Es ist schon wieder jemand tot

von Esther Boldt

Frankfurt am Main, 24. November 2009. Es ist der Stoff, aus dem die Legenden sind. Wolf Haas' "Komm süßer Tod" gewann 1999 den Deutschen Krimi-Preis, die Verfilmung von Wolfgang Murnberger mit dem knorzigen Josef Hader als Detektiv wider Willen im Wiener Dschungel ist Kult. Im Juni 2008 hat dann Klaus Gehre den Roman als Werkstattinszenierung am Schauspiel Leipzig auf die Bühne gebracht, jetzt hat der neue Frankfurter Intendant Oliver Reese diese Uraufführung in sein Haus geholt. Und in der Hauptrolle: der Brenner.

Ein Sympathieträger ist dieser Brenner nicht gerade. Nicht auf den ersten Blick. Eher ein undurchsichtiger Kauz mit 19 Jahren Polizei- und Detektivtätigkeit auf dem Buckel. Jetzt hat er die Kriminal- und Nachforschungsangelegenheiten gegen das solide Sterben eingetauscht, oder sollte man sagen: gegen das nackte Leben? Denn darum geht es in seinem neuen Job als Rettungswagenfahrer.

Herrlich roh
Kaum ist er bei der Rettung angekommen, da gibt es schon die ersten Leichen. Sie sind keines natürlichen Todes gestorben, versteht sich. Und der Brenner, dem anscheinend grundsätzlich alles und jeder den Buckel runterrutschen kann, bis er dann plötzlich doch ein Interesse entwickelt für gewisse Vorkommnisse und Mitmenschen, dieser verstockte, verlotterte und verpeilte Kerl, der nicht geradeaus denken kann, sondern gedanklich immer noch einmal um die Ecke biegen muss, einen Umweg einlegen, dieser Brenner jedenfalls muss doch noch mal ran. Einen Doppel- und Dreifachmord lösen, und einen soliden Skandal im Pflegedienstwesen. Das zugehörige Kriminalgebäude ist ziemlich komplex.

Für seine Video-Live-Performance "Komm süßer Tod" hat Klaus Gehre darum dem Programmheft eine Skizze mit Personennamen und ihren Verhältnissen beigefügt. Schön handgeskribbelt, wie der ganze Abend herrlich roh und handgemacht daherkommt, eine handgeschusterte Performance mit Live-Bildproduktion.

Auf einem langen Arbeitstisch befindet sich der ausgekippte Werkzeugkoffer des Geschichtenerzählers: Eine Modellbau-Häuserzeile mit Bäumchen und Fachwerk, diverse Puppen, Aschenbecher, Bierflaschen, Kronkorken, Kaffeebecher. Einige Matchbox-Autos für Verfolgungsjagden und andere Fahrten. Hier entwirft Gehre eine wunderbar krude, eigensinnige und kurzweilige Geschichte um zwei konkurrierende Wiener Rettungsdienste, denen im Wettkampf um die sterbenskranke Kundschaft die freie Marktwirtschaft außer Kontrolle gerät. Da wird aus der Witwenbetreuung eben Testamentsfälschung, aus der Testamentsfälschung Testamentsbeschleunigung. Aber nicht mit dem Brenner, der sich unelegant und widerspenstig in die Mordsgeschichten einmischt.

Und wunderbar spröde
In der Box, der kleinsten Spielstätten des Schauspiels Frankfurt, sitzt man den Akteuren nah auf der Pelle. Die Black-Box-Schachtel, aufgestellt zwischen Garderoben und Toiletten des Theaters, trägt ihren Namen übrigens zu recht. Hier soll, wie in so vielen anderen Stadttheatern heutzutage, das künstlerische Experiment seinen Platz finden. Oder vielmehr: sein Plätzchen. Binnen zehn Minuten ist die Luft schlecht in der Kiste, aber die Theaterirrsinnsfabrikation, aus nächster Nähe betrachtet, wiegt das auf.

Mit Kamerafahrten, Verfolgungsjagden, Küsserkönig, Bombenattentat wird der Krimi hier neu erzählt. Torben Kessler spielt dabei den Erzähler und weitere 13 Rollen: Die lackierten Nägel der linken Hand machen ihn zur verführerischen Angelika Lanz, ein 80er-Jahre-Kassengestell und einfältiges Sabbergrinsen zum stoffeligen Sanitäter Hansi Munz, eine Augenverdrehung zum humorigen Unfallopfer Lungauer.

Und der Schauspieler bedient als Erzähler die Spezialeffekte, die Gehre abfilmt und die auf zwei Fernsehmonitoren und einer Leinwand laufen. Dabei erklären Zuckerwürfeltürmchen das Prinzip freie Wirtschaft, aus einem Rückspiegel, in dem ein Modellauto ruckelt, wird eine Verfolgungsjagd, und aus zwei Wunderkerzen das funkensprühende Kaleidoskop einer Explosion.

Dieser Erfindungsreichtum mit reduzierten Mitteln übersetzt die Kargheit, das Spröde und zugleich in alle Richtungen Ausufernde des Haas'schen Stoffes kongenial ins Hier und Jetzt der Theater-Film-Erzählung. Der Kleinkrieg der Rettungsdienste mit seinen Nebenschauplätzen, Randspielern und zahllosen Schlenkern wurde klug auf Linie gestrichen, ohne den Charme des Überbordenden zu beschneiden.

Allein, der Wiener Schmäh, der geht einem zwischendurch ein wenig ab, denn Kessler spricht weitgehend ein mundgerechtes Hochdeutsch. Das tiefergelegte Tempo des Romans halten Gehre und Kessler aber bei: Mit entspannter Fabulierlust spielen sie den rabenschwarzen Krimi durch, der sich furchtlos durch niedere Territorien der Begierden und des Morbiden schlägt.

Komm süßer Tod
nach dem Roman von Wolf Haas
Regie, Bühne, Video: Klaus Gehre. Sound: Michael Lohmann.
Mit: Torben Kessler.

www.schauspielfrankfurt.de


Mehr von Klaus Gehre im nachtkritik-Archiv: Im April 2009 inszenierte er Fluch der Karibik (Ltd.) am Leipziger Lofft. Torben Kessler sahen wir auch in Robert Schusters Leipziger Inszenierung von Franz Grillparzers Trilogie Das Goldene Vließ und in Die Tochter der Luft, dem nach Calderón entstandenen Schauspiel von Hans Magnus Enzensberger, das Konstanze Lauterbach im Februar 2008 inszenierte, ebenfalls am Schauspiel Leipzig.

 

Kritikenrundschau

So habe man den Brenner noch nicht zu sehen bekommen: "als lässig-verstrubbelten Spieler in einer Puppenstubenwelt". Für Sylvia Staude von der Frankfurter Rundschau (27.11.2009) ist Torben Kessler dabei geradezu der "Ideal-Brenner". In der "vertrackten Inszenierung" von Klaus Gehre in der Box des Frankfurter Schauspiels könne man immer alles doppelt sehen, die Live-Aktion und das Abgefilmte. "Kessler setzt nur eine Brille auf und ist Hansi Munz, der nicht helle ist, aber zuletzt ein Held. Kessler zieht nur einen Damenhandschuh an und ist die alte Rupprechterin. Kessler setzt sich nur in einen Rollstuhl und ist Lungauer, das erste Opfer der Rettungsdienste." Das Ganze "funktioniert wunderbar", auch weil Haas' Sprache "einerseits umgangssprachliche Rasanz hat, andererseits aber eben doch erheblich geformt ist. Jeder Satz eine Pointe: Das bietet sich an für einen quasi Alleinunterhalterabend".


Wolf Haas' "vergnüglichste Krimikost mit einem Erzähler, der sich mit Wiener Schmäh und Schweinigeleien durch unnötige Feinheiten hackt", werde von Gehre "in einer echten Theater-Nussschale" inszeniert, "oder im Klartext für Modelleisenbahner: im H0-Format", klärt Markus Hladek in der Frankfurter Neuen Presse (26.11.2009) auf. Darin "Szenerien en miniature: Häuserzeilen, ein Himmel, Endlos-Bildwalze für Fahrszenen, Ziegelfassade mit Grünzeug als 'Kellerstübel', Bierflaschen, Schnapsgläser". Und indem Gehre der rasanten Handlung mit der Kamera "nachspringt wie ein theatergeiler Sandfloh, während Torben Kessler die Figuren mal als Püppchen, mal in Großaufnahme zum Leben erweckt, erzeugt er einen ständig amüsierten Aha-Effekt".

 

 

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