspieler, jedes Mal in einer anderen Tonlage der Herablassung und Verachtung, und jedes Mal quittiert Marco Albrecht als Oberinspektor genüsslich das Verstoßen der Elisabeth.

"Betrug? Stimmt’s?" Der Oberinspektor verschränkt die Arme hinter dem Kopf. "Ich weiß, es ist aus", sagt Elisabeth. Sie sagt es in einer scharfen Mischung aus Bitterkeit und Zorn, mit der Jana Schulz ihre Figuren bevorzugt kleidet und die Karin Henkel an ihr offenbar besonders schätzt – ihr Major Tellheim in Henkels Minna von Barnhelm vor zwei Jahren am Schauspielhaus war auch schon daraus gemacht.

Masken, Not und Revolution

Hier dient die Schulz-Figuren-Daseinsweise vor allem jenem Graben, den Elisabeth und die andern trennt. Die anderen tragen immer wieder mondrunde, blutbeschmierte Masken, wechseln von einer Rolle in die nächste, probieren verschiedene Fiesheiten und Schlechtigkeiten aus – Elisabeth bleibt stets die wütende Erniedrigte, gedemütigt, ausgenutzt, missverstanden und beleidigt in jeder Szene.

Diese Elisabeth hat nie eine Chance, weil die "Umstände", wie sie sagt, ihr keine lassen. Die Umstände, das sind die anderen, sind der Mob, das Gehässige und Karrierförmige. Nur Elisabeth ist die eine ohne falsches Maskenspiel. Sie ist die heilige Elisabeth auf den Schlachthöfen des Überlebenskampfes.

Und Jana Schulz ist eine große Heilige. Sie tanzt, schreit, strampelt und weiß mit jeder Faser um die Vergeblichkeit aller Kämpfe gegen eine Gesellschaft, die sie dennoch nicht zu akzeptieren bereit ist. Sie rebelliert ohne einen Ausweg zu wissen, sie begehrt aus nackter Existenznot auf und kann doch nicht vergessen, dass sich "alles" ändern muss, ehe sich ihre Lebensumstände ändern. Sie lässt den Kopf nicht aus Mangel an Mut und Widerstandskraft hängen, sie springt als unerhörte, unfertige Revolutionärin in den Tod.

Karin Henkel braucht keinen aktualisierenden Kontext, um diese Elisabeth als Zeitgenössin zu zeigen. Dass sie bei ihr "Sozialamt" statt wie bei Horvàth "Wohlfahrtsamt" sagen, ist im Grunde überflüssig, fast schon aufdringlich. Diese Inszenierung ist ohnehin nicht misszuverstehen: Sie ist überdeutlich parteiisch – der Graben zwischen den anderen und der Einen könnte tiefer nicht sein.

Schaut auf diese Frau!

Ja, dieser Abend ist nicht frei von plakativen Bildern, und ja, er verfährt mitunter auch holzschnitthaft. Aber diesem Theater ist abzuspüren, dass es nicht einen beliebigen Stoff bewältigen und eine austauschbare Produktion abwickeln will. Es ist von einer inneren Antriebskraft aufgepeitscht, das sich mit dem Status Quo nicht abzufinden bereit ist: Es rebelliert gegen die zunehmende Verdummung aus Utopielosigkeit. Und doch ist es weder Agitprop noch Klassenkampftheater.

Denn Karin Henkel inszeniert keinen billigen Sozialrealismus, verbietet sich den Kitsch und gerät nie in das Fahrwasser des Voyeurismus. Einiges mag hier dramaturgisch nicht aufgehen, nicht alles erscheint schlüssig, nicht immer sind die Schauspieler auf der Höhe des gebotenen Präzisionsanspruchs.

Dennoch, diesem Aufrütteltheater wird man einst, wenn der Sozialkahlschlag noch tiefere und noch unverkennbarere Schneisen geschlagen haben wird, nicht vorwerfen können, sich blind und dumm gestellt zu haben.

"Es soll ja noch schlechter kommen" sagt Elisabeth am Anfang und am Ende.


Glaube Liebe Hoffnung
von Ödön von Horváth
Regie: Karin Henkel, Bühne: Stefan Mayer, Kostüme und Masken: Klaus Bruns, Musik: Cornelius Borgolte, Katharina Debus; Dramaturgie: Stephanie Lubbe, Michael Propfe. Mit: Jana Schulz, Marco Albrecht, Peter Bernhardt, Tim Grobe, Hedi Kriegeskotte, Tristan Seith, Sören Wunderlich.

www.schauspielhaus.de

 

Mehr zur Arbeit von Karin Henkel: Rezensionen zu Drei Schwestern in Frankfurt im Oktober 2009; Iphigenie von Euripides im Mai 2009 in Köln; der Pleite mit den Hasen in Gefährliche Liebschaften im Februar 2009 im Deutschen Theater zu Berlin. Mehr zu Karin Henkel in unserem Archiv.

 

Kritikenrundschau

Till Briegleb (Süddeutsche Zeitung, 25.11.) weiß, wie viele Passfotos im Bühnenbild von Stefan Mayer kleben: 1140. Und er weiß, dass Karin Henkels Inszenierung sich bei anderen Arbeiten bedient. Gleich der erste Regieeinfall, den Schluss an den Anfang zu stellen, sei von Martin Kusej aus dessen Wiener Inszenierung 2002 geklaut. Das nächste Bild stamme aus Angela Richters "Verschwör dich gegen dich" von 2006, nämlich "die Rückenansicht eines Punks mit "Fuck the Police"-Lederjacke", und die "kürbisgroßen Bollerköppe" zitieren Andreas Kriegenburgs "Drei Schwestern" von den Münchner Kammerspielen aus dem Jahr 2007. "Nun ist Zitieren bis hin zum Plagiat", kommentiert Briegleb, "längst keine Sünde, wenn man dabei neue Zusammenhänge herstellt." Doch für das, was Karin Henkel biete, sei das Wort "Kompostierung" treffender. "Denn so kunstarm, wie sie die Kunst verwendet, zerfällt sie in ihre Einzelteile." Und das sei nicht zuletzt, "wie so häufig am Schauspielhaus", den "dürftigen Fertigkeiten der Darsteller" geschuldet, die von Henkels Konzept "noch überforderter als sonst wirken". Sie "stellen nur Bemühungen dar". Auch Jana Schulz habe sich "mittlerweile der Mumifizierung ihres Talents ergeben". Wäre dabei zu erkennen, "was Karin Henkel mit Horváth für die Gegenwart beschreiben will, hätte die hölzerne Darstellung vielleicht sogar Programm werden können". Ist es für Briegleb aber nicht, "und beliebige Kunstzitate aus acht Jahrzehnten ergeben nicht automatisch eine These von der ewigen Wiederkehr totgeglaubter Strukturen in der Gruft bürokratischer Tyrannei". So hinterlasse "diese Plünderung des kulturellen Erbes nur eine leere Grabstätte mit dem Wandschmuck von 1140 Jana Schulzes, die zu zählen man genügend Zeit hat".

Auf der Webseite von Deutschlandradio Kultur hat Elske Brault ihren nächtlichen Beitrag für Fazit (22.11.) verschriftlicht: Ganz offensichtlich seien die Bezüge zwischen Horvaths Elisabeth, die wegen eines "fehlenden Gewerbescheins erst ins Gefängnis kommt und dann sozial abrutscht", und jenen heutigen Angestellten, die wegen minimaler Verfehlungen entlassen würden. Karin Henkel Horvaths verwandele das "Volksstück" in ein "alptraumhaftes Maskenspiel". Sie zeige Elisabeths Weg in den Selbstmord als unentrinnbaren Kreislauf, beginnend mit der Todesszene zu der sie nach knapp zwei Stunden wieder zurückkehre. Bloß könne das Volksstück nicht die "derbe Komik entfalten, die der Autor mitgedacht" habe. Die Modernität von Horvaths Sprache werde deutlich, aber seine Leichtigkeit gehe verloren. "Ein Lehrstück ohne Lacher." Jana Schulz mache aus der Elisabeth, die Brault bei Horvath als "Blatt im Wind" begreift, "eine starke, wütende, aufbegehrende Frau". Selbst ihre Verzweiflung habe noch "heroische Größe". Masken sorgten für die bei Horvath vorgeschriebene Typisierung. "Die realistisch zu bringenden Stellen sind die, wo ganz plötzlich ein Mensch sichtbar wird", schreibe Horvath. An diesen Stellen setzten die Darsteller die Maske ab. Wie bereits in "Minna von Barnhelm" lässt Henkel Szenen wiederholen, doch was bei "Minna" als "Furor entfesselter Schauspielerenergien" mitgerissen, wirke hier "ermüdend". Henkel bediene sich "vieler Theatermittel - und jedes zweite scheine "Regiefirlefanz".

Brennend aktuell sei das Stück, befindet Werner Theurich auf Spiegel Online (23.11.), doch verlasse sich die Inszenierung "sehr" auf eine grandiose Hauptdarstellerin. "Blass" stehe Jana Schulz schon vor Beginn auf der Bühne und begrüße die hereinkommenden Zuschauer. "Die Hauptperson wird beiläufig bemerkt, man sieht hin und wieder weg, jeder ist mehr mit sich selbst beschäftigt, niemand kann Anteil nehmen. Fast wie im richtigen Leben! möchte man rufen …". Trotz der "brennenden" Aktualität des Stoffes greife Henkels Darstellung "ins Allgemeine". Das führe zu "griffigen, aber auch platten Bildern, die alle Zwischentöne ausmerzen". Die Figuren mit den "riesengroßen Puppenköpfen" seien "bloße Rollenmodelle ihrer sozialen Schicht". Elisabeths Leben werde exemplarisch entworfen: als "Rückblende", um schließlich wieder in demselben Freitod zu münden: "Das ewige Leiden der "kleinen Leute" als Gefangenschaft in der Zeitschleife der sozialen Zwänge." Zudem garniere Henkel "überreich mit dem Rukola des zeitgenössischen Regie-Menüs": Chöre "würzen penetrant" das Geschehen und bedrohen qua Masse und Dezibel den ohnehin in die Enge getriebenen, ausgegrenzten Menschen. Wiederholungen von Textsequenzen unterstreichen diesen Gedanken: Das werde, schreibt Theurich, nun wirklich jeder kapieren. Das "alles könnte rasch ermüden", gäbe es nicht Jana Schulz. "Sie kämpft, leidet, fällt, steht wieder auf und geht doch zugrunde, mit einem verbissenen, immer wieder verletzten Stolz, der mitten ins Herz trifft." Das sei "fast schon kein Spiel mehr", auch wenn Jana Schulz wohlweislich den Theaterrahmen nicht durch Überagieren zu sprengen versuche: Wenn die Bühnenkamera auf ihr ruht, spiele sie mit "leiser, paranoider Zurückhaltung. Danach füllt sie mit ihrer Ausdrucksfähigkeit wieder die große Bühne. Es raubt einem den Atem." Nach "Baumeister Solness" und "Dantons Tod" sei dies eine weitere Inszenierung am Schauspielhaus, "die beim Publikum Bestand haben dürfte".

In der Tageszeitung Die Welt (24.11.) schreibt Ulrich Weinzierl : Die Handlung werde im Rückblick nicht erzählt, "vielmehr mit beträchtlichem Dekonstruktionsehrgeiz zerhackt und neu zusammengesetzt". Gemäß Horváths "Gebrauchsanweisung" im Programmheft gelte "realistisch zu spielen" als "strengstens verboten". Den Selbstkommentar des Autors habe Henkel "zweifellos als Freibrief für ihre Eingriffe interpretiert". Das sei, schreibt Weinzierl, leider eine "grobe Fehldeutung", denn Horváth habe unter Stilisierung "Sprachbezogenes, gemütlicher Dialektfärbung Entgegengesetztes" verstanden. Horvath habe die Parodie gehasst, sich nicht als Satiriker gesehen. Gerade so jedoch, satirisch, versuche Henkel "die Verhältnisse, die so sind, wie sie nicht sein sollen, zur Kenntlichkeit zu entstellen". Außerdem seien beide Fassungen von Horváths Werk "heftig durcheinander gequirlt" worden, was "nicht unbedingt zum besseren Verständnis des Geschehens" beitrage. Dabei sei der ganze "Firlefanz" völlig unnötig, weil Henkel mit Jana Schulz "eine wunderbare Elisabeth" zur Verfügung hat, "zart und zäh und intensiv zugleich. Man wird sie nicht so leicht vergessen". Auch der Rest des Ensembles dürfe zumindest für Momente zeigen, dass er "mehr zustande bringen könnte als mühsamen Maskendrill".

Im Hamburger Abendblatt (24.11.) schreibt Armgard Seegers von der Aktualität Horvaths, doch Henkel inszeniere kein "rühriges Volksstück oder realistisches Sozialdrama", sondern ein "Solo für Jana Schulz". Henkel habe eine "strenge, zuweilen auch plakative Form" gefunden, die von der "spröden und kraftvollen Ausdrucksform von Jana Schulz stark befördert" werde. Doch "außer einer stimmigen Regie und der wütenden Kämpferin Jana Schulz kann der Abend nicht wirklich fesseln". Es liege "wieder einmal" an der "durchweg schwachen Leistung des restlichen Ensembles. Mehr als Stadttheater war von ihnen nicht zu bekommen."

 

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